Es ist leider eine traurige Gewissheit, dass der Mensch mit zunehmendem Alter liebe Freunde, Weggefährten und Zeitgenossen verliert. Das führt allerdings keineswegs dazu, dass man sich daran gewöhnt – ganz im Gegenteil. Die Gänge in Krankenhäuser oder auf Friedhöfe nehmen zu und die Nachdenklichkeit bei der Auseinandersetzung mit den Schattenseiten des menschlichen Lebens leider auch. Mancher liebe Mitstreiter, mit dem man viel Zeit verbrachte, zusammenarbeitete oder ein Gemeinschaftsprojekt schaffen konnte, ist nicht mehr da. Man kann ihn oder sie nicht mehr anrufen, die Stimme, der Ratschlag oder nur der Austausch über das wechselseitige Befinden fehlen. In diesen Tagen musste ich einen solchen Schicksalsschlag wieder über mich ergehen lassen. Eberhard Czichon, Historiker und Publizist, starb einen Monat nach seinem 90. Geburtstag. Eben noch hatte ich ihm aus diesem Anlass meine Verbundenheit versichert und ihm gute Gesundheit gewünscht.
Ich lernte ihn erst spät, etwa um die Jahre 2007/08 persönlich kennen. Da war mir sein Name schon lange ein Begriff, und ich kannte jene Entwicklung, die mit dem Erscheinen seines Buches »Der Bankier und die Macht« 1970 in der Bundesrepublik verbunden war. Er kritisierte in dem Band Hermann Josef Abs‘ Rolle als einflussreicher Chef der Deutschen Bank während der Zeit des Faschismus und dessen ungehinderten Aufstieg nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs. Abs fühlte sich angegriffen und in Teilen des Buches verunglimpft, verklagte Czichon und den westdeutschen Pahl-Rugenstein Verlag vor dem Landgericht Stuttgart. Die Sache endete mit einem Vergleich, weil die Westabteilung des ZK der SED dies so wollte und Czichons Anwalt Friedrich Karl Kaul gebremst wurde. Mit dieser Lösung haderte Czichon Zeit seines Lebens, zumal er am Ende des Prozesses nicht mehr in den Gang der Ereignisse einbezogen wurde und so keinen Einfluss mehr nehmen konnte. Offensichtlich hat man ihm die Ärgernisse, die bei der Parteiführung durch den öffentlichkeitswirksamen Prozess entstanden waren, nie so ganz verziehen. Seine fortan kritische Haltung gegenüber der bornierten und mitunter herzlosen Vorgehensweise mancher Parteifunktionäre, auch im Zentralkomitee, ihm und anderen gegenüber führte dazu, dass man ihn 1981 wegen angeblicher »Unbotmäßigkei« – was immer das ist – aus der SED ausschloss. Eberhard Czichon hat seine politischen Überzeugungen vom Sozialismus trotzdem nie aufgegeben. 1999 brachte er zusammen mit Heinz Marohn ein ebenso wichtiges Buch mit dem Titel »Das Geschenk« heraus. Es ist eine kritische Auseinandersetzung mit der Rolle Gorbatschows und dem Untergang der DDR. Einige Zeit später begannen beide Autoren, an einem neuen Werk zu arbeiten. Ursprünglich sollte es eine Geschichte der KPD sein. Nachdem sich beide einen Überblick über die Fülle des Archivmaterials verschafft hatten, war klar, dass dies in überschaubarer Zeit nicht zu leisten ist. So beschränkten sie sich auf den Lebensweg und das politische Wirken des KPD-Vorsitzenden Ernst Thälmann. Während der Erschließung der Dokumente zeigte sich, dass es einerseits für die Historiker der Mithilfe eines Juristen bedarf, um vor allem den von den Nazis geplanten Prozess gegen Thälmann, die vorliegende Anklageschrift und andere Unterlagen richtig zu interpretieren, und andererseits die Verfolgung der Mörder Ernst Thälmanns und die damit im Zusammenhang stehenden Ereignisse auch dazugehören. Auf einen Hinweis von Ossietzky-Autor Heinrich Hannover wandten sich Eberhard Czichon und Heinz Marohn an mich, da ich zu der Thematik bereits publiziert hatte und auch aufgrund meiner Verbundenheit zu Friedrich Karl Kaul mit den Vorgängen gut vertraut war. Wir verstanden uns auf Anhieb, trafen uns im Bundesarchiv in Lichterfelde, aber auch öfter in Eberhard Czichons Wohnung in Treptow. Bald wurden wir Freunde. Ich konnte das Kapitel zur Verschleppung der Strafverfolgung im Falle der Thälmann-Mörder zu dem Buch beisteuern, das 2010 unter dem Titel »Thälmann. Ein Report« erschien. Gemeinsam waren wir dann zu zahlreichen Lesungen in Ost- und Westdeutschland unterwegs. Vor wenigen Jahren begann Eberhard Czichon dann, seine Erinnerungen und Erlebnisse aufzuschreiben und schickte mir anfangs das eine oder andere Kapitel im Entwurf, auch um meine Meinung zu erfahren. Ich bestärkte ihn, sein Leben für die Nachwelt festzuhalten, auch in der Überzeugung, dass künftige Generationen mit einem anderen Blick auf die Schilderungen eines Zeitzeugen reagieren. Im Jahr 2017 starb Czichons Frau Ruth, dieses Ereignis traf ihn sehr. Er rief mich unmittelbar danach an, und seine Hilflosigkeit sprach Bände. In einem einstündigen Gespräch versuchte ich ihm Trost und Hoffnung zugleich zu vermitteln. Bereits wenige Wochen später zog er in ein Seniorenheim, wo ich ihn besuchte. Bis zum Schluss waren wir in guter Verbindung. Gern habe ich ihn über neue Erkenntnisse informiert, auch als ich vor zwei Jahren Zugang zum Historischen Archiv der Deutschen Bank in Frankfurt am Main erhielt.
Nicht nur mir wird er fehlen.