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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Auf Spurensuche: Eberhard Czichon

Es ist lei­der eine trau­ri­ge Gewiss­heit, dass der Mensch mit zuneh­men­dem Alter lie­be Freun­de, Weg­ge­fähr­ten und Zeit­ge­nos­sen ver­liert. Das führt aller­dings kei­nes­wegs dazu, dass man sich dar­an gewöhnt – ganz im Gegen­teil. Die Gän­ge in Kran­ken­häu­ser oder auf Fried­hö­fe neh­men zu und die Nach­denk­lich­keit bei der Aus­ein­an­der­set­zung mit den Schat­ten­sei­ten des mensch­li­chen Lebens lei­der auch. Man­cher lie­be Mit­strei­ter, mit dem man viel Zeit ver­brach­te, zusam­men­ar­bei­te­te oder ein Gemein­schafts­pro­jekt schaf­fen konn­te, ist nicht mehr da. Man kann ihn oder sie nicht mehr anru­fen, die Stim­me, der Rat­schlag oder nur der Aus­tausch über das wech­sel­sei­ti­ge Befin­den feh­len. In die­sen Tagen muss­te ich einen sol­chen Schick­sals­schlag wie­der über mich erge­hen las­sen. Eber­hard Czi­chon, Histo­ri­ker und Publi­zist, starb einen Monat nach sei­nem 90. Geburts­tag. Eben noch hat­te ich ihm aus die­sem Anlass mei­ne Ver­bun­den­heit ver­si­chert und ihm gute Gesund­heit gewünscht.

Ich lern­te ihn erst spät, etwa um die Jah­re 2007/​08 per­sön­lich ken­nen. Da war mir sein Name schon lan­ge ein Begriff, und ich kann­te jene Ent­wick­lung, die mit dem Erschei­nen sei­nes Buches »Der Ban­kier und die Macht« 1970 in der Bun­des­re­pu­blik ver­bun­den war. Er kri­ti­sier­te in dem Band Her­mann Josef Abs‘ Rol­le als ein­fluss­rei­cher Chef der Deut­schen Bank wäh­rend der Zeit des Faschis­mus und des­sen unge­hin­der­ten Auf­stieg nach dem Ende des Zwei­ten Welt­kriegs. Abs fühl­te sich ange­grif­fen und in Tei­len des Buches ver­un­glimpft, ver­klag­te Czi­chon und den west­deut­schen Pahl-Rugen­stein Ver­lag vor dem Land­ge­richt Stutt­gart. Die Sache ende­te mit einem Ver­gleich, weil die West­ab­tei­lung des ZK der SED dies so woll­te und Czi­chons Anwalt Fried­rich Karl Kaul gebremst wur­de. Mit die­ser Lösung hader­te Czi­chon Zeit sei­nes Lebens, zumal er am Ende des Pro­zes­ses nicht mehr in den Gang der Ereig­nis­se ein­be­zo­gen wur­de und so kei­nen Ein­fluss mehr neh­men konn­te. Offen­sicht­lich hat man ihm die Ärger­nis­se, die bei der Par­tei­füh­rung durch den öffent­lich­keits­wirk­sa­men Pro­zess ent­stan­den waren, nie so ganz ver­zie­hen. Sei­ne fort­an kri­ti­sche Hal­tung gegen­über der bor­nier­ten und mit­un­ter herz­lo­sen Vor­ge­hens­wei­se man­cher Par­tei­funk­tio­nä­re, auch im Zen­tral­ko­mi­tee, ihm und ande­ren gegen­über führ­te dazu, dass man ihn 1981 wegen angeb­li­cher »Unbot­mä­ßig­kei« – was immer das ist – aus der SED aus­schloss. Eber­hard Czi­chon hat sei­ne poli­ti­schen Über­zeu­gun­gen vom Sozia­lis­mus trotz­dem nie auf­ge­ge­ben. 1999 brach­te er zusam­men mit Heinz Marohn ein eben­so wich­ti­ges Buch mit dem Titel »Das Geschenk« her­aus. Es ist eine kri­ti­sche Aus­ein­an­der­set­zung mit der Rol­le Gor­bat­schows und dem Unter­gang der DDR. Eini­ge Zeit spä­ter began­nen bei­de Autoren, an einem neu­en Werk zu arbei­ten. Ursprüng­lich soll­te es eine Geschich­te der KPD sein. Nach­dem sich bei­de einen Über­blick über die Fül­le des Archiv­ma­te­ri­als ver­schafft hat­ten, war klar, dass dies in über­schau­ba­rer Zeit nicht zu lei­sten ist. So beschränk­ten sie sich auf den Lebens­weg und das poli­ti­sche Wir­ken des KPD-Vor­sit­zen­den Ernst Thäl­mann. Wäh­rend der Erschlie­ßung der Doku­men­te zeig­te sich, dass es einer­seits für die Histo­ri­ker der Mit­hil­fe eines Juri­sten bedarf, um vor allem den von den Nazis geplan­ten Pro­zess gegen Thäl­mann, die vor­lie­gen­de Ankla­ge­schrift und ande­re Unter­la­gen rich­tig zu inter­pre­tie­ren, und ande­rer­seits die Ver­fol­gung der Mör­der Ernst Thäl­manns und die damit im Zusam­men­hang ste­hen­den Ereig­nis­se auch dazu­ge­hö­ren. Auf einen Hin­weis von Ossietzky-Autor Hein­rich Han­no­ver wand­ten sich Eber­hard Czi­chon und Heinz Marohn an mich, da ich zu der The­ma­tik bereits publi­ziert hat­te und auch auf­grund mei­ner Ver­bun­den­heit zu Fried­rich Karl Kaul mit den Vor­gän­gen gut ver­traut war. Wir ver­stan­den uns auf Anhieb, tra­fen uns im Bun­des­ar­chiv in Lich­ter­fel­de, aber auch öfter in Eber­hard Czi­chons Woh­nung in Trep­tow. Bald wur­den wir Freun­de. Ich konn­te das Kapi­tel zur Ver­schlep­pung der Straf­ver­fol­gung im Fal­le der Thäl­mann-Mör­der zu dem Buch bei­steu­ern, das 2010 unter dem Titel »Thäl­mann. Ein Report« erschien. Gemein­sam waren wir dann zu zahl­rei­chen Lesun­gen in Ost- und West­deutsch­land unter­wegs. Vor weni­gen Jah­ren begann Eber­hard Czi­chon dann, sei­ne Erin­ne­run­gen und Erleb­nis­se auf­zu­schrei­ben und schick­te mir anfangs das eine oder ande­re Kapi­tel im Ent­wurf, auch um mei­ne Mei­nung zu erfah­ren. Ich bestärk­te ihn, sein Leben für die Nach­welt fest­zu­hal­ten, auch in der Über­zeu­gung, dass künf­ti­ge Gene­ra­tio­nen mit einem ande­ren Blick auf die Schil­de­run­gen eines Zeit­zeu­gen reagie­ren. Im Jahr 2017 starb Czi­chons Frau Ruth, die­ses Ereig­nis traf ihn sehr. Er rief mich unmit­tel­bar danach an, und sei­ne Hilf­lo­sig­keit sprach Bän­de. In einem ein­stün­di­gen Gespräch ver­such­te ich ihm Trost und Hoff­nung zugleich zu ver­mit­teln. Bereits weni­ge Wochen spä­ter zog er in ein Senio­ren­heim, wo ich ihn besuch­te. Bis zum Schluss waren wir in guter Ver­bin­dung. Gern habe ich ihn über neue Erkennt­nis­se infor­miert, auch als ich vor zwei Jah­ren Zugang zum Histo­ri­schen Archiv der Deut­schen Bank in Frank­furt am Main erhielt.

Nicht nur mir wird er fehlen.