Skip to content

Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

Menu
Menu

Auf nach Görbersdorf!

Gör­bers­dorf in Nie­der­schle­si­en heißt heu­te Sokołow­s­ko, der Orts­na­me erin­nert an einen Pul­mo­lo­gen. Denn Gör­bers­dorf war einst Stand­ort eines berühm­ten Sana­to­ri­ums für Lun­gen­kran­ke, das mil­de Kli­ma und auf Tuber­ku­lo­se spe­zia­li­sier­te Medi­zi­ner zogen ein Pati­en­ten­pu­bli­kum aus vie­len Län­dern an. Die­ser Ruhm ist heu­te fast ver­ges­sen, das Sana­to­ri­um ver­fal­len. Dafür nimmt der lite­ra­ri­sche Strah­len­glanz zu: Olga Tok­ar­c­zuk ver­leiht dem Ort im Roman »Empu­si­on« eine Tho­mas Mann-Zau­ber­berg-Anmu­tung und ent­fes­selt einen Empusen-Spuk (sie­he Ossietzky 10/​2024).

Die Schrift­stel­le­rin Joan­na Bator lässt eine Art Fami­li­en­for­sche­rin dort ein Haus kau­fen, das eben­so düster ist wie die auf­zu­drö­seln­de Histo­rie. Auch der Ort scheint nicht all­zu freund­lich zu sein: »Orte wie Sokołow­s­ko sind gna­den­los und unbe­re­chen­bar – von einer uner­gründ­li­chen Logik gelei­tet, neh­men sie Neu­an­kömm­lin­ge ent­we­der könig­lich auf oder spucken sie aus wie Obst­ker­ne.« Sol­che resü­mie­ren­den, Urtei­le fäl­len­den Sät­ze fin­det man vie­le im Roman, sie erzeu­gen mit­un­ter einen etwas straf­ge­richt­li­chen Ton, auch wenn die­ser schein­bar locker-leicht daherkommt.

Aber wie anders soll man eine sol­che Geschich­te erzäh­len: die Lebens­ge­schicke von vier Frau­en vor dem Hin­ter­grund der pol­nisch-deut­schen Geschich­te. Die »Bit­ter­nis« des Titels ist prä­gend für die Urgroß­mutter Ber­ta und Groß­mutter Bar­ba­ra, für Mut­ter Vio­let­ta und Toch­ter Kali­na, für ihre Leben. Das »Ich«, Kali­na also, am Anfang Haus­käu­fe­rin, kommt am Ende des opu­len­ten, erzäh­le­risch durch­aus aus­ufern­den Romans zu dem Schluss: »Das Leben geht immer wei­ter, wel­che Erwar­tun­gen und For­de­run­gen wir auch haben mögen – das habe ich bereits gelernt: Es tut nie etwas anders als weiterzugehen.«

Das klingt fast banal und pau­schal ange­sichts der Bio­gra­fien, die dem Leser dar­ge­bo­ten wer­den, die inten­si­ve Blicke in Frau­en­schick­sa­le ermög­li­chen, die in Wel­ten leben, die eben oft doch von (nicht immer ange­neh­men) Män­nern bestimmt wer­den. Es sind daher Geschich­ten vom Durch­kom­men, vom Zurecht­kom­men in oft grim­mi­gen Zei­ten und in wenig guten hun­dert Jahren.

Der Wert und die Über­zeu­gungs­kraft des Romans lie­gen dar­in, dass er nicht bit­ter macht, obwohl er Bit­ter­nis­se erzählt. Er ver­schweigt nichts und kann damit zei­gen, dass ein Behar­ren auf Glück mög­lich ist, weil mit den vier Frau­en eben auch vier Gene­ra­tio­nen im Licht der lite­ra­ri­schen Betrach­tung ste­hen. Denn ein, nicht das Glück suchen alle vier, und sie wer­den kaum ein­mal fün­dig in einer von gro­ßen und klei­nen Grau­sam­kei­ten gepräg­ten Welt.

Die Lebens­ge­schich­ten wer­den dem Leser als Puz­zles der Bio­gra­fien vor­ge­legt, und es fällt bei den vie­len auf­tre­ten­den Figu­ren nicht immer leicht, die Zusam­men­hän­ge her­zu­stel­len. Man könn­te, wie­wohl es unge­wöhn­lich wäre, alle Ber­ta-Tex­te lesen, dann alle Bar­ba­ra-Tex­te und so fort. Dann ent­stün­den unge­mein pla­sti­sche Lebens­be­schrei­bun­gen. Aber natür­lich lässt sich das Werk auch auf »kon­ven­tio­nel­le« Art lesen – und es reißt einen eben­so in den Stru­del der Zeit­läuf­te und Ereig­nis­se. Frei­lich macht die­se Fül­le auch ein Pro­blem deut­lich: Es wer­den man­che Details zu sehr auf­ge­bläht oder wie­der­holt. Wenn zum Bei­spiel wie­der und wie­der der »Wan­der­bul­ga­re Krum, auch Wan­der­tür­ke Nas­ral­lah genannt« mit sei­nem Epi­the­ton auf­taucht, manch­mal auch zwei­mal auf einer Sei­te, dann fängt man an, dar­über hinwegzulesen.

Unbe­dingt zu loben ist, dass Joan­na Bators Roman eine weib­li­che Geschich­te ist, die­se Per­spek­ti­ve ermög­licht es, fast 100 Jah­re Histo­rie, die man aus ande­ren Roma­nen genug­sam zu ken­nen meint, ganz neu wahr­zu­neh­men. Denn die Gegend um das nie­der­schle­si­sche Wał­brzych (einst Wal­den­burg) ist lite­ra­risch und geschicht­lich wich­tig, weil sie eben ein Spie­gel der kom­pli­zier­ten pol­nisch-deut­schen Geschich­te ist. Und des­we­gen sind die­se dem Leben abge­lausch­ten Lebens­läu­fe aus­sa­ge­kräf­ti­ger und im besten Sin­ne auf­klä­ren­der, als wenn in Gör­bers­dorf die Empusen gespenstern.

Mir scheint Joan­na Bator da wei­ter­zu­ar­bei­ten, wo einst Johan­nes Bobrow­ski mit »Levins Müh­le« begann. Die­se Tra­di­ti­ons­li­nie ist viel­leicht ergie­bi­ger als die Elo­gen­ru­fe eini­ger Kri­ti­ker, die Gar­cia Màr­quez oder Isa­bel Allen­de zum Ver­gleich prä­sen­tie­ren. Bobrow­ski hob einst an mit: »Es ist viel­leicht falsch, wenn ich jetzt erzäh­le …« Nun, er wuss­te, dass es genau der rich­ti­ge Zeit­punkt war, das The­ma anzu­schla­gen. Wie es jetzt der rich­ti­ge Zeit­punkt ist, die weib­li­che Sei­te der pol­nisch-deut­schen Geschich­te zu erzäh­len. Schein­bar leicht, nicht so gewich­tig wie Bobrow­ski, aber den­noch nachdrücklich.

Joan­na Bator: Bit­ter­nis. Roman. Aus dem Pol­ni­schen von Lisa Pal­mes. Suhr­kamp Ver­lag 2023, 829 S., 34 €.