Görbersdorf in Niederschlesien heißt heute Sokołowsko, der Ortsname erinnert an einen Pulmologen. Denn Görbersdorf war einst Standort eines berühmten Sanatoriums für Lungenkranke, das milde Klima und auf Tuberkulose spezialisierte Mediziner zogen ein Patientenpublikum aus vielen Ländern an. Dieser Ruhm ist heute fast vergessen, das Sanatorium verfallen. Dafür nimmt der literarische Strahlenglanz zu: Olga Tokarczuk verleiht dem Ort im Roman »Empusion« eine Thomas Mann-Zauberberg-Anmutung und entfesselt einen Empusen-Spuk (siehe Ossietzky 10/2024).
Die Schriftstellerin Joanna Bator lässt eine Art Familienforscherin dort ein Haus kaufen, das ebenso düster ist wie die aufzudröselnde Historie. Auch der Ort scheint nicht allzu freundlich zu sein: »Orte wie Sokołowsko sind gnadenlos und unberechenbar – von einer unergründlichen Logik geleitet, nehmen sie Neuankömmlinge entweder königlich auf oder spucken sie aus wie Obstkerne.« Solche resümierenden, Urteile fällenden Sätze findet man viele im Roman, sie erzeugen mitunter einen etwas strafgerichtlichen Ton, auch wenn dieser scheinbar locker-leicht daherkommt.
Aber wie anders soll man eine solche Geschichte erzählen: die Lebensgeschicke von vier Frauen vor dem Hintergrund der polnisch-deutschen Geschichte. Die »Bitternis« des Titels ist prägend für die Urgroßmutter Berta und Großmutter Barbara, für Mutter Violetta und Tochter Kalina, für ihre Leben. Das »Ich«, Kalina also, am Anfang Hauskäuferin, kommt am Ende des opulenten, erzählerisch durchaus ausufernden Romans zu dem Schluss: »Das Leben geht immer weiter, welche Erwartungen und Forderungen wir auch haben mögen – das habe ich bereits gelernt: Es tut nie etwas anders als weiterzugehen.«
Das klingt fast banal und pauschal angesichts der Biografien, die dem Leser dargeboten werden, die intensive Blicke in Frauenschicksale ermöglichen, die in Welten leben, die eben oft doch von (nicht immer angenehmen) Männern bestimmt werden. Es sind daher Geschichten vom Durchkommen, vom Zurechtkommen in oft grimmigen Zeiten und in wenig guten hundert Jahren.
Der Wert und die Überzeugungskraft des Romans liegen darin, dass er nicht bitter macht, obwohl er Bitternisse erzählt. Er verschweigt nichts und kann damit zeigen, dass ein Beharren auf Glück möglich ist, weil mit den vier Frauen eben auch vier Generationen im Licht der literarischen Betrachtung stehen. Denn ein, nicht das Glück suchen alle vier, und sie werden kaum einmal fündig in einer von großen und kleinen Grausamkeiten geprägten Welt.
Die Lebensgeschichten werden dem Leser als Puzzles der Biografien vorgelegt, und es fällt bei den vielen auftretenden Figuren nicht immer leicht, die Zusammenhänge herzustellen. Man könnte, wiewohl es ungewöhnlich wäre, alle Berta-Texte lesen, dann alle Barbara-Texte und so fort. Dann entstünden ungemein plastische Lebensbeschreibungen. Aber natürlich lässt sich das Werk auch auf »konventionelle« Art lesen – und es reißt einen ebenso in den Strudel der Zeitläufte und Ereignisse. Freilich macht diese Fülle auch ein Problem deutlich: Es werden manche Details zu sehr aufgebläht oder wiederholt. Wenn zum Beispiel wieder und wieder der »Wanderbulgare Krum, auch Wandertürke Nasrallah genannt« mit seinem Epitheton auftaucht, manchmal auch zweimal auf einer Seite, dann fängt man an, darüber hinwegzulesen.
Unbedingt zu loben ist, dass Joanna Bators Roman eine weibliche Geschichte ist, diese Perspektive ermöglicht es, fast 100 Jahre Historie, die man aus anderen Romanen genugsam zu kennen meint, ganz neu wahrzunehmen. Denn die Gegend um das niederschlesische Wałbrzych (einst Waldenburg) ist literarisch und geschichtlich wichtig, weil sie eben ein Spiegel der komplizierten polnisch-deutschen Geschichte ist. Und deswegen sind diese dem Leben abgelauschten Lebensläufe aussagekräftiger und im besten Sinne aufklärender, als wenn in Görbersdorf die Empusen gespenstern.
Mir scheint Joanna Bator da weiterzuarbeiten, wo einst Johannes Bobrowski mit »Levins Mühle« begann. Diese Traditionslinie ist vielleicht ergiebiger als die Elogenrufe einiger Kritiker, die Garcia Màrquez oder Isabel Allende zum Vergleich präsentieren. Bobrowski hob einst an mit: »Es ist vielleicht falsch, wenn ich jetzt erzähle …« Nun, er wusste, dass es genau der richtige Zeitpunkt war, das Thema anzuschlagen. Wie es jetzt der richtige Zeitpunkt ist, die weibliche Seite der polnisch-deutschen Geschichte zu erzählen. Scheinbar leicht, nicht so gewichtig wie Bobrowski, aber dennoch nachdrücklich.
Joanna Bator: Bitternis. Roman. Aus dem Polnischen von Lisa Palmes. Suhrkamp Verlag 2023, 829 S., 34 €.