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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Auf hohem Niveau gefabelt

Lieb­ha­ber durch­gän­gig gestal­te­ter, mit erzäh­le­ri­scher Logik Fak­ten und Umstän­de genau aus­lo­ten­der Roma­ne wer­den mit die­sem Buch nicht auf ihre Kosten kom­men, wer »Hand­fe­stes« liebt, auf jeden Fall. Denn weder Ver­bre­chen, Mord und Tot­schlag, Atten­tat, Rock­mu­sik und Sex feh­len in die­sem merk­wür­di­gen Buch.

Es ist Juri Andrucho­wytschs Roman »Radio Nacht« gewiss auch Unter­hal­tungs­ro­man, aber eben auch viel mehr. Die Haupt­fi­gur heißt Josip Rot­sky, er ist allei­ni­ger Mode­ra­tor des Pro­gramms der Sta­ti­on »Radio Nacht«, die irgend­wo im Nir­gend­wo sen­det. Das Durch­schim­mern der Namen Leo Trotz­ki, Joseph Brod­s­ky und Joseph Roth wird dem Leser die Melan­ge-Figur Rot­sky mög­li­cher­wei­se ver­ständ­li­cher machen und ihm signa­li­sie­ren: Wer aus so pro­ble­ma­ti­schen Grund­stof­fen »besteht«, hat natür­lich aller­lei zu bie­ten. Rot­sky ist Pia­nist (Key­boar­der), Befür­wor­ter und Akteur der Revo­lu­ti­on in sei­ner Hei­mat, Emi­grant, Atten­tä­ter, Salon­mu­si­ker, Ver­wal­ter eines dubio­sen Mil­li­ar­den­schat­zes und all­zeit poten­ter Lieb­ha­ber. Juri Andrucho­wytsch haut auch in die­ser Hin­sicht auf die Pau­ke, und man staunt dar­über, was für eine Sicht­wei­se auf Frau­en in unse­rer mit­un­ter emp­find­li­chen Zeit hier offen­bar wird. Oder dämp­fen erhal­te­ne Prei­se, Aus­zeich­nun­gen und der Anti-Puti­nis­mus even­tu­el­le Protestrufe?

Der Klap­pen­text stellt die Fra­ge, ob man es mit einer fik­ti­ven Bio­gra­fie, einem Künst­ler- oder Lie­bes­ro­man, einem Thril­ler oder gar mit einem ukrai­ni­schen Faust zu tun habe. Mir scheint die­sem Buch »fik­ti­ve Bio­gra­fie« am ange­mes­sen­sten zu sein. Und zwar, weil es ein­drück­lich zeigt, wie ein schrei­ben­der Mann von sei­nen Ein­fäl­len, Träu­men und Alb­träu­men, der drücken­den Geschich­te und Gegen­wart sei­nes Lan­des, sei­nen Spra­chen und nicht zuletzt sei­nen Lek­tü­ren förm­lich über­rannt wer­den kann, sodass er sich nur zu hel­fen weiß, indem er solch ein Buch schreibt.

Ein Bän­di­gungs­ver­such, ein Fabeln auf hohem Niveau. Gefa­belt wird in des Wor­tes bester Bedeu­tung. Denn es las­sen eini­ge »Grö­ßen« grü­ßen: Poe zum Bei­spiel, Robert Wal­ser genießt ganz offen­bar des Autors Sym­pa­thie, auch Goe­the. Zwar machen ein »Epi­log auf dem Thea­ter« und ein nach­drück­lich par­fü­mier­ter Gast Rot­skys namens »Meph« (der natür­lich ver­si­chert, nicht das Gering­ste mit Mephi­sto­phe­les zu tun zu haben) noch kei­nen Faust, aber Andrucho­wytsch scheint weder Fau­sti­sches noch Mephi­sto­phe­li­sches fremd zu sein, wie auch sein Buch »Lieb­lin­ge der Justiz« zeig­te. Und Gewalt­tä­ti­ges schon gar nicht.

Wenn auch Rot­sky ver­si­chert, er habe die Spra­che sei­nes Lan­des fast ver­lernt, so ist Ukrai­ni­sches doch das, wor­um es geht. Die Geschich­te und Gegen­wart, die Tra­gik sei­nes Lan­des sind all­ge­gen­wär­tig, und das nicht etwa im Stil des Kla­ge­lie­des. Nein, inmit­ten der Furcht­bar­kei­ten taucht oft so etwas wie jun­gen­haf­ter Über­mut auf, was dem aus­ufern­den Text sehr gut bekommt. So liest man über poli­ti­sche Vor­gän­ge und Macht­wech­sel, »um schließ­lich einen der vie­len unehe­li­chen Söh­ne des ver­bli­che­nen Dik­ta­tors zu sei­nem Nach­fol­ger zu ernen­nen, den sie zuvor fast gewalt­sam aus sei­ner auf­stre­ben­den Kar­rie­re als TV-Come­di­an geris­sen und gewalt­sam in den Ses­sel des Staats­chefs ver­pflanzt hatten«.

Der Roman bie­tet, bei all sei­nen Abschwei­fun­gen, Über­trei­bun­gen, Grau­sam­kei­ten und »Ergüs­sen«, eine sehr über­zeu­gend gehand­hab­te Klam­mer der Hand­lung. Das ist »Radio Nacht«, ein Pro­gramm von acht Stun­den, mode­riert von Josip Rot­sky. Er legt Musik auf, die man lesend hören kann: Ein QR-Code im Buch führt den Leser zu You­Tube – und wer den Roman liest, der soll­te das unbe­dingt tun: Es ist wun­der­ba­re Musik zu erle­ben. Etwa von David Bowie, Tom Waits, Pro­col Harum oder den Rol­ling Stones.

Es ist Musik, die zu der Zeit­span­ne zwi­schen null und acht Uhr passt. Sie ist sel­ten laut, nicht so »tages­fröh­lich« wie sich Radio heut­zu­ta­ge meist prä­sen­tiert, son­dern etwas ele­gisch, dabei von gro­ßer inne­rer Stär­ke, ja, kräf­ti­gend. Sie und die Wor­te des Buches, die von Sabi­ne Stöhr in ein treff­li­ches Deutsch gebracht wur­den, machen, wie Goe­thes Faust auch, die Grö­ße des Men­schen und die Ver­wick­lung in sei­ne »Erd­haf­tig­keit« sicht­bar. Denn Rot­sky, auch wenn er Plat­ten auf­legt, statt selbst zu spie­len, weil ihm in der Haft die Fin­ger gebro­chen wur­den, ist kein Ehren­mann. Aber einer der beun­ru­hi­gen­den Sät­ze des Buches lau­tet eben, dass zu Tode gefürch­tet auch gestor­ben sei. Inso­fern wird die Ver­ab­schie­dung des Mode­ra­tors »Das war Josip Rot­sky« nur bis zum näch­sten Pro­gramm von »Radio Nacht« gel­ten, denn wie jeder Schelm der Welt­li­te­ra­tur bleibt auch er Sie­ger über jeden, der ihm nach dem Leben trachtet.

Juri Andrucho­wytsch: Radio Nacht. Roman. Aus dem Ukrai­ni­schen von Sabi­ne Stöhr. Suhr­kamp Ver­lag 2022, 472 S., 26 €.