Liebhaber durchgängig gestalteter, mit erzählerischer Logik Fakten und Umstände genau auslotender Romane werden mit diesem Buch nicht auf ihre Kosten kommen, wer »Handfestes« liebt, auf jeden Fall. Denn weder Verbrechen, Mord und Totschlag, Attentat, Rockmusik und Sex fehlen in diesem merkwürdigen Buch.
Es ist Juri Andruchowytschs Roman »Radio Nacht« gewiss auch Unterhaltungsroman, aber eben auch viel mehr. Die Hauptfigur heißt Josip Rotsky, er ist alleiniger Moderator des Programms der Station »Radio Nacht«, die irgendwo im Nirgendwo sendet. Das Durchschimmern der Namen Leo Trotzki, Joseph Brodsky und Joseph Roth wird dem Leser die Melange-Figur Rotsky möglicherweise verständlicher machen und ihm signalisieren: Wer aus so problematischen Grundstoffen »besteht«, hat natürlich allerlei zu bieten. Rotsky ist Pianist (Keyboarder), Befürworter und Akteur der Revolution in seiner Heimat, Emigrant, Attentäter, Salonmusiker, Verwalter eines dubiosen Milliardenschatzes und allzeit potenter Liebhaber. Juri Andruchowytsch haut auch in dieser Hinsicht auf die Pauke, und man staunt darüber, was für eine Sichtweise auf Frauen in unserer mitunter empfindlichen Zeit hier offenbar wird. Oder dämpfen erhaltene Preise, Auszeichnungen und der Anti-Putinismus eventuelle Protestrufe?
Der Klappentext stellt die Frage, ob man es mit einer fiktiven Biografie, einem Künstler- oder Liebesroman, einem Thriller oder gar mit einem ukrainischen Faust zu tun habe. Mir scheint diesem Buch »fiktive Biografie« am angemessensten zu sein. Und zwar, weil es eindrücklich zeigt, wie ein schreibender Mann von seinen Einfällen, Träumen und Albträumen, der drückenden Geschichte und Gegenwart seines Landes, seinen Sprachen und nicht zuletzt seinen Lektüren förmlich überrannt werden kann, sodass er sich nur zu helfen weiß, indem er solch ein Buch schreibt.
Ein Bändigungsversuch, ein Fabeln auf hohem Niveau. Gefabelt wird in des Wortes bester Bedeutung. Denn es lassen einige »Größen« grüßen: Poe zum Beispiel, Robert Walser genießt ganz offenbar des Autors Sympathie, auch Goethe. Zwar machen ein »Epilog auf dem Theater« und ein nachdrücklich parfümierter Gast Rotskys namens »Meph« (der natürlich versichert, nicht das Geringste mit Mephistopheles zu tun zu haben) noch keinen Faust, aber Andruchowytsch scheint weder Faustisches noch Mephistophelisches fremd zu sein, wie auch sein Buch »Lieblinge der Justiz« zeigte. Und Gewalttätiges schon gar nicht.
Wenn auch Rotsky versichert, er habe die Sprache seines Landes fast verlernt, so ist Ukrainisches doch das, worum es geht. Die Geschichte und Gegenwart, die Tragik seines Landes sind allgegenwärtig, und das nicht etwa im Stil des Klageliedes. Nein, inmitten der Furchtbarkeiten taucht oft so etwas wie jungenhafter Übermut auf, was dem ausufernden Text sehr gut bekommt. So liest man über politische Vorgänge und Machtwechsel, »um schließlich einen der vielen unehelichen Söhne des verblichenen Diktators zu seinem Nachfolger zu ernennen, den sie zuvor fast gewaltsam aus seiner aufstrebenden Karriere als TV-Comedian gerissen und gewaltsam in den Sessel des Staatschefs verpflanzt hatten«.
Der Roman bietet, bei all seinen Abschweifungen, Übertreibungen, Grausamkeiten und »Ergüssen«, eine sehr überzeugend gehandhabte Klammer der Handlung. Das ist »Radio Nacht«, ein Programm von acht Stunden, moderiert von Josip Rotsky. Er legt Musik auf, die man lesend hören kann: Ein QR-Code im Buch führt den Leser zu YouTube – und wer den Roman liest, der sollte das unbedingt tun: Es ist wunderbare Musik zu erleben. Etwa von David Bowie, Tom Waits, Procol Harum oder den Rolling Stones.
Es ist Musik, die zu der Zeitspanne zwischen null und acht Uhr passt. Sie ist selten laut, nicht so »tagesfröhlich« wie sich Radio heutzutage meist präsentiert, sondern etwas elegisch, dabei von großer innerer Stärke, ja, kräftigend. Sie und die Worte des Buches, die von Sabine Stöhr in ein treffliches Deutsch gebracht wurden, machen, wie Goethes Faust auch, die Größe des Menschen und die Verwicklung in seine »Erdhaftigkeit« sichtbar. Denn Rotsky, auch wenn er Platten auflegt, statt selbst zu spielen, weil ihm in der Haft die Finger gebrochen wurden, ist kein Ehrenmann. Aber einer der beunruhigenden Sätze des Buches lautet eben, dass zu Tode gefürchtet auch gestorben sei. Insofern wird die Verabschiedung des Moderators »Das war Josip Rotsky« nur bis zum nächsten Programm von »Radio Nacht« gelten, denn wie jeder Schelm der Weltliteratur bleibt auch er Sieger über jeden, der ihm nach dem Leben trachtet.
Juri Andruchowytsch: Radio Nacht. Roman. Aus dem Ukrainischen von Sabine Stöhr. Suhrkamp Verlag 2022, 472 S., 26 €.