Skip to content

Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

Menu
Menu

Auf der Kippe

Mein Vater war Berg­mann. Eine Her­kunft, die auf dem Gym­na­si­um die ält­li­che Latein­leh­re­rin Frau Dr. Sound­so zu der dün­kel­haft-her­ab­las­sen­den Bemer­kung ver­lei­te­te, es sei schon erstaun­lich, wel­cher Art Kin­der es heut­zu­ta­ge erlaubt sei, die­se Spra­che zu erler­nen. Die Spra­che der Gebil­de­ten, der Stu­dier­ten, der Leu­te aus »bes­se­ren Kreisen«.

Manch­mal durf­te ich mei­nen Vater, der irgend­wann Mit­te der 1950er Jah­re zum Betriebs­rats­vor­sit­zen­den gewählt wor­den war, zur Gru­be beglei­ten, als Sozi­us auf sei­ner roten Tri­umph 125. Viel­leicht habe ich bei solch einer Gele­gen­heit von Berg­leu­ten jene Geschich­te gehört, die mir seit Kin­des­bei­nen im Gedächt­nis geblie­ben ist und die mir jetzt wie­der beim Lesen des poe­ti­schen Essays »Schwan­ken­de Kana­ri­en« der in Greifs­wald gebo­re­nen Schrift­stel­le­rin Judith Schal­an­sky in den Sinn kam.

Es ist eine Geschich­te von der gefähr­li­chen Arbeit unter Tage, wobei es nicht um man­gel­haf­tes Equip­ment in der Arbeits­welt und die dar­aus resul­tie­ren­den unfall­träch­ti­gen Gefah­ren geht, son­dern um eine ande­re, heim­tücki­sche Bedro­hung: um gif­ti­ge Gase wie das geruch­lo­se Koh­len­mon­oxid, das in den Stol­len unmerk­lich und schnell eine töd­li­che Kon­zen­tra­ti­on errei­chen kann.

Schon seit dem frü­hen 18. Jahr­hun­dert wur­den Kana­ri von den Schlep­pern, Hau­ern und ande­ren Gru­ben­ar­bei­tern nicht nur als mun­te­re gefie­der­te Sän­ger zu Hau­se gehal­ten, son­dern als tril­lern­de »Gefah­ren­mel­der« mit unter Tage genom­men. Hör­ten sie plötz­lich auf zu sin­gen, fie­len sie gar von der Stan­ge oder kipp­ten sie in ihren Käfi­gen um, was schon bei einer Kon­zen­tra­ti­on von 0,29 Pro­zent Koh­len­mon­oxid in der Atem­luft und einer Ein­at­mungs­zeit von 2,5 Minu­ten der Fall sein soll, war aller­höch­ste Gefahr im Ver­zu­ge. Es droh­ten »böse Wet­ter«. Es droh­te der Tod.

Judith Schal­an­sky ist neben ihrer eige­nen schrift­stel­le­ri­schen Tätig­keit – »Atlas der abge­le­ge­nen Inseln«, »Der Hals der Giraf­fe«, »Ver­zeich­nis eini­ger Ver­lu­ste« – seit zehn Jah­ren Her­aus­ge­be­rin der im Ver­lag Matthes & Seitz, Ber­lin, erschei­nen­den wun­der­schö­nen Buch­rei­he »NATURKUNDEN«. Inzwi­schen lie­gen 87 Bän­de vor. Sie erzäh­len von Tie­ren und Pflan­zen, von Pil­zen und Men­schen, von Land­schaf­ten, Stei­nen und Him­mels­kör­pern, von beleb­ter und unbe­leb­ter, frem­der und ver­trau­ter Natur. Füch­se, Käfer, Eidech­sen, Habich­te, Hir­sche, Flie­gen, Krö­ten, Nas­hör­ner, Scha­fe, Wöl­fe, Schmet­ter­lin­ge, Schnecken, Schwei­ne, Eulen, Herin­ge, Krä­hen haben in der Buch­rei­he ihren Soloauftritt.

Irgend­wann stieß die Schrift­stel­le­rin bei ihren Recher­chen im Tier­reich wohl auf die Kana­ri­en­vö­gel. Sie wur­den ihr zum rea­len Sinn­bild eines »meta­pho­ri­schen und kon­kre­ten Früh­warn­sy­stems der Mensch­heit« und zum Gegen­stand eines Essays, der im Juni die­ses Jah­res im Ver­bre­cher Ver­lag, Ber­lin, erschie­nen ist und schon mit dem Ulri­ke Cre­spo Lite­ra­tur­preis für kri­ti­sche Kurz­tex­te aus­ge­zeich­net wor­den ist.

In dem Essay ver­sucht Schal­an­sky, wie Jury-Mit­glied Phil­ipp Thei­sohn in sei­ner Lau­da­tio sag­te, »in der Spra­che all das zu ret­ten, was ver­geht, was ver­braucht und ver­nich­tet wird«. Nicht zuletzt die Tie­re – sie­he ihre vor­ge­nann­ten Bücher –, nicht zuletzt die Vögel, die dem Text sei­nen Namen gaben, die Kana­ri­en: »Vögel, die es immer noch zahl­reich und in ihren Unter­ar­ten zahl­los zu geben scheint, die dem Men­schen all­zu ver­traut erschei­nen – und hin­ter denen sich ein dunk­les Geheim­nis ver­birgt: ihre Ver­schlep­pung in die Tie­fe. Ein Sän­ger in der Gru­be, ein Dich­ter unter Tage. Ein Wesen, das singt, wo es nur atmen soll. In den Dienst des Men­schen gezwun­gen, redu­ziert auf ein Seismographen-Dasein.«

Auch wenn die Kana­ri­en in den 1980er Jah­ren »durch sen­si­ble­re Detek­to­ren ersetzt wur­den«, über­win­ter­te wie so oft »Aus­ge­mu­ster­tes im Par­al­lel­uni­ver­sum der Spra­che«: »In ihr leben die Berg­werks­ka­na­ri­en fort, gei­stern als Unheil ver­kün­den­de Minia­tur­kas­san­dras durch Nach­rich­ten, als hand­li­che, gefie­der­te Ora­kel, denen es im Ange­sicht der Kata­stro­phe die Stim­me ver­schlägt und die an jenem pre­kä­ren Punkt, der über Leben und Tod ent­schei­det, effekt­voll von der Stan­ge fallen.«

Im Text der Schrift­stel­le­rin ent­puppt sich der »cana­ry in the coal mine«, wie er im eng­lisch­spra­chi­gen Raum genannt wird, als eine Art Kipp­bild, »mit dem sich immer neue Erkennt­nis­se und Beob­ach­tun­gen zu Tage för­dern las­sen – von der Geschich­te des Berg­baus bis zur Ent­ste­hung der Umweltbewegung«.

Kipp­punk­te, so die Autorin, »bezeich­nen in der kli­ma­ti­schen und öko­lo­gi­schen For­schung die kri­ti­schen Momen­te zwi­schen zwei Zustän­den, (…) in denen sich Umwelt­be­din­gun­gen so weit­rei­chend ver­än­dern, dass Situa­tio­nen zum Kip­pen kom­men« und der Point of no Return über­schrit­ten wird. Sie nennt Bei­spie­le aus den all­täg­li­chen Nach­rich­ten: den Gehalt von Koh­len­stoff­di­oxid in der Erd­at­mo­sphä­re, den anstei­gen­den Mee­res­spie­gel, die aktu­ell gemes­se­nen Höchst­tem­pe­ra­tu­ren, die Men­ge der aus­ster­ben­den Tier- und Pflan­zen­ar­ten, das Ver­en­den von 400 Ton­nen Fisch in der Oder, deren Öko­sy­stem im Som­mer 2022 auf über 500 Kilo­me­tern umge­kippt war.

Am Ende ihres Essays sieht sich die Schrift­stel­le­rin selbst in der Rol­le des Kana­ri­en­vo­gels, »in einer Gegen­wart, deren pre­kä­rer Zustand nicht nur durch Wis­sen­schaft benannt, son­dern durch Kunst erfahr­bar gemacht wer­den konn­te«. So kön­ne Lite­ra­tur eben­falls zu einem Früh­warn­sy­stem wer­den. Zum Bei­spiel durch einen Essay wie die­sen, füge ich hinzu.

Und sie zitiert die Quint­essenz aus dem 2022 vor­ge­leg­ten neu­en Report des Club of Rome, wonach »die bedeu­tend­ste Her­aus­for­de­rung unse­rer Tage nicht der Kli­ma­wan­del, der Ver­lust an Bio­di­ver­si­tät oder Pan­de­mien« sind, son­dern »unse­re kol­lek­ti­ve Unfä­hig­keit, zwi­schen Fak­ten und Fik­ti­on zu unterscheiden«.

Das Schluss­wort geht an den Lau­da­tor Thei­sohn: »Nie ver­lässt die­sen Text der Zwei­fel, nir­gends möch­te er ›beleh­ren‹. Sei­ne Sou­ve­rä­ni­tät ver­dankt er ganz und gar einem sowohl in die­ser Schär­fe sel­ten gewor­de­nen wie kunst­voll umge­setz­ten Wil­len zur Auf­merk­sam­keit. Und was, wenn nicht die­ser, wäre einer lite­ra­ri­schen Aus­zeich­nung würdig?«

 Judith Schal­an­sky: Schwan­ken­de Kana­ri­en, Ver­bre­cher Ver­lag, Ber­lin 2023, 70 S., 14 €.