Mein Vater war Bergmann. Eine Herkunft, die auf dem Gymnasium die ältliche Lateinlehrerin Frau Dr. Soundso zu der dünkelhaft-herablassenden Bemerkung verleitete, es sei schon erstaunlich, welcher Art Kinder es heutzutage erlaubt sei, diese Sprache zu erlernen. Die Sprache der Gebildeten, der Studierten, der Leute aus »besseren Kreisen«.
Manchmal durfte ich meinen Vater, der irgendwann Mitte der 1950er Jahre zum Betriebsratsvorsitzenden gewählt worden war, zur Grube begleiten, als Sozius auf seiner roten Triumph 125. Vielleicht habe ich bei solch einer Gelegenheit von Bergleuten jene Geschichte gehört, die mir seit Kindesbeinen im Gedächtnis geblieben ist und die mir jetzt wieder beim Lesen des poetischen Essays »Schwankende Kanarien« der in Greifswald geborenen Schriftstellerin Judith Schalansky in den Sinn kam.
Es ist eine Geschichte von der gefährlichen Arbeit unter Tage, wobei es nicht um mangelhaftes Equipment in der Arbeitswelt und die daraus resultierenden unfallträchtigen Gefahren geht, sondern um eine andere, heimtückische Bedrohung: um giftige Gase wie das geruchlose Kohlenmonoxid, das in den Stollen unmerklich und schnell eine tödliche Konzentration erreichen kann.
Schon seit dem frühen 18. Jahrhundert wurden Kanari von den Schleppern, Hauern und anderen Grubenarbeitern nicht nur als muntere gefiederte Sänger zu Hause gehalten, sondern als trillernde »Gefahrenmelder« mit unter Tage genommen. Hörten sie plötzlich auf zu singen, fielen sie gar von der Stange oder kippten sie in ihren Käfigen um, was schon bei einer Konzentration von 0,29 Prozent Kohlenmonoxid in der Atemluft und einer Einatmungszeit von 2,5 Minuten der Fall sein soll, war allerhöchste Gefahr im Verzuge. Es drohten »böse Wetter«. Es drohte der Tod.
Judith Schalansky ist neben ihrer eigenen schriftstellerischen Tätigkeit – »Atlas der abgelegenen Inseln«, »Der Hals der Giraffe«, »Verzeichnis einiger Verluste« – seit zehn Jahren Herausgeberin der im Verlag Matthes & Seitz, Berlin, erscheinenden wunderschönen Buchreihe »NATURKUNDEN«. Inzwischen liegen 87 Bände vor. Sie erzählen von Tieren und Pflanzen, von Pilzen und Menschen, von Landschaften, Steinen und Himmelskörpern, von belebter und unbelebter, fremder und vertrauter Natur. Füchse, Käfer, Eidechsen, Habichte, Hirsche, Fliegen, Kröten, Nashörner, Schafe, Wölfe, Schmetterlinge, Schnecken, Schweine, Eulen, Heringe, Krähen haben in der Buchreihe ihren Soloauftritt.
Irgendwann stieß die Schriftstellerin bei ihren Recherchen im Tierreich wohl auf die Kanarienvögel. Sie wurden ihr zum realen Sinnbild eines »metaphorischen und konkreten Frühwarnsystems der Menschheit« und zum Gegenstand eines Essays, der im Juni dieses Jahres im Verbrecher Verlag, Berlin, erschienen ist und schon mit dem Ulrike Crespo Literaturpreis für kritische Kurztexte ausgezeichnet worden ist.
In dem Essay versucht Schalansky, wie Jury-Mitglied Philipp Theisohn in seiner Laudatio sagte, »in der Sprache all das zu retten, was vergeht, was verbraucht und vernichtet wird«. Nicht zuletzt die Tiere – siehe ihre vorgenannten Bücher –, nicht zuletzt die Vögel, die dem Text seinen Namen gaben, die Kanarien: »Vögel, die es immer noch zahlreich und in ihren Unterarten zahllos zu geben scheint, die dem Menschen allzu vertraut erscheinen – und hinter denen sich ein dunkles Geheimnis verbirgt: ihre Verschleppung in die Tiefe. Ein Sänger in der Grube, ein Dichter unter Tage. Ein Wesen, das singt, wo es nur atmen soll. In den Dienst des Menschen gezwungen, reduziert auf ein Seismographen-Dasein.«
Auch wenn die Kanarien in den 1980er Jahren »durch sensiblere Detektoren ersetzt wurden«, überwinterte wie so oft »Ausgemustertes im Paralleluniversum der Sprache«: »In ihr leben die Bergwerkskanarien fort, geistern als Unheil verkündende Miniaturkassandras durch Nachrichten, als handliche, gefiederte Orakel, denen es im Angesicht der Katastrophe die Stimme verschlägt und die an jenem prekären Punkt, der über Leben und Tod entscheidet, effektvoll von der Stange fallen.«
Im Text der Schriftstellerin entpuppt sich der »canary in the coal mine«, wie er im englischsprachigen Raum genannt wird, als eine Art Kippbild, »mit dem sich immer neue Erkenntnisse und Beobachtungen zu Tage fördern lassen – von der Geschichte des Bergbaus bis zur Entstehung der Umweltbewegung«.
Kipppunkte, so die Autorin, »bezeichnen in der klimatischen und ökologischen Forschung die kritischen Momente zwischen zwei Zuständen, (…) in denen sich Umweltbedingungen so weitreichend verändern, dass Situationen zum Kippen kommen« und der Point of no Return überschritten wird. Sie nennt Beispiele aus den alltäglichen Nachrichten: den Gehalt von Kohlenstoffdioxid in der Erdatmosphäre, den ansteigenden Meeresspiegel, die aktuell gemessenen Höchsttemperaturen, die Menge der aussterbenden Tier- und Pflanzenarten, das Verenden von 400 Tonnen Fisch in der Oder, deren Ökosystem im Sommer 2022 auf über 500 Kilometern umgekippt war.
Am Ende ihres Essays sieht sich die Schriftstellerin selbst in der Rolle des Kanarienvogels, »in einer Gegenwart, deren prekärer Zustand nicht nur durch Wissenschaft benannt, sondern durch Kunst erfahrbar gemacht werden konnte«. So könne Literatur ebenfalls zu einem Frühwarnsystem werden. Zum Beispiel durch einen Essay wie diesen, füge ich hinzu.
Und sie zitiert die Quintessenz aus dem 2022 vorgelegten neuen Report des Club of Rome, wonach »die bedeutendste Herausforderung unserer Tage nicht der Klimawandel, der Verlust an Biodiversität oder Pandemien« sind, sondern »unsere kollektive Unfähigkeit, zwischen Fakten und Fiktion zu unterscheiden«.
Das Schlusswort geht an den Laudator Theisohn: »Nie verlässt diesen Text der Zweifel, nirgends möchte er ›belehren‹. Seine Souveränität verdankt er ganz und gar einem sowohl in dieser Schärfe selten gewordenen wie kunstvoll umgesetzten Willen zur Aufmerksamkeit. Und was, wenn nicht dieser, wäre einer literarischen Auszeichnung würdig?«
Judith Schalansky: Schwankende Kanarien, Verbrecher Verlag, Berlin 2023, 70 S., 14 €.