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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Auf der Flucht

Als der Ver­le­ger Ste­fan Weid­le vor zwei Jah­ren 65 wur­de, gra­tu­lier­te ihm sein Ver­le­ger-Freund The­del von Wall­mo­den vom Wall­stein Ver­lag in Göt­tin­gen mit den Wor­ten, Weid­le habe »maß­geb­lich an dem Pro­jekt mit­ge­schrie­ben, ver­folg­te und ver­trie­be­ne Autoren und Bücher wie­der zu den deut­schen Lesern zu brin­gen«. Aber auch »Ent­decker­freu­de in ande­ren Lite­ra­tu­ren« trei­be »die­sen Kul­tur­ver­le­ger« um (Online-Maga­zin Buch­Markt, 16. Febru­ar 2018).

Ich habe schon eini­ge der Buch-Ent­deckun­gen aus dem Weid­le Ver­lag, Bonn, in Ossietzky vor­ge­stellt, heu­te kom­men zwei wei­te­re hin­zu, die bei­spiel­haft für die bei­den Kate­go­rien stehen.

Da ist zum einen »Die Frau ohne Reue«, der letz­te von fünf Roma­nen des Arz­tes und Schrift­stel­lers Max Mohr, zuerst 1933 im S. Fischer Ver­lag erschie­nen. Geschil­dert wird der Aus­bruch einer Frau aus ihrem groß­bür­ger­li­chen Leben als Ehe­frau und Mut­ter, von einem Augen­blick auf den ande­ren, und die gemein­sa­me Flucht mit ihrem spon­tan gefun­de­nen Gelieb­ten in die Ost­al­pen, auf einen Bauernhof.

Zitat aus dem Klap­pen­text von 1933: »Mohrs Men­schen … fol­gen auf ihren Wegen einem Drang aus dem Unbe­wuß­ten. Es ist die Angst, das Gefühl des Abge­schnit­ten­seins, das aus der Ebbe, dem Leer­sein der Welt kommt, was sie auf rast­lo­se Wan­de­run­gen treibt.«

Hat sich in all den Jah­ren viel geändert?

Max Mohr, 1891 in Würz­burg gebo­ren, wan­der­te 1934 nach Shang­hai aus. Als Jude hat­te er in sei­nem Geburts­land kei­ne Lebens­grund­la­ge mehr, weder als Schrift­stel­ler noch als Arzt. Tags­über arbei­te­te er in sei­ner Pra­xis, nachts schrieb er, »zwi­schen Cho­le­ra und Lepra« (Brief an Tho­mas Mann, zitiert aus der »Bio­gra­phi­schen Skiz­ze« von Roland Fla­de, die zusam­men mit dem Nach­wort von Ste­fan Weid­le das Buch beschließt). Mohr starb 1937 an einem Herzinfarkt.

Wie so man­cher Schrift­stel­ler aus jener unwirt­li­chen Zeit blieb auch Max Mohr in Deutsch­land lan­ge Zeit ver­ges­sen, aus dem kol­lek­ti­ven Gedächt­nis ver­schwun­den. Erst zu sei­nem 100. Geburts­tag erin­ner­te sich sei­ne Geburts­stadt an ihn. Im Früh­jahr 2020 woll­te die Arbeits­ge­mein­schaft »Würz­burg liest ein Buch« den Autor und sein Werk wie­der ins Bewusst­sein der Bür­ge­rin­nen und Bür­ger der Stadt am Main und der Regi­on brin­gen, unter der Schirm­herr­schaft von Ober­bür­ger­mei­ster Chri­sti­an Schu­chardt und Josef Schu­ster, Vor­sit­zen­der der jüdi­schen Gemein­de Würz­burg und Prä­si­dent des Zen­tral­rats der Juden in Deutsch­land. Doch dann kam Coro­na. Lock­down. Jetzt soll das Vor­ha­ben vom 22. April bis 2. Mai 2021 nach­ge­holt wer­den. Aber auch davor und danach fin­den Ver­an­stal­tun­gen zu Max Mohr und der Aktua­li­tät sei­nes Romans über eine Frau »auf der Suche nach Lie­be, Frei­heit und Selbst­stän­dig­keit« statt. Nähe­res unter wuerzburg-liest.de.

Und noch ein­mal Coro­na. Pres­se­mit­tei­lung: »Der für 2020 geplan­te phy­si­sche Ehren­gas­t­auf­tritt Kana­das auf der Frank­fur­ter Buch­mes­se (14. – 18. Okto­ber) wird auf 2021 ver­scho­ben.« Und noch ein­mal betrof­fen: der Weid­le Ver­lag. Die­ser hat­te den Roman »Nächt­li­che Erzäh­lun­gen« des 1975 in Lomé, Togo, gebo­re­nen und in Kana­da in der Nähe von Otta­wa leben­den Schrift­stel­lers Edem Awu­mey als sei­nen Bei­trag zum Gast­land­auf­tritt Kana­das kon­zi­piert. Doch der Antrag des Ver­lags auf Über­set­zungs­för­de­rung des PEN-Ame­ri­ca-Mit­glieds wur­de vom Cana­da Coun­cil for the Arts abge­lehnt, der Autor nicht nach Frank­furt ein­ge­la­den und wird es auch näch­stes Jahr nicht, wie der Ver­le­ger schreibt: »Die Grün­de ken­nen wir nicht, ver­mut­lich sind sie poli­ti­scher Natur.«

Der vier­te Roman des Schrift­stel­lers und der erste in deut­scher Über­set­zung, die Ste­fan Weid­le per­sön­lich aus dem Fran­zö­si­schen besorg­te, beschreibt, was im afri­ka­ni­schen Hei­mat­land der Haupt­fi­gur gesche­hen ist, wo ein Dik­ta­tor Angst hat, zuerst vor Stu­den­ten, die Flug­blät­ter mit Zita­ten Samu­el Becketts ver­tei­len, dann vor den Alten, denen er Zau­ber­kräf­te unter­stellt. Im Straf­la­ger liest der jun­ge Stu­dent dem alten blin­den Mit­ge­fan­ge­nen im Schein einer gestoh­le­nen Petro­le­um­lam­pe nachts aus Wer­ken der Welt­li­te­ra­tur vor, und so »fin­den sie gemein­sam in eine Zone, in der ihnen nie­mand etwas anha­ben kann«. Nach dem Zusam­men­bruch des unge­nann­ten Staa­tes kommt der Stu­dent frei und erhält ein Arbeits­sti­pen­di­um in Kana­da, wo er bleibt. Wie der Autor.

Max Mohr: »Frau ohne Reue«, 221 Sei­ten, 14 €; Edem Awu­mey: »Nächt­li­che Erklä­run­gen«, 208 Sei­ten, 22 €, bei­de Weid­le Verlag