Wir wollen einen iranischen Kommunisten im Süden des Landes besuchen und verlassen Bam, die Oase am südöstlichen Rand der Wüste Lut. »Arg-é Bam«, die mächtige Zitadelle dieser aus Lehmziegeln errichteten historischen Wehrstadt, hatte Jahrhunderte über die Route von Pakistan nach Kerman gewacht. 2003 zerstörte ein Erdbeben die von der UNESCO zum Weltkulturerbe erklärte Lehmstadt mit ihren Moscheen, Karawansereien, Wohnhäusern, dem Basar und der Zitadelle.
Auch die im 20. Jahrhundert direkt nebenan erbaute moderne Stadt Bam wurde dem Erdboden gleichgemacht. Mehr als 40.000 Todesopfer waren zu beklagen. Inzwischen pulsiert in der schmucklosen Neustadt wieder das Leben. Die Rekonstruktion der Lehmhäuser in der Altstadt ist entlang der historischen Hauptstraße inklusive des »Jüdischen Hauses« abgeschlossen. Der Zitadelle fehlt noch ihr hoher Turm. Ein paar Baugerüste dienen letzten Arbeiten an der imposanten Wehrmauer, die die 25 Hektar große Altstadt umfriedet.
Auf dem grünen Mittelstreifen der Ausfallstraße von Bam fallen Bildmasten mit riesigen Portraits junger Männer ins Auge. Sie zeigen Söhne der Stadt, die während des irakisch-iranischen Krieges getötet wurden. Überall im Iran wird mit solchen Bildern an die »Märtyrer« des acht Jahre währenden Krieges erinnert, der im September 1980 begann, als die Armee von Iraks damaligem Staatspräsidenten Saddam Hussein den Iran überfiel, um sich dessen Ölquellen in der Provinz Chuzestan einzuverleiben. Mit westlicher Hilfe setzte der Irak gezielt Senfgas auch gegen iranische Zivilisten ein. Es war, schreibt Charlotte Wiedemann, der »größte Chemiekrieg seit dem Ersten Weltkrieg«. Er habe sich als Trauma ins kollektive Gedächtnis der Iraner eingebrannt, da das damals isolierte Land sich ganz allein gegen eine informelle Kriegskoalition von 36 Staaten habe verteidigen müssen: »In dieser Situation entschied die Führung der Islamischen Republik, das Nuklearprogramm wieder aufzunehmen; es hatte in der Schah-Zeit mit amerikanischer und französischer Hilfe begonnen und wurde von Khomeini zunächst aus religiösen Gründen eingestellt.« (Charlotte Wiedemann: »Der neue Iran«, S. 144 ff.)
Am Ortsausgang von Bam steuert Mansur, unser Fahrer, eine Tankstelle an. Er bekommt jedoch keinen Diesel, denn der ist wegen der Nähe zur afghanischen und pakistanischen Grenze hier schon seit längerem rationiert, um den Treibstoff-Schmuggel zu erschweren, erläutert unser Reiseleiter. Vorausschauend hatte Mansur unseren Kleinbus plus Kanister deshalb bereits auf dem Hinweg vollgetankt – für in deutschen Augen spottbillige 300.000 Rial, umgerechnet 2,50 Euro.
Inzwischen hat die Regierung Benzin und Diesel landesweit rationiert. Mit einer staatlichen Benzinkarte können die Iraner seit Mitte November bis zu 60 Liter Benzin im Monat zum Literpreis von umgerechnet zwölf Cent tanken. Alles darüber hinaus kostet dann 24 Cent. Bis dahin betrug der subventionierte Benzinpreis umgerechnet weniger als 10 Cent. Schon seit längerer Zeit wollte die Regierung von Präsident Rohani die Benzinpreise erhöhen, hatte das aber aus Furcht vor noch höherer Inflation und vor Massenprotesten, die dann Mitte November das Land erschütterten, immer wieder verschoben. Der Benzinpreis gilt im Iran als die »Mutter aller Inflationen«, denn die Raffineriekapazität des Landes reicht nur, um 50 Prozent des iranischen Bedarfs zu decken. Die anderen 50 Prozent werden zu Weltmarktpreisen importiert. Wegen der illegalen US-Sanktionen im Zusammenhang mit dem illegal gekündigten Atomvertrag ist der Ölexport als Haupteinnahmequelle des Iran eingebrochen. Der Export des viertgrößten Ölproduzenten der Welt ist von 2,8 Millionen Barrel am Tag auf weniger als eine Million gesunken. Rohani wirft den USA »Wirtschaftsterrorismus« vor.
Auch Karim, der 63 Jahre alte iranische Kommunist und frühere Aktivist gegen das blutige Schah-Regime, stöhnt leise über die US-Sanktionen. Wir treffen ihn und seine Familie auf seiner Farm im tropischen Klima einer wasserreichen Ebene nahe der Stadt Dschiroft, südwestlich des 4500 Meter hohen Berges Kuh-e Hazar.
Anfang der 1980er Jahre war die Familie unter dramatischen Umständen vor den Häschern der Mullahs geflohen. »An der Haustür vorne klopfte der Geheimdienst, und wir sind über den Hof durch die Hintertür geflüchtet«, berichtet sein 38 Jahre alter Sohn Kaveh, der in Deutschland studiert hat. Acht Jahre habe sich die Familie in Teheran versteckt, während das Regime Ende der 1980er Jahre Kommunisten und andere Regimegegner im Halbstundentakt henkte. Dann sei es ihr gelungen, über Indien, Usbekistan und Moskau nach Deutschland zu fliehen, wo Karim, ein studierter Mathematiker, in West-Berlin ein Taxiunternehmen aufbaute. Karims Frau, die gerade während der Herbstferien zu Besuch auf der Farm weilt, arbeitet weiterhin als Diplompädagogin in Berlin — um keine Rentenansprüche zu verlieren.
Vor 18 Jahren ist ihr Mann aus dem deutschen Exil in den Iran zurückgekehrt. Das Mullah-Regime hat Karim zugesichert, ihn in Ruhe zu lassen, wenn er sich nicht mehr politisch betätigt. Heute, sagt er, sei seine politische Hoffnung die Jugend, denn die denke im Iran ganz ähnlich wie die in Berlin.
»Nur ab und zu schaut bei mir mal der Geheimdienst vorbei«, berichtet er gelassen, als er uns seine Farm zeigt: Eine Dattelpalmenplantage, auf der er auch Rinder züchtet und in zwei Teichen Karpfen mästet, die LKW regelmäßig auf die Fischmärkte am Persischen Golf und sogar bis nach Bagdad transportieren. Sein Sohn träumt von einem Kühlhaus: »Das würde das Geschäft erleichtern.«
Für seine Rinderzucht benötigt er Soja aus Brasilien, berichtet Karim. Doch die iranische Bank, die den Import abgewickelt habe, sei wegen der US-Sanktionen in Schwierigkeiten. »Wir Iraner sind gewohnt zu improvisieren«, lässt er offen, wie und ob das Problem gelöst worden ist. Viele technische Teile, die er früher aus der EU bezogen habe, kämen nun aus China oder aus iranischer Produktion, berichtet er. Und wundert sich über die Unfähigkeit der EU, sich den USA zu widersetzen Eine positive Folge der US-Sanktionen aber sei, sagt er, dass der Iran sich abseits der Ölwirtschaft wirtschaftlich breiter aufstelle.
Wir haben schließlich Gelegenheit, Kaveh zu den Kriegsdrohungen der USA gegen den Iran zu befragen, die zu unserer Überraschung von unseren anderen iranischen Gesprächspartnern nie thematisiert wurden. Auch Kaveh äußert sich erst auf direkte Nachfrage und formuliert freimütig, er habe »Angst«. Vor allem fürchte er, im Falle eines US-Angriffs zum Militärdienst eingezogen zu werden, von dem die Familie ihn für umgerechnet rund 2000 Euro habe freikaufen können. Er nennt die Bedrohungssituation, in der die iranische Bevölkerung seit Monaten lebt, »kafkaesk«. So habe er am nächsten Morgen »sofort im Internet nachgeschaut, ob die Amerikaner uns schon bombardieren«, nachdem zehn Kampfdrohnen rund die Hälfte der saudischen Ölproduktion lahmgelegt hatten und US-Außenminister Mike Pompeo dafür postwendend und ohne stichhaltige Beweise den Iran verantwortlich gemacht hatte.
Überrascht heben wir beim Gang über die Farm auf dem Weg zwischen den Palmen eine Patronenhülse auf. Im Haus zeigt uns Karim ein Gewehr: »Die Behörden haben mir Dissidenten den Besitz der Waffe erlaubt, weil bis vor wenigen Jahren Drogenbanden aus Afghanistan in der Region blutig um Transitrouten und Absatzmärkte gekämpft haben.« Inzwischen herrsche aber Ruhe.
»Doch die Drogensucht ist hier ein so riesiges Problem, dass es nicht mehr lösbar scheint«, meint Kaveh. Sechs der sieben Arbeiter seines Vaters seien von Opium abhängig.
Die Familie verwöhnt unsere Gruppe mit einem opulenten Mittagsmahl; wir speisen am offenen Feuer gebratenen Karpfen, gedünstetes Gemüse, frische Kräuter und Joghurt. Herzlich werden wir schließlich alle umarmt, und die Frau des Hauses schenkt jedem zum Abschied eine Pappbox mit köstlichen Datteln. Schließlich gruppieren wir uns zu den obligatorischen Erinnerungsfotos – ohne die geht überall im fotobegeisterten Iran nichts.
Zurück auf der Autobahn nach Kerman überholen wir große Reisebusse, aus deren Fenstern schwarze Bänder flattern. Es sind Pilger auf dem Weg in den Süden des Iraks zu den heiligen Stätten der Schiiten in Nadschaf und Kerbala. Wir befinden uns in den letzten Tagen des Muharrams, des Trauermonats der Schiiten, in dem die Gläubigen mit Passionsspielen und überall an den Straßen wehenden schwarzen Trauerfahnen und Spruchbändern eines Massakers im Jahre 680 in der Wüste bei Kerbela gedenken.
Dort wurden damals die Parteigänger des Imam Ali (arabisch: Schi’at Ali) mit dessen Sohn Hussein an der Spitze von Truppen des verfeindeten sunnitischen Kalifen von Damaskus abgeschlachtet. In den Ritualen des Muharrams sehen die Gläubigen eine Sühnetat für das Versagen der ersten Schiiten, die Hussein nicht ausreichend unterstützt hatten.
Als wir zwei Tage vor Ende des Muharrams vom Flughafen in Teheran nach Hause fliegen wollen, hat unser Fahrer Mühe, bis zur Abflughalle vorzufahren. Vor der Halle herrscht Verkehrschaos; die Halle selbst ist überfüllt, weil tausende Pilger noch rechtzeitig in den Irak zum Grab von Hussein fliegen wollen. Beim Blick auf die Anzeigetafel staunen wir: Im Stundentakt starten die Flugzeuge bis tief in die Nacht in den Irak beziehungsweise bringen von dort wieder Pilger nach Teheran. Vor unserem Abflug-Gate wird das Drama aus dem Jahr 680 mit lebensgroßen Puppen nachgestellt und mit einem rührseligen Text von Ayatollah Khamenei in englischer Sprache kommentiert. Mein Eindruck: Der schiitische Islam ist tief im Volk verwurzelt, auch wenn wir viele säkularisierte Iraner treffen, die über die Pilger nur milde lächeln und im privaten Gespräch – das gilt auch für Gläubige – am Mullah-Regime kein gutes Haar lassen.
Unser Reiseleiter bestätigt: Zu den Freitagsgebeten strömen längst nur noch Hunderttausende und nicht mehr die vielen Millionen, die 1979 und danach Khomeini zugejubelt hatten. Charlotte Wiedemann resümiert in ihrem Gesellschaftsportrait: »Nichts hat dem Islam in der langen Geschichte Irans so geschadet wie das System der Islamischen Republik.« (»Der neue Iran«, S. 64)
Ende der vierteiligen Serie. Die Teile I bis III erschienen in den Ossietzky-Heften 23-25/2019. Weitere Leseempfehlung: Karin Kulows Artikel »Spiel mit dem Feuer« in Ossietzky 14/2019 zu den Beziehungen USA – Iran.