Den Abschluss unseres Aufenthaltes in Südamerika bildete eine Reise durch Chile und an deren Ende wiederum ein 3-tägiger Aufenthalt in der Hauptstadt Santiago de Chile. Das war bewusst so geplant, denn ich wollte schon immer in die Stadt, in der vor knapp 50 Jahren der Putsch gegen den demokratisch gewählten Präsidenten Salvador Allende und seine Regierung ihren Ausgangspunkt nahm. Dabei war ich zu diesem Zeitpunkt gerade mal 9 Jahre alt, aber die Bilder im Fernsehen, die das Bombardement des Präsidentenpalastes, die »Moneda«, zeigten, hatten sich fest in mein Gedächtnis eingebrannt und ließen mir schon damals keine Ruhe. Auch Tage danach fragte ich meine Mutter, ob die denn da immer noch kämpfen würden, was sie bejahte. Das ging über mein kindliches Vorstellungsvermögen, denn irgendwann müssten die da ja auch alle mal schlafen. Chile war damals viel im Gespräch, und auch wenn ich natürlich damals nicht die Tragweite dessen, was da passierte, erfasste, war mir doch unterbewusst klar, dass da eine ziemlich große Schweinerei abgelaufen sein musste. Als politisch interessierter Mensch streifte mich das Thema immer mal wieder in meinem Leben, und nun wurde es Zeit, diesen Kreis zu schließen.
Als Glücksumstand erwies sich dabei ein Ehepaar aus Santiago de Chile, welches wir auf unserer Reise durch Chile kennenlernten. Wir sollten doch vorbeikommen, wenn wir in der Hauptstadt wären, und das taten wir auch. Im Verlauf des Abends gaben uns Luis und Lucia einige Tipps, und dazu gehörte das 2010 von der damaligen Präsidentin Michelle Bachelet eingeweihte »Museo de la Memoria y los Derechos Humanos« (Museum der Erinnerung und Menschenrechte). Luis selbst hatte an der Ausstellung mitgearbeitet. Das Museum dokumentiert mit Bild, Ton und Ausstellungsstücken auf eindrucksvolle Weise die Ereignisse des 11.09.1973 und die folgenden Jahre der Militärdiktatur unter Augusto Pinochet. Sichtbar auch die internationale Solidarität, die dem chilenischen Volk aus vielen Ländern entgegengebracht wurde. Vieles kannte ich, aber im Detail wurde noch einmal die ganze Dreistigkeit und Brutalität dieses von den USA unterstützten Putsches deutlich. Das Museum war gut besucht, und auch Schulklassen lärmten durch die Räume und arbeiteten mehr oder weniger gewissenhaft ihren Laufzettel ab. Es ist sicher immer schwer für junge Menschen, sich in andere Epochen hineinzuversetzen. Aber den Versuch ist es schon wert.
Wer noch mehr wissen will, der sollte einen Besuch des Zentralfriedhofes einplanen. Hier ist das Grab bzw. das Memorial von Salvador Allende. Im weiteren Verlauf trifft man auf den Patio 29 (das Feld 29), auf dem viele Opfer der Militärjunta namenlos verscharrt wurden. Erst seit den 1990er Jahren werden durch Exhumierungen und Analysen den Toten die Namen zurückgegeben und den Angehörigen zumindest Gewissheit verschafft. Ungefähr 140 Menschen liegen hier. Und dann ist da noch die riesengroße Gedenktafel mit den tausenden Namen der Menschen, die während der Diktatur ums Leben gekommen sind. Eingerahmt wird es auf der rechten Seite von einem Forum für Opfer, die aus politischen Gründen hingerichtet worden sind. Die Daten reichen weit in die 1980er Jahre hinein. Links der Gedenktafel ein weiteres Forum für Opfer, die nach ihrer Verhaftung verschwunden sind.
Hier treffen wir Maria, die sich um die Sauberkeit des Forums bemüht, und kommen mit ihr ins Gespräch. Sie trägt an ihrem Pullover ein Schild mit einem Foto und der Frage »Donde están?« (Wo sind sie?). Es stellt sich heraus, dass es das Bildnis ihres Großvaters ist. Als Gewerkschaftsfunktionär und Mitglied der KP wurde er 1976 entführt und ist nicht wieder aufgetaucht. Wir kommen ins Gespräch, und sie berichtet, dass die Denkmäler derzeit saniert werden. Das geht auf ein Wahlversprechen des jetzigen Präsidenten zurück, der versprach, die Erinnerungskultur zu pflegen. Ansonsten seien staatlicherseits keine großen Feierlichkeiten geplant und die Zeit der Diktatur auf eine einzige Seite der Geschichtsbücher gedrängt. Natürlich kämen auch Schulklassen vorbei, denen sie erzählt, dass man sich unbedingt dafür interessieren müsse, was während der Pinochet-Diktatur passiert ist.
Insgesamt diagnostiziert sie der Welt einen Rechtsruck. Wir reden auch noch kurz über das gescheiterte Verfassungsreferendum, denn noch hat Chile die Verfassung aus der Zeit der Diktatur. Die neue Verfassung sollte Chile von Grund auf umbauen, zu einem Sozialstaat, der Frauenrechte und Umweltschutz stärkt, die indigenen Völker anerkennt und sich aktiv um das Wohlergehen der Menschen kümmert, statt dies privaten Unternehmen zu überlassen, wie es die aktuelle Verfassung, die noch aus Zeiten der Pinochet-Diktatur stammt, vorsieht. Dieses Referendum wurde ihrer Ansicht nach medial zu Fall gebracht. Es wurden unter anderem falsche Verfassungsentwürfe in Umlauf gebracht und Angst über Enteignungen geschürt. Für alle weiteren Aktivitäten hoffe sie aber, dass sich im Rahmen des anstehenden Jahrestages die derzeit doch weitestgehend separat agierenden Gruppen wieder mehr zusammenfinden würden.
Wir bedanken uns und fragen, ob wir ein Foto von ihr machen dürfen. Sie stimmt zu, besteht aber darauf, das an einer bestimmten Stelle zu tun und führt uns zu dem Bild eines 13-Jährigen Jungen. Die Geschichte dahinter: Einige Tage nach dem Putsch fanden der Junge und sein Freund eine Pistole. Beim Hantieren damit löste sich ein Schuss und traf seinen Freund in den Arm. Der aber war der Sohn eines Carabiniero. Dem anderen Jungen wurde es als Vergehen angelastet. Er wurde verhaftet und ist seitdem verschwunden.
Ist das nun alles Schnee von gestern? Wozu das alles nach 50 Jahren? Können wir daraus noch was lernen? Mir hat es jedenfalls verdeutlicht, wie weit Veränderungen im Rahmen der Demokratie zugelassen werden. Allende hat mit seinen berühmten ersten 40 Maßnahmen das Land umgestalten wollen. Er hat das Kapital herausgefordert, und das hat zurückgeschlagen. Wer immer an Allendes Idee anknüpfen will, muss sich der Gefahren bewusst sein. Wahrscheinlich wird es keinen Putsch im militärischen Sinne gegen fortschrittliche Projekte geben. Die Klingen sind feiner geworden. Die Medien werden es schon (Hin)richten. Klingt etwas pessimistisch? Na ja, solange es solche Leute wie Maria gibt, vielleicht nicht.
Dass Allende dieses Projekt der demokratischen Umgestaltung der Gesellschaft überhaupt hat starten können, verdankte er übrigens einem starken Bündnis, welches aus den verschiedensten, vor allem linken Parteien geschmiedet wurde. Insofern ist das – Linkspartei aufgepasst! – ein gutes Beispiel dafür, wie man über verschiedene Positionen hinweg Gemeinsamkeiten herausarbeiten und umsetzen kann.