Diese vielen Fotos. Im Handy. Auf der Festplatte. In der Cloud. Fotos mit fantastischen Auflösungen. Meist von uns selbst. Beim Essen, auf einer Party, am Strand, beim Sport, vor den diversen Sehenswürdigkeiten dieser Welt, die natürlich nicht halb so sehenswürdig sind wie wir. Was passiert eigentlich mit diesen Millionen und Abermillionen von Fotos? Eine Freundin hat von ihrem knapp einjährigen Enkel, wie sie mir dieser Tage stolz mitteilte, schon mehr als 1000 Fotos auf ihrem Smartphone. Keine wirkliche Überraschung, hätte ich am liebsten gestöhnt, ich leide ja darunter. Keine noch so kurze Begegnung, bei der meine Freundin mir nicht mindestens fünf neue Aufnahmen des so außergewöhnlichen Kleinen zeigt – eine Gedulds- und Höflichkeitsprobe der höchsten Schwierigkeitsstufe. Für mich sehen die Fotos alle gleich aus, aber ich muss trotzdem ständig »wie süß«, »nein, wie niedlich«, »ganz entzückend« sagen. Auch die Selfies der jungen Mutter, die diese Baby-Foto-Flut größtenteils zu verantworten hat, muss ich bei jeder Gelegenheit betrachten – »wie hübsch«, »nein, schon wieder sooo schlank«, »wirklich fotogen« – und natürlich werden Baby-und Mutter-Fotos auch überall gepostet, wo man irgendetwas posten kann. Die Ich-Modellierung im Selbstporträt. Auf Instagram, Pinterest, Snapchat oder Facebook. Massenhafter Ich-Ich-Ich-Fotomüll einer narzisstischen Gesellschaft im Selbstoptimierungs- und Selbstdarstellungswahn.
Es ist vorbei. Das Treffen auf dem Sofa bei Regen. Das gemeinsame langsame Betrachten vergilbter Bilder, Aufnahmen aus einer Zeit, in der die Welt noch keine lauten Farben hatte, und es Fotos gab, mit gezinkten Rändern, die man in Alben klebte, um sie alle Jahre einmal anzusehen, sich beim Älterwerden betrachtend, die Erinnerungen betrachtend, die immer lebendiger werden, je älter man wird, und die einen immer trauriger machen, weil man um ihre Unwiederbringbarkeit weiß. Damals.
Fotos von den Großeltern, von den Tanten und Onkels bei einer Familienfeier, meine Schwester und ich im Kinderwagen, die Schultüte, der Familienurlaub an der Ostsee. So viele und doch so wenige einzelne kostbare Fotos:
Zeitsprünge, wehmütige Fragen nach der Zeit.
Anna, die Tochter einer anderen Freundin, muss – egal, was sie tut, egal, was geschieht – immer »erst mal fotografieren«. Sie macht ein Foto von einem schön gedeckten Tisch. Von dem Essen auf dem Teller, bevor sie es isst. Von einem gerade erhaltenen Geschenk. Von ihrem frisch aufgeräumten Zimmer. Von jeder Station ihrer Shopping-Tour. Ich muss sie nicht fragen, was sie in den letzten Stunden gemacht hat, ich muss nur auf ihrem Handy durch die Fotos scrollen. In ihrem Leben hat nichts stattgefunden, wovon es kein Foto gibt. Aber hat denn etwas stattgefunden, was das Festhalten, die Dokumentation gelohnt hätte?
Natürlich macht Anna besonders viele Fotos von sich selbst. In einem neuen Look – einer neuen Hose, einem neuen Kleid, im neuen Bodysuit für den Body Workout. Selfies direkt nach dem Aufstehen, nach dem Duschen mit gekonnt verstrubbelten nassen Haaren, mit ihren Freundinnen. Selfies von ihrer Teilnahme an einer Fridays-for-Future-Demonstration. Das Smartphone dient Anna zur ständigen Selbstprüfung; ihr Selbstgefühl, ihr Selbst-Wert-Gefühl ist abhängig von Konsum der Bilder ihres Selbst.
Damit ist sie nicht allein, die Selbstüberwachung ist im Trend.
Anna weiß zu jeder Zeit, wie sie gerade auf einem Foto aussehen würde. Wenn irgendwer in ihrer Nähe ein Smartphone reckt, kann sie in einem Sekundenbruchteil einen fotogerechten Gesichtsausdruck aufsetzen. Ihr Fotogesicht hat ein leicht gerecktes Kinn, leicht angehobene Brauen und ein Lächeln mit leicht geöffneten Lippen. Wie das Fotogesicht von Millionen anderer Mädchen und junger Frauen. Selbstverliebt, süchtig nach Anerkennung. Gepostet wird nur die perfekte Inszenierung: Sorgfältiges Styling, ein gekonntes Posing, der optimale Hintergrund, der richtige Blick in die Kamera, oft auch ein so genannter Face Filter, also ein Toolkit für Fotoretusche und Verschönerung, mit dem man angebliche Falten verschwinden lassen kann oder andere drängende Schönheitsfehler einer jugendlichen Haut. Ein Drittel der Heranwachsenden zwischen 14 und 21 Jahren hat den Wunsch, durch das Posten von Selfies berühmt zu werden.
Ich habe kein Fotogesicht. Damals, vor der digitalen Massenfotografie, war ein Foto etwas, das zu besonderen Anlässen gemacht wurde. Geburtstage, Hochzeiten, Kommunion, Konfirmation, Jugendweihe, Familienausflüge, Betriebsfeste. Minutenlang wurde die Aufstellung organisiert. Kleine Verlegenheiten, ein letztes Zupfen an der Frisur oder der Krawatte. Bitte lächeln! Und wenn man ein Passbild brauchte, ging man zum Fotografen, der einem sagte, wie man zu gucken hatte. Kopf leicht schief, die Augen nicht zukneifen, Kinn etwas heben, in etwa so. Die meiste Zeit wusste man nicht, wie man aussah.
Damals. Als wir noch nicht in der Erfüllung von Erwartungen und ständig drängenden Schönheitsidealen funktionierten; als wir noch eigene Sätze sprachen, nicht nur angelernte Gedanken verwendeten; als wir noch nicht anzogen, was man tragen muss, um ohne modische Schande ein Selfie posten zu können; als wir noch glaubten, dass wir alles anders machen und nie so ein furchtbares, angepasstes, leeres Leben führen würden, wie die Menschen um uns. Dass wir die Welt verändern könnten.
Ich habe gegen Atomkraft demonstriert, gegen Aufrüstung und gegen die Abschaffung des Asylrechtes. Kein Foto beweist, dass ich wirklich dabei war. Nur meine Erinnerung und die Erinnerung meiner Freunde und Mitstreiter.
Ich habe in besetzten Häusern gelebt und in Wohngemeinschaften aller Art. Aus jenen Tagen gibt es immerhin ein paar Dutzend Fotos. Wie jung wir damals waren.
Ein kleines Porträtfoto von Horst, meiner ersten großen Liebe in Berlin. Damals war ich noch Schülerin, und es war eine Klassenfahrt, auf der ich Horst kennenlernte. Zum Entsetzen meiner Eltern, denn Horst kam kurz danach ins Jugendgefängnis – Drogen und Diebstähle. Ich habe ihn heimlich im Gefängnis besucht und auch danach weiter getroffen. Kein Selfie von mir vor dem Gefängnistor. Es fehlt mir nicht. Ich höre noch die Schlüssel in den vielen Türschlössern, ich sehe noch den blassen Horst im Besucherraum. Und ich habe dieses eine Foto von ihm.
So stark wie als junger Mensch hat man nie mehr gefühlt, so überwältigend gelitten und geliebt. Die alten Bilder, die leise Trauer, denn man weiß, wie die Sache ausgeht. Wir haben die Welt nicht verändert, weil jede gute Idee am Ende verkauft wird. Oft mit unserer Hilfe. Wir wissen auch: Die Welt wird ohne uns weiterbestehen. Mit neuen Lieben und neuen Aufregungen von neuen Menschen. Es wird Straßen im Regen geben, die feucht glänzen, und den Geruch nach Frühling, nur leider ohne uns, an die sich irgendwann keiner mehr erinnern wird. Vielleicht gibt es noch ein paar Bilder. Meine Schwester und ich, unsere Hochzeiten, unsere Eltern und Großeltern und Urgroßeltern. Oft sehr ernst in die Kamera blickend, manchmal fast feierlich und im guten Anzug oder Kostüm. Die Abiturfeier, die beste Freundin, Arm in Arm, ein paar Reisefotos, das erste Auto, ein VW. Ich komme aus einer Generation, als es sie noch gab, die Bilder. Als Fotos noch Papier und diesen Geruch nach Vergangenheit bedeuteten, wie in alten Bibliotheken. Ein Duft, der mehr Erinnerungen birgt als jede Fotografie.
Die Oma, die uns Märchen vorgelesen hat. Das Glöckchen, das uns zum Weihnachtsbaum rief. Das Pflaster der Mutter auf dem blutenden Knie nach einem abenteuerlichen Wettrennen durch die Nachbarschaft. Fahrradtouren zwischen Rapsfeldern. Das Lieblingsessen zum Geburtstag. Die erste große Reise mit Freunden. Endlich erwachsen.
Die guten Momente bleiben.
Die Stirn an Fensterscheiben gepresst, auf Regen hoffend. Wir haben diesen einen Menschen so gewollt wie nie ein anderer Mensch einen anderen. Wir wollten ihn halten und mit ihm gehen und ihn beschützen, und wir waren uns sicher, das einzige Paar auf der Welt zu sein, dessen Liebe unendlich wäre.
Wir haben gelitten, wie nie ein Mensch vor uns. Der Moment, in dem uns jede Kraft verlassen hat, wir auf den Boden sinken und nicht mehr atmen wollten, weil es unvorstellbar war, weiterzumachen. Keiner konnte helfen nach irgendeiner der elementaren Demütigungen, aus denen sich Leben bildet.
Vielleicht war die Frau gestorben. Einfach weg, ihr Atmen, ihr Geruch, ihr Blick. Nur eine Hülle war zurückgeblieben und nun saß man da in der Küche, mit der Katze.
Vielleicht war der Betrieb bankrott, vielleicht waren es zu viele Kränkungen durch den Chef, Entlassung und Arbeitslosigkeit, ein Krebs kam, eine Fehlgeburt – oder was auch immer bewirkt, dass ein Mensch aus dem Takt kommt, dass er stolpert und sich der Schwung verliert, der uns ohne nachzudenken funktionieren macht. Was tue ich hier eigentlich? Erschreckende Frage, keine Antwort. Wenn man zu schwach ist, um sich von einem Sinn zu überzeugen, hält die Welt still, und es braucht viel, um sie wieder in eine Umdrehung zu bringen.
Die guten Momente, sie bleiben.
Die Augen schließen, ein- und ausatmen, dann sind sie vielleicht wieder da. Und auch der Herzschlag und das allein glückliche machende Gefühl der Unendlichkeit. Freundschaft ist unendlich; Liebe, Pläne, die Träume von einer besseren Welt sind unendlich.
Die guten Momente.
Die guten Momente waren nie gekauft, sie waren nie mit dem Handy dupliziert, sie waren miteinander geteilt. Sie waren lachen, an großen Tischen essen, betrunken sein, verliebt sein, Pläne machen, gegen Ungerechtigkeiten aufstehen, füreinander da sein, Umarmungen. Diese Fotos gibt es nicht mehr. Sie sind verschwunden im Smartphone. Und schaut man doch einmal in das digitale Archiv, sieht man immer nur sich, in guter Beleuchtung, mit einem Face Filter auf dem Gesicht.
Unverändert. Allein. Ohne Erinnerung.