Jahrzehntelang wurde die Armut in der Bundesrepublik entweder ignoriert oder nach dem Motto »Not und Elend gibt es nur in Entwicklungsländern« relativiert. Wenn sie in den Medien überhaupt zum Thema gemacht wurde, dann höchstens im Zusammenhang mit besonders spektakulären Ereignissen bzw. tragischen Einzelschicksalen: dem Kältetod eines Obdachlosen, dem Verhungern eines Kleinkindes oder der Gründung einer »Tafel«, wie die Suppenküchen heutzutage beschönigend genannt werden.
Um die beiden wichtigsten Erscheinungsformen der Armut voneinander abzugrenzen, unterscheidet man in der Fachliteratur zwischen absoluter, extremer bzw. existenzieller Armut einerseits sowie relativer Armut andererseits. Von absoluter, existenzieller oder extremer Armut ist betroffen, wer seine Grundbedürfnisse nicht zu befriedigen vermag, also die zum Überleben notwendigen Nahrungsmittel, sicheres Trinkwasser, eine den klimatischen Bedingungen angemessene Kleidung, eine medizinische Basisversorgung und/oder eine Wohnung entbehrt.
Laut den Angaben der Weltbank, die eine Internationale Armutsgrenze (International Poverty Line, IPL) festgelegt hat, ist eine Person arm, die mit weniger als 1,90 US-Dollar (kaufkraftbereinigt, d. h. bezogen auf das Preisniveau der Vereinigten Staaten) pro Tag auskommen muss. In den Vereinigten Staaten würde man mit einem so geringen Geldbetrag allerdings nach kurzer Zeit verhungern. Außerdem beruht die Bestimmung der Kaufkraftparitäten auf internationalen Warenkörben, die sich nicht am spezifischen Verbrauchsverhalten von Armen orientieren. Manches deutet somit darauf hin, dass es sich beim Rückgang der globalen Armut, den man von Zeit zu Zeit feiert, um ein statistisches Artefakt handelt. Ohne den Wirtschaftsaufschwung von Indien und der Volksrepublik China wäre vermutlich sogar ein Anstieg der extremen Armut im Weltmaßstab zu verzeichnen. Würde man die nationalen Armutsgrenzen der einzelnen Staaten verwenden, ergäbe sich ein ganz anderes, viel genaueres Bild der globalen Armut.
Selbst das physische Existenzminimum sowie die Grenze von der relativen zur absoluten Armut sind nur schwer festzulegen, weil sie beispielsweise davon abhängen, ob es sich um ein warmes oder um ein kaltes Land handelt, in dem jemand lebt. Um es an einem Fallbeispiel zu illustrieren: Wer in Sibirien keinen Pullover besitzt, ist höchstwahrscheinlich arm; wer südlich der Sahara wohnt und keinen Pullover besitzt, ist es deshalb noch lange.
Für manche Beobachter existiert Armut ausschließlich in Staaten wie Burkina Faso, Bangladesch oder Mosambik, aber nicht in der Bundesrepublik. Während niemand bezweifelt, dass es im globalen Süden (extreme) Armut gibt, wird mit Verve darüber gestritten, ob sie auch hierzulande grassiert. Für die politisch Verantwortlichen wirkt es natürlich beruhigend und sie selbst entlastend, wenn das Phänomen ausschließlich in Entwicklungsländern verortet wird. Realitätssinn beweist man aber nicht durch die Ignoranz gegenüber einem sozialen Problem. Wohnungs- und Obdachlose, total verelendete Drogenabhängige, »Straßenkinder«, bei denen es sich meist um obdachlose Jugendliche handelt, unbegleitete minderjährige Flüchtlinge, EU-Ausländer/innen ohne Sozialleistungsansprüche und »Illegale«, die man besser als illegalisierte Migrant(inn)en bezeichnet, gehören hierzulande zu den Hauptbetroffenen von absoluter, extremer bzw. existenzieller Armut.
Wohnungslos sind Menschen, die weder über selbstgenutztes Wohneigentum noch über ein Mietverhältnis verfügen und deshalb in Notunterkünften leben oder bei Freunden und Bekannten nächtigen. Obdachlos sind Menschen, die auf der Straße leben. Für 2018 lag die Schätzung der Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe, welcher mangels anderer offizieller und exakter Daten auch die Armuts- und Reichtumsberichte der Bundesregierung vertrauen, bei 678.000 Menschen, die im Laufe des Jahres wohnungslos waren, darunter 441.000 anerkannte Flüchtlinge. Immer mehr gestrandete Arbeitsmigrant(inn)en und Geflüchtete teilen auch das Schicksal von Obdachlosen, ungeschützt der Witterung und wehrlos den Angriffen rechter Schläger und alkoholisierter Jugendlicher ausgesetzt zu sein. Allein seit 1990 sind über 300 Obdachlose der Kälte zum Opfer gefallen, ohne dass die hiesige (Medien-)Öffentlichkeit mehr als nur sporadisch Notiz von den Tragödien genommen hätte, die sich auf unseren Straßen abspielen.
Statt die extreme Armut in ihrer Kommune zu bekämpfen, bekämpfen manche Stadtverwaltungen lieber die extrem Armen. Für die auf der Straße lebenden Menschen, Mitglieder der Drogenszene, Alkoholkranke und Bettler/innen, gilt ein besonders strenges Armutsregime: Polizeirazzien, Platzverweise, Aufenthaltsverbote und Schikanen privater Sicherheitsdienste, durch die sozial Benachteiligte aus den Innenstädten vertrieben werden, sind typisch dafür. Indem man Obdachlosen den öffentlichen Raum und die Würde nimmt, erklärt man sie zu Menschen zweiter Klasse.
Während die absolute Armut eine existenzielle Mangelerscheinung ist, verweist die relative Armut auf den Wohlstand, der sie umgibt, und den Reichtum, der sie hervorbringt. Denn ursächlich dafür ist nicht etwa das Verhalten der Betroffenen, ausschlaggebend sind vielmehr die sozioökonomischen Verhältnisse, unter denen sie leben (müssen). In einer so reichen Gesellschaft wie der unseren ist Armut nicht gott- oder naturgegeben, sondern letztlich systemisch, d.h. durch die bestehenden Eigentums-, Macht- und Herrschaftsverhältnisse bedingt. Diesen können sich besonders vulnerable Personengruppen schwer entziehen, weil sie aufgrund ihrer schwachen Stellung in der kapitalistischen Wirtschaftsordnung strukturell benachteiligt sind.
Von relativer Armut ist betroffen, wer zwar seine Grundbedürfnisse befriedigen, sich aber nur das Allernötigste leisten und mangels finanzieller Mittel nicht oder nicht in ausreichendem Maße am gesellschaftlichen Leben beteiligen kann. Den allgemein üblichen Lebensstandard in seinem Land unterschreitet ein relativ Armer über längere Zeit hinweg deutlich. Nach einem Beschluss des Europäischen Rates vom 19. Dezember 1984 gelten diejenigen Einzelpersonen, Familien und Personengruppen als verarmt, die über so geringe (materielle, kulturelle und soziale) Mittel verfügen, dass sie von der in ihrem Mitgliedstaat als Minimum akzeptablen Lebensweise ausgeschlossen sind. Damit verbunden sind materielle Defizite und fehlende Partizipationsmöglichkeiten.
Nach einer Konvention der Europäischen Union sind Personen armutsgefährdet, die weniger als 60 Prozent des Medianeinkommens ihres Mitgliedstaates zur Verfügung haben. 2019 – die Zahlen für 2020 liegen bisher nicht vor, dürften wegen der Covid-19-Pandemie aber kaum niedriger sein – erreichte die Armuts(gefährdungs)quote in Deutschland den Rekordstand von 15,9 Prozent. Die höchsten Armutsrisiken wiesen Erwerbslose (57,9 Prozent), Alleinerziehende (42,7 Prozent) und Nichtdeutsche (35,2 Prozent) auf. Kinder, Jugendliche und Heranwachsende waren ebenfalls stark betroffen, während das Armutsrisiko der Senior(inn)en seit geraumer Zeit am stärksten zunimmt.
Demnach waren 13,2 Millionen Menschen von (relativer) Armut betroffen oder bedroht, weil sie weniger als 60 Prozent des bedarfsgewichteten mittleren Haushaltsnettoeinkommens zur Verfügung hatten, was für Alleinstehende 1.074 Euro im Monat entsprach. Davon mussten sie, wenn ihnen keine Immobilie gehörte, noch die Miete für ihre Wohnung bezahlen, was deutlich macht, wie bescheiden in aller Regel ihr Lebensstandard war. Kurzum, es handelte sich um Einkommensarmut, nicht um »Armutsgefährdung«, wie es beispielsweise in den Armuts- und Reichtumsberichten der Bundesregierung arg verharmlosend heißt. Außerdem verdeutlichen die genannten Daten, dass Armut in der Bundesrepublik schon lange kein Rand(gruppen)phänomen mehr ist, als das sie bis heute gern relativiert wird, sondern immer stärker zur Mitte der Gesellschaft vordringt.
Prof. Dr. Christoph Butterwegge hat bis 2016 Politikwissenschaft an der Universität zu Köln gelehrt. Kürzlich ist sein Buch »Armut« in einer 5., aktualisierten und erweiterten Auflage bei PapyRossa erschienen. In diesen Tagen (August 2021) erscheint außerdem bei Campus das Buch »Kinder der Ungleichheit«, das Christoph Butterwegge gemeinsam mit seiner Frau Carolin Butterwegge geschrieben hat.