»Samstags gehört Vati mir« – lang ist’s her, dass in Deutschland um eine flächendeckende Arbeitszeitverkürzung gerungen wurde. 48 Stunden Arbeitszeit in einer 6-Tage-Woche war in den fünfziger Jahren die Regel in der BRD, nach und nach wurden, ausgehend von der Metallbranche, in den 60er Jahren kürzere Arbeitszeiten und schließlich die 5-Tage-Woche eingeführt. auch wenn anfangs Industrievertreter wie Heinrich Nordhoff, der Generaldirektor der VW-Werke, mahnte: »Sicher wäre ein freier Samstag für viele ein schönes Geschenk, aber für viele auch ein Fluch. Die meisten Menschen leben ohnehin auf der Flucht vor sich selbst. Ihnen wäre ein fehlender Arbeitstag kein Segen, sondern die Leere würde noch vergrößert.«
In den 1980er Jahren schon kam der Wunsch nach einer 32-Stunden-Woche auf, aber das blieb ein Traum. Der Trend ging lange eher in die andere Richtung, zu einer Arbeitszeitverlängerung unter dem Deckmantel der Flexibilisierung, zu einer immer weiter gehenden Arbeitsverdichtung, deren Folge ein zunehmender Burn-out auf Seiten der arbeitenden Bevölkerung ist.
Heute kämpft die IG Metall in der Stahlbranche um eine reguläre Wochenarbeitszeit von 32 Stunden, aber es ist die vielgeschmähte kleine Gewerkschaft Deutscher Lokomotivführer (GDL) um ihren Vorsitzenden Claus Weselsky, die am 13. Dezember 2023 einen Erfolg verkündete, der vielleicht bundesweit Auswirkungen haben wird.
»GDL und NETINERA (u. a. erixx, metronom und ODEG, BW) haben sich auf die Absenkung der Arbeitszeit (auf eine 35-Stunden-Woche, die 2028 erreicht wird, BW), angemessene Entgelterhöhungen und weitere Verbesserungen geeinigt. Die Tarif- und Sozialpartner sind der festen Überzeugung, mit dieser nachhaltigen Verbesserung der Arbeitsbedingungen künftig mehr Eisenbahnerinnen und Eisenbahner gewinnen zu können. Ein nicht unwesentliches Argument in einer Branche, in der oftmals Züge wegen des Fachkräftemangels ausfallen.«
2028 soll die 35-Stunden-Woche für die Eisenbahner erreicht sein. 2028 war auch das Jahr, auf das sich John Maynard Keynes in einem Vortrag im Jahr 1928 bezog. Er sprach über die wirtschaftlichen Möglichkeiten der Enkel-Generation und führte unter anderem aus: »In wenigen Jahren − damit meine ich, noch zu unseren Lebzeiten − werden wir in der Lage sein, alle Tätigkeiten in der Landwirtschaft, im Bergbau und im Produzierenden Gewerbe mit einem Viertel der menschlichen Anstrengungen durchzuführen, an die wir gewöhnt waren.«
Er sagte voraus, »dass der Lebensstandard in den fortschrittlichen Ländern in hundert Jahren (also 2028) vier- bis achtmal so hoch sein wird wie heute«, und rechnete durchaus mit der Möglichkeit eines noch rascheren Fortschritts. Er sprach davon, dass durch diesen Fortschritt eine 15-Stunden-Arbeitswoche die Regel sein werde und die Menschen sich über wirtschaftliche Notwendigkeiten keine Gedanken mehr zu machen brauchten. Ein Zeitalter der Fülle wäre erreicht.
Auch er sprach – wie Nordhoff – von einer damit verbundenen Sinnkrise: »Zum ersten Mal seit seiner Erschaffung wird der Mensch damit vor seine wirkliche Aufgabe gestellt sein, wie seine Freiheit von drückenden wirtschaftlichen Sorgen zu verwenden ist.« Doch er prophezeite, dass man »zu den zuverlässigsten Grundsätzen der althergebrachten Werte zurückkehren werde: dass Geiz ein Laster ist und die Liebe zum Geld abscheulich«.
Keynes ist für diese Vorhersagen kritisiert worden, u. a. mit dem Argument, dass die Länge der Arbeitszeit nicht mit der Produktivität zusammenhänge, sondern mit der Höhe des Einkommens, sprich: erst wenn der Lohn hoch genug sei, käme der Wunsch nach kürzerer Arbeitszeit auf. Das mag unter den gegebenen Bedingungen stimmen, wo der Lohn der arbeitenden Bevölkerung oftmals nicht ausreicht ohne zusätzliche (Zweit-)Arbeit. Man kann dieses Argument allerdings umdrehen: Es ist wichtig, dafür zu sorgen, dass es auch bei kürzerer Arbeitszeit gerechte Löhne gibt, dass sich nicht eine Minderheit an der Arbeit der Mehrheit bereichert und die Früchte der gestiegenen Produktivität allen gleichmäßig zugutekommen.
Utopisch? Ja sicher, aber wir sollten durchaus utopische Gedanken pflegen, um uns klarzumachen, wohin eine wünschenswerte gesellschaftliche Entwicklung führen soll. Schon 1911 hat Charlotte Gilman, eine Vorkämpferin der Frauenemanzipation und weit über ihr Heimatland USA hinaus für ihre gesellschaftskritischen Bücher bekannt, eine Utopie verfasst, die darauf gründete, dass Armut abgeschafft war – die kapitalistische Gesellschaft war schon damals so reich, dass bei Verteilung dieses Reichtums für alle gesorgt war – und alle Menschen lediglich zwei bis vier Stunden am Tag für gesellschaftlich sinnvolle und notwendige Arbeit aufwendeten. Ihr Roman Moving the Mountain spielte 1940 und hatte nichts von Science-Fiction an sich, sondern sollte die Menschen anregen, darüber nachzudenken, wie Freiheit und Glück zu verwirklichen seien. Die Produktivität war auch damals in den USA schon hoch, allerdings auch der Militärhaushalt, der eben nicht den Menschen diente. Gilman behauptete, dass allein diese Gelder eine stabile Grundlage für die Transformation der Gesellschaft schaffen können, dazu kämen enorme Einsparungen, wenn die Menschen gesünder und friedlicher leben, gute Bildung und Sorge-Arbeit höchste Priorität genießen. Dass Profitstreben in ihrer Utopie verpönt ist, vereint sie mit Keynes (die Liebe zum Geld ist abscheulich) und übrigens auch mit vielen Menschen der heute jüngeren Generation, die Kooperation und Teilen höher bewerten als die Gier nach Reichtum. Die freie Zeit, die ein kurzer Arbeitstag schafft, ermöglicht es den Menschen, sich um ihre Gemeinschaften und um die Natur zu kümmern und als aktive Bürger wirksam zu sein. Das wirkt der genannten Sinnkrise entgegen. Die Gesellschaft sind wir, heißt es bei Gilman, und möglich wird dieses demokratische Miteinander durch überschaubare Strukturen, in der der einzelne Mensch zählt und nicht in einer anonymen Masse verschwindet. Dass Gilmans Utopie auch grundsätzlich auf der gleichberechtigten Mitwirkung der Frauen beruht – dieser Gedanke brachte sie erst dazu, sich mit ihrer Utopie zu befassen – und auf der ganz anderen care-basierten Sichtweise, die Frauen auf Gesellschaft haben, ist ein weiterer Punkt, über den sich nachzudenken lohnt.
Eine Verkürzung der Arbeitszeit muss also eingebettet sein in eine umfassende Transformation der Gesellschaft – weg von der Konsum- hin zu einer solidarischen Gesellschaft des Miteinander und des Teilens. Natürlich dient die Forderung der GDL dazu, dass krankmachende Arbeitsbedingungen gemildert werden, und ihre Durchsetzung wäre ein erster Schritt zu einer gerechteren Gesellschaft, aber der notwendige Umbau einer insgesamt kranken Gesellschaft erfordert mehr. Gilman benennt einen Schlüsselsatz: wir denken anders, der Mensch besinnt sich auf die Grundlagen eines guten Lebens, das nicht vornehmlich über Geld definiert wird. Diesen Bewusstseinswandel müssen wir erreichen, das kann die GDL nicht allein.
Politische Utopien wie Gilmans Moving the Mountain, die die Sehnsucht nach einer gerechten und solidarischen Gesellschaft nähren, können ein Schritt auf diesem Weg sein.