Die Bilanzbuchhalterin Beate S. arbeitet wieder. Nach 18 Monaten juristischer Auseinandersetzungen ist sie am 5. Juli wieder an ihren Arbeitsplatz zurückgekehrt. Der dreiste Versuch des hannoverschen Medienkonzerns Madsack, die langjährige Betriebsrätin und zeitweilige Betriebsratsvorsitzende der zum Konzern gehörenden Mediendienstleistungsgesellschaft mbH (MDG) fristlos zu feuern, ist krachend gescheitert. Alle drei gerichtlichen Instanzen, das Arbeitsgericht Hannover, das Landesarbeitsgericht Niedersachsen und das Bundesarbeitsgericht, das das Verfahren erst gar nicht annahm, haben den Versuch des Arbeitgebers zurückgewiesen, die unbequeme Betriebsrätin wegen einer Lappalie auf die Straße zu setzen.
Das Kündigungsbegehren der MDG-Geschäftsführung hatte Beate S. zum Jahresbeginn 2018 wie ein Blitz aus heiterem Himmel getroffen. Die MDG warf ihr vor, im Rahmen der zuvor abgehaltenen Betriebsratswahl »Wahlwerbung auf Kosten des Arbeitgebers« betrieben zu haben. Sie habe sich Briefmarken im Wert von 3,60 Euro erschlichen, als sie Werbematerial ihrer Wahlliste in die Hauspost gab, in der Annahme, der Kurierdienst der Firma würde die Unterlagen zu den Beschäftigten in der MDG-Außenstelle in Potsdam transportieren. Dass die Briefe dann bei der konzerneigenen Citipost landeten und dort frankiert und versendet wurden, damit hatte sie nicht gerechnet. Ihr Angebot, zusammen mit den anderen Betriebsrats-Kandidatinnen ihrer von der Gewerkschaft ver.di unterstützten Wahlliste der MDG den entstandenen Schaden zu ersetzen, wurde ignoriert.
Der finanzielle Schaden für den Madsack-Konzern ist nun ungleich höher. Denn die Arbeitsgerichte urteilten, eine fristlose Kündigung von arbeitsrechtlich besonders geschützten Betriebsräten – im Arbeitgeber-Jargon »Unkündbare« genannt – sei zwar grundsätzlich auch wegen Bagatelldelikten möglich. Sie verwiesen auf den Fall der Tengelmann-Kassiererin Barbara Emme (»Emmely-Fall«): Die Berlinerin hatte zwei Pfandflaschen-Bons im Wert von 1,30 Euro, die nicht ihr gehörten, eingelöst und war fristlos gekündigt worden.
Das Bundesarbeitsgericht aber hatte bei »Emmely« im Juni 2010 seine bis dato in solchen Fällen arbeitnehmerfeindliche Haltung korrigiert und die Kündigung für unverhältnismäßig und unwirksam erklärt. Bei Bagatellvorwürfen müsse eine Interessenabwägung erfolgen, die unterschlagenen Bons rechtfertigten keinen Rauswurf nach 31 Jahren Beschäftigung.
So urteilten die Arbeitsrichter auch im Fall von Beate S.: Der ihr gemachte Vorwurf sei nicht schwerwiegend genug, um die Bilanzbuchhalterin nach fast 30 Jahren im Betrieb fristlos zu kündigen. Im Übrigen habe Beate S. nicht für sich privat gehandelt, sondern als Mitglied im Wahlvorstand für ihre Betriebsratsliste.
Die Gewerkschaft ver.di, die ihrem Mitglied Beate S. mit Rechtsschutz beisteht, vermutet als eigentlichen Grund für die Attacke des Arbeitgebers langjährige Auseinandersetzungen um die Betriebsratstätigkeit von Beate S. und um deren Tätigkeit in der Prüfungskommission der Industrie- und Handelskammer. Für diese Prüfungskommission muss der Arbeitgeber die Bilanzbuchhalterin an circa acht Tagen im Jahr von der Arbeit in der MDG freistellen – und zwar unter Fortzahlung ihrer Bezüge. Denn für Beate S. gelten – anders als für die meisten anderen MDG-Beschäftigten – die Tarifverträge des Zeitungsverlagsgewerbes und der Druckindustrie. Sie hatte vor rund 25 Jahren, als die Geschäftsführung des Madsack-Konzerns die Buchhaltung aus der Mutterfirma des Konzerns in die tariflose MDG ausgelagerte, ihren Tarifschutz nach § 613 a BGB arbeitsrechtlich mitgenommen und bekommt deshalb heute als tarifgebundene »Altbeschäftigte« in der MDG im Monatsschnitt rund 1000 Euro mehr Lohn als ihre KollegInnen, die die gleiche Arbeit tariflos billiger verrichten und die zudem 40 lange Wochenstunden schuften müssen, während für Beate S. gemäß des Manteltarifvertrags für die Angestellten der Druckindustrie die 35-Stunden-Woche gilt. Zudem stehen ihr weiterhin nach § 613 a BGB im Gegensatz zu den nach dem Betriebsübergang eingestellten MitarbeiterInnen die im Jahr 2000 für Neubeschäftigte gestrichenen Altersversorgungsansprüche der Mutterfirma des Madsack-Konzerns weiterhin zu.
Da kann es wohl nicht verwundern, wenn eine Geschäftsführung, die angehalten ist, Höchstprofite für die Konzernbilanz zu erwirtschaften, auf Mittel und Wege sinnt, um ihre Kosten für die Ware Arbeitskraft zu drücken.
Die MDG-Geschäftsführung hat denn auch nach ihrem gerichtlichen Desaster den Versuch nicht aufgegeben, die tarif- und nach § 613 a BGB geschützte Buchhalterin loszuwerden: Kurz bevor diese Anfang Mai ihre Stelle in der MDG wieder antreten wollte, wurde Beate S. an einem späten Freitagnachmittag zu Hause von einem Anruf aus der MDG-Geschäftsführung überrascht, die mit ihr – unter rechtswidriger Umgehung ihres Anwalts – über einen Aufhebungsvertrag und über eine Abfindung reden wollte. Für eine Vertragsauflösung zum Ende dieses Jahres bot die MDG 100.000 Euro brutto an.
Doch Beate S. hat sich nicht locken lassen. Sowohl die Agentur für Arbeit als auch ihr Anwalt Walter Lübking rieten ihr von dem Deal ab: »Meine Mandantin hätte eine Sperre beim Arbeitslosengeld bekommen, hätte Steuern und Krankengeld nachzahlen müssen und wäre das Risiko eingegangen, sich mit 57 Jahren einen neuen Arbeitsplatz suchen [zu] müssen; ihre Chancen auf dem Arbeitsmarkt auf einen neuen unbefristeten und tarifgeschützten Arbeitsplatz sei[en] auch nach Auffassung der Bundesanstalt für Arbeit gleich Null«, erläutert Lübking.
Er hat mit diesem eigentlich abgeschlossenen Fall weiter viel zu tun: Um einen Auflösungsvertrag zu verhandeln, hat die MDG-Geschäftsführung zweimal hintereinander verfügt, dass Beate S. ihre Arbeit nicht wieder aufnehmen durfte, sondern davon »freigestellt« wurde.
Ein »rechtwidriges Verhalten«, wie Lübking der MDG unter Verweis auf die einschlägige BAG-Rechtsprechung vorhielt. Es sei »heute unstreitige Rechtsauffassung, dass der Arbeitgeber im Rahmen des bestehenden Arbeitsvertrages verpflichtet ist, den Arbeitnehmer vertragsgemäß zu beschäftigen«, schrieb er dem Madsack-Anwalt.
Vermutlich geht der Fall demnächst erneut vor Gericht, denn die MDG hat die Freistellungen von Beate S. auch unter rechtswidriger Anrechnung von Urlaubstagen verfügt. Wegen dieser Verletzung von Persönlichkeitsrechten seiner Mandantin und der Verletzung der Beschäftigungs- und Fürsorgepflicht durch den Arbeitgeber hat Lübking gegenüber der MDG inzwischen Schadenersatz- und Schmerzensgeldansprüche für Beate S. geltend gemacht.
Skandal im Skandal: Der amtierende Betriebsrat der MDG hat sich anlässlich des Kündigungsbegehrens der MDG nicht vor Beate S. gestellt, sondern dem Begehren zugestimmt, und er hat weder damals noch seit der Rechtskraft des BAG-Beschlusses im März 2019, noch seit ihrer Rückkehr in den Betrieb das Gespräch mit ihr gesucht beziehungsweise sie als erstes Ersatzmitglied des Betriebsrates wieder zu einer Sitzung des BR eingeladen.