Werner Rügemer legt eine neue umfang- und detailreiche Studie zum großen – von der Politik weitgehend ausgeblendeten – Thema Arbeitsunrecht in der Europäischen Union vor. Und er holt weit aus, um deutlich zu machen, dass es sich dabei keineswegs um ein bedauerliches Defizit im System handelt, sondern um einen der Grundpfeiler des neoliberalen Kapitalismus selbst, dessen katastrophale Folgen gerade jetzt in Corona-Zeiten deutlich werden.
Daher rekapituliert er auf den ersten 120 von gut 300 Seiten (mit 579 Fußnoten und Quellenangaben) die »geopolitische Rahmengestaltung« der Entstehung der EU und ihre Entwicklung im Einzelnen seit den ersten Ansätzen vor gut hundert Jahren, damals als Antwort gegen die junge Sowjetunion konzipiert, als die führenden westlichen Länder schon die Gefahr einer »Bolschewisierung« als existenzbedrohend empfanden. Der erste Versuch zur Schaffung eines europäischen Wirtschaftsraumes unter deutscher Führung scheiterte zunächst an der nationalsozialistischen Verwüstung desselben.
Nach dem alliierten Sieg 1945 über Deutschland hofften die Völker dann endlich auf die Schaffung der Bedingungen für einen stabilen Frieden. Noch während des Krieges war eine ganze Reihe von Vorschlägen für eine politische Vereinigung Europas entstanden, zum Beispiel das Manifest von Ventotene. Namhafte italienische Antifaschisten hatten 1941 in der Verbannung auf der gleichnamigen Insel im Mittelmeer eine föderalistische und sozialistische Nachkriegsordnung entworfen. Einer von ihnen, Altiero Spinelli, wurde zwar später ein renommierter EG-Politiker, doch aus der sozialistischen Föderation Europas wurde bekanntlich nichts, denn auch nach 1945 wurde die sogenannte Systemauseinandersetzung im Kalten – wie im heißen – Krieg fortgesetzt, und die politische Stoßrichtung des nun explizit atlantisch orientierten Europas blieb im Wesentlichen unverändert: gegen die Sowjetunion und seit 1991 bis heute weiter gegen Russland.
Rügemer unterstreicht die entscheidende Rolle der USA als europäische Ordnungsmacht bei der Schaffung des antikommunistischen Elitenprojektes Europa – vom Marshallplan bis zur Ausgestaltung der europäischen Organisationen. Er geht ein auf die Entwicklung von Montan- und Atomunion zur Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) und auf deren West-, Süd- und Osterweiterung – immer in enger Anlehnung an die NATO. Grundlage blieben die kapitalistische Produktionsweise und die tradierte Gesellschaftsstruktur mit all ihren antagonistischen Widersprüchen, Einschränkungen demokratischer Freiheiten (mit Ausnahme der Konsum-Freiheit – sofern das nötige Geld vorhanden) und der propagandistischen Verdrängung der Klassengegensätze bei fortschreitender realer Spaltung in Reiche und immer mehr Arme.
Der Autor beschreibt auch die direkten rechtlichen Instrumente, die die heutige Kapital-Bürokratie und ihre dominierenden Akteure in der EU nach und nach kodifiziert haben, über die Privatisierungen, die Freihandelsverträge, die Beihilfen an Unternehmen und die vielen Subventionen ohne Auflagen für Arbeitsrechte. Denn letztere haben eben keine kollektive Geltung in der EU und widersprechen sogar explizit den von der UNO definierten Menschenrechten: eine lange Geschichte mit vielen Leidensstationen.
Als Beispiel sei nur die jüngste Europäische Säule Sozialer Rechte (ESSR) zitiert, die 2017 in Göteborg verabschiedet wurde, um der »mit hoher Arbeitslosigkeit, grassierender Armut und schwacher Wirtschaft größten Krise seit Generationen« besonders in Südeuropa gegenzusteuern, wie Kommissionspräsident Juncker es ausdrückte. (S. 170) Die 20 vage formulierten und unverbindlichen – da nicht einklagbaren – Rechte wurden durch die Richtlinie 2019/1152 umgesetzt, die »einen breiten persönlichen Anwendungsbereich« vorsieht: »Er soll sicherstellen, dass alle Arbeitnehmer/innen in allen Beschäftigungsverhältnissen – selbst in den flexibelsten atypischen und neuen Formen wie Null-Stunden-Verträge, Gelegenheitsarbeit, Hausarbeit, Arbeit auf der Grundlage von Gutscheinen oder Arbeit über Plattformen – in den Genuss dieser Rechte kommen.« Hier fehlt die Erwähnung kollektiver Arbeits-, Tarif- und Gewerkschaftsrechte, wie Mitbestimmung und Belegschaftsvertretung, ebenso wie das Recht auf kostenlose Bildung, bezahlbares Wohnen und eine menschenwürdige Rente.
Die Rentenfrage soll in der EU eher von BlackRock und anderen Fondsgesellschafen gelöst werden, die bereits in den USA über einen erheblichen Marktanteil an der privaten Altersvorsorge verfügen, unter anderem durch den Verkauf der BlackRock-»Volksaktie« ETF. Auf Vorschlag der EU-Kommission beschlossen Rat und Parlament schon 2016 eine entsprechende Verordnung zum Paneuropean Private Pension Product (PEPP), die deren Kauf in den Mitgliedsländern steuerlich subventionieren soll.
Auch die diversen EU-Organisationen zur »operativen Umsetzung des ArbeitsUnrechts« werden von Rügemer kritisch durchleuchtet: von dem von ihm als SoftPower definierten Europäischen Sozialfonds (ESF) aus dem Jahre 1957 bis zur European Labour Authority (2018) mit Sitz in Bratislava, die den »Markt der auf 17,5 Millionen geschätzten ArbeitsmigrantInnen zwischen den EU-Staaten« regeln soll, die aus Nicht-EU-Staaten bleiben sowieso außen vor.
Das, was kürzlich beim lange durch die EU subventionierten Schlachtkonzern Tönnies anlässlich der Corona-Infektionen zutage getreten ist – die berüchtigten »Werkverträge« mit »Tagesschichten von über 16 Stunden, nicht eingehaltenen Pausen- und Ruhezeiten, entfernten Schutzeinrichtungen« und so weiter (S. 175) – macht den Raubbau an Arbeitskräften sichtbar, den die reicheren EU-Staaten an den ärmeren von jeher betreiben. Diese suchen dann ihrerseits »in noch ärmeren Regionen der Erde neue Niedriglöhner mit noch niedrigeren Niedriglöhnen«, die Spirale lässt sich fortsetzen. »Das von der EU geduldete Arbeitsregime ist hart. Die einheimischen Unternehmer werden gegeneinander ausgespielt, dürfen sich selbst mäßig bereichern, die Arbeitsaufsicht funktioniert nicht …« (S. 180) Die Mindestlöhne, die durch die geplante Einführung eines europäischen Standards zumindest das Image der EU aufbessern sollen, liegen derzeit bei 1,72 Euro in Bulgarien und 11,97 Euro in Luxemburg – an solchen Unterschieden soll im Prinzip nichts geändert werden.
Das brisante Thema der Lohnhöhe, die heute immer weiter von der Produktivität der Arbeit abgekoppelt wird, wirft das Problem einer dringend nötigen Überwindung der machtgestützten, leistungslosen Aneignung des wachsenden Mehrwerts aus der ausgebeuteten Arbeit auf!
Das systemische Arbeitsunrecht für die arbeitende Klasse und die perspektivischen Einschränkungen der Mittelklasse haben inzwischen auch den Abstieg jener »Volks«-Parteien befördert, die ihre populistischen Versprechen – auf Arbeit und Wohlstand für alle in der EU, auf Demokratie und Frieden – nicht erfüllt haben. EU-Kapitalisten und ihre Leitmedien »rümpfen zwar die Nase über Rüpel wie Donald Trump oder Boris Johnson, aber diese sind ihnen ungleich lieber als die demokratischen Alternativen wie Corbyns Labour Party in Großbritannien, Bernie Sanders in den USA, La France Insoumise in Frankreich oder Podemos in Spanien«. Und hier sieht Rügemer das eigentliche Problem der EU: »Die demokratischen Kräfte sind (noch) nicht stark genug für den Wechsel« (S. 47), aber er stellt fest, sie bereiten sich vor, wenn auch noch unkoordiniert. Zwar versuchen die Vertreter der alten Ordnung, schon die kleinen Aufbrüche zu ersticken, sofern sich diese nicht neutralisieren oder integrieren lassen, doch erkennt Rügemer in den Protestaktionen zukünftige Möglichkeiten.
Solche vielfältigen defensiven »Aufbrüche gegen Ausbeutung und Entrechtung« in Europa beschreibt er im zweiten Teil seiner Studie: Die »Lage der arbeitenden Klasse in der EU« wird mit einer langen Reihe von Fallbeispielen aus etlichen Staaten beleuchtet. Dabei kommen auch AktivistInnen, GewerkschafterInnen und AutorInnen zu Wort, die schon seit langem für die Durchsetzung von Menschenrechten in der Arbeitswelt kämpfen. Und dass Corona alle am Produktionsprozess Beteiligten in dieser Perspektive zu einem radikalen Umdenken zwingen muss, verdeutlicht nicht zuletzt die Lektüre dieses Buches.
Ein Glossar und ein reiches Literaturverzeichnis machen es zu einem wichtigen Arbeitsinstrument.
Werner Rügemer: »Imperium EU. ArbeitsUnrecht, Krise, neue Gegenwehr«, PapyRossa, 329 Seiten, 19,90 €