In den 70er und 80er Jahren des vorigen Jahrhunderts gab es in Deutschland eine beachtenswerte literarische und gesellschaftspolitische Entwicklung. Zunächst war es die Gruppe 61 mit Max von der Grün, die ab dem Jahr 1961 die Probleme der Arbeitswelt in Romanen behandelte. Später waren es die Texte zahlreicher Werkstätten der Arbeitskreise Literatur der Arbeitswelt, die im Fischer Taschenbuchverlag sehr erfolgreich publiziert wurden. Ich erinnere mich etwa an die Titel »Der rote Großvater erzählt«, »Vertrauensleute berichten«, »Wir lassen uns nicht verschaukeln«, oder der Roman zum Frauenstreik bei Pierburg »Elefteria oder die Reise ins Paradies«. An die dreißig Bände, die die ganze Themenproblematik der Arbeit, des Lebens von Frauen und Männern in abhängiger Beschäftigung abdeckten. Deutsche und österreichische Literaturhäuser, denen ich angeboten hatte, sich doch endlich mit der Geschichte des Werkkreises und der dort schreibenden Autorinnen und Autoren zu beschäftigen, ergab das, was die heutige Bestsellerkompetenz in Druck, Wort und Fernsehen zu bieten hat: NULL Reaktion. Der Herr D. Scheck, der sich leider nie selbst auf dieses Rollenband setzt, über das er Bücher entsorgt, die ihm nicht gefallen, rät: »Ein Roman, der von der alles verzehrenden Liebe eines 49-jährigen Tierarztes zu einer 14-jährigen Bauerstochter erzählt. Große Kunst, schwer auszuhalten.« Diese Art von Buchkritik grenzt fast schon an Kulturmord! Die Arbeitswelt und deren Literatur hält der Buchfließbandmörder gar nicht aus. Ist ihm das zu schwer?
In der Literatur kommt das Thema Arbeit kaum vor, und Mensch denkt, diese nichtunsere Gesellschaftsordnung hat Arbeit nicht nötig. Falsch gedacht! In der Literatur wird heute, ob im Berchtesgadener Gesinnungsmorast mit Königsseeecho oder in Schleswig-Holsteins Fischerdörfern, fleißig gemordet, der »lokale« Krimi feiert Urständ, dazu werden auch noch täglich im öffentlich-rechtlichen Fernsehen Lebendige zu Tode gebracht. Kurz und gut, die Literatur entfernt sich immer weiter von jenem Thema, das eigentlich immer wichtiger werden sollte. Der Grundwiderspruch zwischen abhängiger Beschäftigung und der – tatsächlich Tag für Tag reicher werdenden – »Gesellschaft«, die über die Produktionsmittel verfügt, findet in der Literatur nicht statt
In der letzten Ausgabe im Jahre 1933, der Wochenzeitschrift Die Weltbühne, dann wie alle anderen nicht der NSDAP zugehörigen Blätter, entweder inhaltlich gleichgestellt oder verboten, erschien am 28.2.1933 folgende Bemerkung: »Deutsch für Deutsche Wir wollen den Aasgeier des Marxismus mit Stumpf und Stiel ausrotten! Aus einem Wahlplakat der NSDAP.«
Passt das nicht zu jenem Wahlplakat mit dem die nationalistisch reaktionäre österr. FPÖ Wahlwerbung betrieb? »Daham statt Islam!« Das »Daham« wird und bleibt für viele unbezahlbar! Findet da Literatur statt? Gibt es auf den Krimibestsellerlisten den Titel »Mieterbundfunktionärsmord« oder »Untermieterinmord«? Nein, da schwimmt lieber irgendeine Leiche im Leopoldskroner Weiher oder in der Spree, und ein debiler Polizeiapparat unterhält mit Steinzeitermittlungsmethoden und Dialogen, die jede polizeiliche Ermittlungsarbeit diskreditiert.
Der Alltag, durch Corona schon brutal verändert, hat kaum einen Zugang zur Literatur, wir erleben u.a. Symbolpolitik, Konsumanreiz, Arbeitsplatzverlagerungen und einen Selbstoptimierungskult.
Joseph Ponthus, der Autor des Buches »Am laufenden Band-Aufzeichnungen aus der Fabrik«, kam im Jahre 1978 zur Welt. Er studierte Literatur und Sozialarbeit in Reims und Nancy. Nach 10 Jahren Sozialarbeit in den Pariser Vororten zog er in die Bretagne und arbeitete dort fast drei Jahre in Fischfabriken. Joseph Ponthus starb im Februar 2021. Er erlebte in Frankreich noch den Erfolg seiner literarischen Arbeit. Es ist zu befürchten, dass im Dschungel der Literaturkritik dieses Buch keinen Platz findet. Die Kritikschrottproduktion eines literarischen Quartetts mit ihren Protagonistinnen und Protagonisten reicht nicht in jene Welt, in der profitorientiert produziert wird und wo höchstens die Garnele, aber nicht der Mensch im Mittelpunkt steht.
»Ich kenne nur wenige Orte mit einer so
Kompromisslosen existentiellen radikalen Wirkung wie
Griechische Heiligtümer
Gefängnisse
Inseln
Und die Fabrik
Kommt man heraus
Weiß man nicht kehrt man zurück in die echte Welt oder verlässt
Man sie
Obwohl man weiß eine echte Welt gibt es nicht
Aber egal«
Joseph Ponthus ist im Jahre 2021 an Krebs gestorben. In Frankreich ist sein Buch noch zu Lebzeiten erschienen. Die deutsche Übersetzung haben Mira Lina Simon und Claudia Hamm zu verantworten. Sie haben großartige Arbeit geleistet. Arbeitswelt, dazu Tagebucheiträge sind Bestandteile eines außergewöhnlichen Romans. Ein Manifest der Solidarität.
Auf insgesamt 237 Seiten wird die Geschichte eines Zeitarbeiters in Fischfabriken und Schlachthöfen erzählt. Ponthus wählt eine einfache und mitfühlsame Sprache, um den Arbeitsalltag in die Realität zu holen. Monotonie, Schichtarbeit, Gestank, Kälte, körperliche Erschöpfung und dazu das brutale Töten von Tieren. Da hilft die helfende Solidarität der anderen Beschäftigten, während das Fließband läuft und Tonnen Wellhornschnecken verzehrfertig gemacht werden. Es bedarf anderer Gedanken, und so gibt es Erinnerungen, Trost mit Marx im Kampf gegen die ungehemmten Brutalitäten des Kapitalismus.
Dieser Roman in Versen beschreibt die Fabrikarbeit, die moderne Sklaverei in einer Lebensmittelindustrie, bei der nach Lektüre von LeserinLeser der Appetit auf Garnelen und anderes Fischiges sicherlich restlos vergangen sein wird! Hier verbeugt sich ein Autor vor jeder Arbeiterklasse, die in dieser nichtunseren Gesellschaft oft keinen Platz mehr hat.
Garnelen putzen, sortierten, Schweinehälften verladen und die Fabrikhallen reinigen:
»Ich komme mit meinem Schlauch
Alles ist rot vom Blut und weiß vom Fett«.
Ponthus hinterlässt ein einzigartiges lyrisches Sachbuch: In klaren Sätzen mit wahrer Realität schafft er ein Gedicht als Roman über eine Welt, von der viele glauben, es gäbe sie nicht mehr. Einschaltquotenkulturmentalität, inkompetente Literaturkritikerinnen und Kritiker, dazu eine »Nachrichtenwelt«, in der Börsenkursberichte mehr zählen als die täglichen Arbeitsabläufe, die noch immer bestätigen, dass die Demokratie vor den Fabriktoren endet. Dieses Buch hat auf der SPIEGEL Bestsellerliste nichts verloren, aber es sollte Pflichtlektüre werden im Schulunterricht, damit klar wird, wie Arbeit und Literatur zusammengehören!
Josef Ponthus: Am laufenden Band – Aufzeichnungen aus einer Fabrik, Matthes & Seitz Verlag, Berlin 2021, 292 S., 22 €.