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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Arbeit in der Bestsellerlistenkultur

In den 70er und 80er Jah­ren des vori­gen Jahr­hun­derts gab es in Deutsch­land eine beach­tens­wer­te lite­ra­ri­sche und gesell­schafts­po­li­ti­sche Ent­wick­lung. Zunächst war es die Grup­pe 61 mit Max von der Grün, die ab dem Jahr 1961 die Pro­ble­me der Arbeits­welt in Roma­nen behan­del­te. Spä­ter waren es die Tex­te zahl­rei­cher Werk­stät­ten der Arbeits­krei­se Lite­ra­tur der Arbeits­welt, die im Fischer Taschen­buch­ver­lag sehr erfolg­reich publi­ziert wur­den. Ich erin­ne­re mich etwa an die Titel »Der rote Groß­va­ter erzählt«, »Ver­trau­ens­leu­te berich­ten«, »Wir las­sen uns nicht ver­schau­keln«, oder der Roman zum Frau­en­streik bei Pier­burg »Elef­te­ria oder die Rei­se ins Para­dies«. An die drei­ßig Bän­de, die die gan­ze The­men­pro­ble­ma­tik der Arbeit, des Lebens von Frau­en und Män­nern in abhän­gi­ger Beschäf­ti­gung abdeck­ten. Deut­sche und öster­rei­chi­sche Lite­ra­tur­häu­ser, denen ich ange­bo­ten hat­te, sich doch end­lich mit der Geschich­te des Werk­krei­ses und der dort schrei­ben­den Autorin­nen und Autoren zu beschäf­ti­gen, ergab das, was die heu­ti­ge Best­sel­ler­kom­pe­tenz in Druck, Wort und Fern­se­hen zu bie­ten hat: NULL Reak­ti­on. Der Herr D. Scheck, der sich lei­der nie selbst auf die­ses Rol­len­band setzt, über das er Bücher ent­sorgt, die ihm nicht gefal­len, rät: »Ein Roman, der von der alles ver­zeh­ren­den Lie­be eines 49-jäh­ri­gen Tier­arz­tes zu einer 14-jäh­ri­gen Bau­erstoch­ter erzählt. Gro­ße Kunst, schwer aus­zu­hal­ten.«  Die­se Art von Buch­kri­tik grenzt fast schon an Kul­tur­mord! Die Arbeits­welt und deren Lite­ra­tur hält der Buch­fließ­band­mör­der gar nicht aus. Ist ihm das zu schwer?

In der Lite­ra­tur kommt das The­ma Arbeit kaum vor, und Mensch denkt, die­se nich­tun­se­re Gesell­schafts­ord­nung hat Arbeit nicht nötig. Falsch gedacht! In der Lite­ra­tur wird heu­te, ob im Berch­tes­ga­de­ner Gesin­nungs­mo­rast mit Königs­see­echo oder in Schles­wig-Hol­steins Fischer­dör­fern, flei­ßig gemor­det, der »loka­le« Kri­mi fei­ert Urständ, dazu wer­den auch noch täg­lich im öffent­lich-recht­li­chen Fern­se­hen Leben­di­ge zu Tode gebracht. Kurz und gut, die Lite­ra­tur ent­fernt sich immer wei­ter von jenem The­ma, das eigent­lich immer wich­ti­ger wer­den soll­te. Der Grund­wi­der­spruch zwi­schen abhän­gi­ger Beschäf­ti­gung und der – tat­säch­lich Tag für Tag rei­cher wer­den­den – »Gesell­schaft«, die über die Pro­duk­ti­ons­mit­tel ver­fügt, fin­det in der Lite­ra­tur nicht statt

In der letz­ten Aus­ga­be im Jah­re 1933, der Wochen­zeit­schrift Die Weltbühne, dann wie alle ande­ren nicht der NSDAP zuge­hö­ri­gen Blät­ter, ent­we­der inhalt­lich gleich­ge­stellt oder ver­bo­ten, erschien am 28.2.1933 fol­gen­de Bemer­kung:  »Deutsch für Deut­sche Wir wol­len den Aas­gei­er des Mar­xis­mus mit Stumpf und Stiel aus­rot­ten! Aus einem Wahl­pla­kat der NSDAP

Passt das nicht zu jenem Wahl­pla­kat mit dem die natio­na­li­stisch reak­tio­nä­re österr. FPÖ Wahl­wer­bung betrieb? »Daham statt Islam!« Das »Daham« wird und bleibt für vie­le unbe­zahl­bar! Fin­det da Lite­ra­tur statt? Gibt es auf den Kri­mi­best­sel­ler­li­sten den Titel »Mie­ter­bund­funk­tio­närs­mord« oder »Unter­mie­te­rin­mord«? Nein, da schwimmt lie­ber irgend­ei­ne Lei­che im Leo­polds­kro­ner Wei­her oder in der Spree, und ein debi­ler Poli­zei­ap­pa­rat unter­hält mit Stein­zeit­er­mitt­lungs­me­tho­den und Dia­lo­gen, die jede poli­zei­li­che Ermitt­lungs­ar­beit diskreditiert.

Der All­tag, durch Coro­na schon bru­tal ver­än­dert, hat kaum einen Zugang zur Lite­ra­tur, wir erle­ben u.a. Sym­bol­po­li­tik, Kon­sum­an­reiz, Arbeits­platz­ver­la­ge­run­gen und einen Selbstoptimierungskult.

Joseph Pon­thus, der Autor des Buches »Am lau­fen­den Band-Auf­zeich­nun­gen aus der Fabrik«, kam im Jah­re 1978 zur Welt. Er stu­dier­te Lite­ra­tur und Sozi­al­ar­beit in Reims und Nan­cy. Nach 10 Jah­ren Sozi­al­ar­beit in den Pari­ser Vor­or­ten zog er in die Bre­ta­gne und arbei­te­te dort fast drei Jah­re in Fisch­fa­bri­ken. Joseph Pon­thus starb im Febru­ar 2021. Er erleb­te in Frank­reich noch den Erfolg sei­ner lite­ra­ri­schen Arbeit. Es ist zu befürch­ten, dass im Dschun­gel der Lite­ra­tur­kri­tik die­ses Buch kei­nen Platz fin­det. Die Kri­tik­schrott­pro­duk­ti­on eines lite­ra­ri­schen Quar­tetts mit ihren Prot­ago­ni­stin­nen und Prot­ago­ni­sten reicht nicht in jene Welt, in der pro­fit­ori­en­tiert pro­du­ziert wird und wo höch­stens die Gar­ne­le, aber nicht der Mensch im Mit­tel­punkt steht.

»Ich ken­ne nur weni­ge Orte mit einer so

Kom­pro­miss­lo­sen exi­sten­ti­el­len radi­ka­len Wir­kung wie

Grie­chi­sche Heiligtümer

Gefäng­nis­se

Inseln

Und die Fabrik

Kommt man heraus

Weiß man nicht kehrt man zurück in die ech­te Welt oder verlässt

Man sie

Obwohl man weiß eine ech­te Welt gibt es nicht

Aber egal«

Joseph Pon­thus ist im Jah­re 2021 an Krebs gestor­ben. In Frank­reich ist sein Buch noch zu Leb­zei­ten erschie­nen. Die deut­sche Über­set­zung haben Mira Lina Simon und Clau­dia Hamm zu ver­ant­wor­ten. Sie haben groß­ar­ti­ge Arbeit gelei­stet. Arbeits­welt, dazu Tage­buch­ei­trä­ge sind Bestand­tei­le eines außer­ge­wöhn­li­chen Romans. Ein Mani­fest der Solidarität.

Auf ins­ge­samt 237 Sei­ten wird die Geschich­te eines Zeit­ar­bei­ters in Fisch­fa­bri­ken und Schlacht­hö­fen erzählt. Pon­thus wählt eine ein­fa­che und mit­fühl­sa­me Spra­che, um den Arbeits­all­tag in die Rea­li­tät zu holen. Mono­to­nie, Schicht­ar­beit, Gestank, Käl­te, kör­per­li­che Erschöp­fung und dazu das bru­ta­le Töten von Tie­ren. Da hilft die hel­fen­de Soli­da­ri­tät der ande­ren Beschäf­tig­ten, wäh­rend das Fließ­band läuft und Ton­nen Well­horn­schnecken ver­zehr­fer­tig gemacht wer­den. Es bedarf ande­rer Gedan­ken, und so gibt es Erin­ne­run­gen, Trost mit Marx im Kampf gegen die unge­hemm­ten Bru­ta­li­tä­ten des Kapitalismus.

Die­ser Roman in Ver­sen beschreibt die Fabrik­ar­beit, die moder­ne Skla­ve­rei in einer Lebens­mit­tel­in­du­strie, bei der nach Lek­tü­re von Leser­in­Le­ser der Appe­tit auf Gar­ne­len und ande­res Fischi­ges sicher­lich rest­los ver­gan­gen sein wird! Hier ver­beugt sich ein Autor vor jeder Arbei­ter­klas­se, die in die­ser nich­tun­se­ren Gesell­schaft oft kei­nen Platz mehr hat.

Gar­ne­len put­zen, sor­tier­ten, Schwei­ne­hälf­ten ver­la­den und die Fabrik­hal­len reinigen:

»Ich kom­me mit mei­nem Schlauch

Alles ist rot vom Blut und weiß vom Fett«.

Pon­thus hin­ter­lässt ein ein­zig­ar­ti­ges lyri­sches Sach­buch: In kla­ren Sät­zen mit wah­rer Rea­li­tät schafft er ein Gedicht als Roman über eine Welt, von der vie­le glau­ben, es gäbe sie nicht mehr. Ein­schalt­quo­ten­kul­tur­men­ta­li­tät, inkom­pe­ten­te Lite­ra­tur­kri­ti­ke­rin­nen und Kri­ti­ker, dazu eine »Nach­rich­ten­welt«, in der Bör­sen­kurs­be­rich­te mehr zäh­len als die täg­li­chen Arbeits­ab­läu­fe, die noch immer bestä­ti­gen, dass die Demo­kra­tie vor den Fabrik­to­ren endet. Die­ses Buch hat auf der SPIEGEL Best­sel­ler­li­ste nichts ver­lo­ren, aber es soll­te Pflicht­lek­tü­re wer­den im Schul­un­ter­richt, damit klar wird, wie Arbeit und Lite­ra­tur zusammengehören!

Josef Pon­thus: Am lau­fen­den Band – Auf­zeich­nun­gen aus einer Fabrik, Matthes & Seitz Ver­lag, Ber­lin 2021, 292 S., 22 €.