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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Apropos Völkerrecht: Nato-Krieg gegen Serbien

Acht­und­sieb­zig Tage lang bom­bar­dier­te die Nato 1999 ohne UNO-Man­dat ser­bi­sche Kran­ken­häu­ser, Schu­len, Was­ser­wer­ke und Che­mie­be­trie­be. Die­ser erste Angriffs­krieg mit deut­scher Betei­li­gung seit 1945 führ­te zu einer öko­lo­gi­schen und huma­nen Kata­stro­phe. Doch Kir­chen, Umwelt­ver­bän­de und Bünd­nis 90/​Die Grü­nen schwei­gen bis heute:

Am 24. März 1999 begann die Nato ihren Luft­krieg gegen Ser­bi­en. Aus­ge­rech­net der grü­ne Außen­mi­ni­ster Josch­ka Fischer heiz­te mit sei­nem Kol­le­gen Rudolf Schar­ping die Kriegs­stim­mung an. Um »eth­ni­sche Säu­be­run­gen«, wei­te­re »Ver­trei­bun­gen« und eine »huma­ni­tä­re Kata­stro­phe« zu ver­hin­dern, sei es drin­gend nötig, ein­zu­grei­fen. Die­se Behaup­tun­gen sind längst wider­legt, wie Oberst­leut­nant a.D. Jochen Scholz, ehe­ma­li­ger Refe­rent beim Gene­ral­inspek­teur der Bun­des­wehr im Ver­tei­di­gungs­mi­ni­ste­ri­um schon viel­fach bestä­tig­te. In den Lage­be­rich­ten des Amtes für Nach­rich­ten­we­sen der Bun­des­wehr für die Par­la­ments­ab­ge­ord­ne­ten war bis zum letz­ten Tag vor dem Angriff immer nur von einem blu­ti­gen Bür­ger­krieg zwi­schen UCK-Sol­da­ten und der ser­bi­schen Armee die Rede.

In einem Arte-Film des ORB vom Som­mer 1999 von Sascha Ada­meck mit dem Titel »Bom­ben auf Che­mie­wer­ke« erklär­te der bri­ti­sche Gene­ral und ehe­ma­li­ge Befehls­ha­ber der UN-Schutz­trup­pe in Bos­ni­en, Micha­el Rose: »Das Ziel war, die Mili­tär­ma­schi­ne­rie Miloše­vićs aus­zu­schal­ten und zu zer­stö­ren. Doch das ende­te in einem Miss­erfolg. Dar­auf­hin erwei­ter­te man die Liste der Zie­le auf soge­nann­te zivil­mi­li­tä­ri­sche Zie­le, also Brücken, Stra­ßen, Strom­ver­sor­gung, Kran­ken­häu­ser und sogar Fernsehstationen.«

Die Nato zer­stör­te oder beschä­dig­te 60 Brücken, 110 Kran­ken­häu­ser, 480 Schul­ob­jek­te, 365 Klö­ster, das Fern­seh­zen­trun, die Strom- und Was­ser­ver­sor­gung, 121 Indu­strie­be­trie­be. 2500 Men­schen fan­den den Tod. Als beson­ders zyni­sches Kriegs­ver­bre­chen gilt bis heu­te neben dem Ein­satz von über 30.000 Uran­ge­schos­sen an über 80 Orten die vor­sätz­li­che Bom­bar­die­rung der gro­ßen Che­mie­zen­tren in Panče­vo, Novi Sad und Bor. Am 4. April 1999, zwölf Tage nach Beginn der Luft­schlä­ge, tra­fen zum ersten Mal Rake­ten die Raf­fi­ne­rie von Panče­vo. Das aus­lau­fen­de Öl brann­te zwei Wochen. Am 6. April 1999 grif­fen Lang­strecken­bom­ber die älte­re Ölraf­fi­ne­rie in Novi Sad an. 80.000 Ton­nen Öl lie­fen aus, 20.000 Ton­nen ver­brann­ten. Eine rie­si­ge Wol­ke aus Ruß, Teer, Ölpar­ti­keln, Schwe­fel­di­oxid und Stick­oxi­den lag über der Stadt. Nur ein Bruch­teil davon löste im geset­zes­stren­gen Deutsch­land spä­ter den Die­sel­skan­dal aus und Debat­ten über jähr­li­che Todesopfer.

Am 15. und 18. April 1999 und selbst noch am 8. Juni, kurz vor Waf­fen­still­stand, zer­stör­te die Nato das ser­bi­sche Che­mie­zen­trum in Panče­vo völ­lig. Erst weni­ge Jah­re zuvor war es auch mit US-Hil­fe moder­ni­siert wor­den. Bau­plan­ge­nau tra­fen com­pu­ter­ge­steu­er­te Rake­ten die Dün­ge­mit­tel­fa­brik, die Ölraf­fi­ne­rie, das PVC-Werk und auf den Meter exakt einen noch halb­vol­len Tank mit 450 Ton­nen Vinyl­chlo­rid, dem krebs­er­re­gen­den Vor­pro­dukt für die PVC-Her­stel­lung. Es war einer der Behäl­ter, die die Werk­lei­tung noch als beson­ders gefähr­lich an die Nato gemel­det hat­te. Obwohl vor­sorg­lich noch 8000 Ton­nen Ammo­ni­ak nach Rumä­ni­en trans­por­tiert wor­den waren, ent­wi­chen auch von die­sem töd­li­chen Gas Hun­der­te Tonnen.

So zog eine 20 Kilo­me­ter lan­ge Gift­gas­wol­ke mehr als zehn Tage über die Vor­or­te von Bel­grad in die Gemü­se- und Korn­kam­mern Ser­bi­ens. 40.000 Men­schen wur­den eva­ku­iert. Allein die Kon­zen­tra­ti­on des Vinyl­chlo­rids stieg zeit­wei­se auf das 10.600-Fache des inter­na­tio­na­len Grenz­wer­tes. Als der Wind sich dreh­te, kroch die Wol­ke wei­ter nach Bul­ga­ri­en, Rumä­ni­en, Ungarn. Selbst 550 Kilo­me­ter süd­lich maßen Wis­sen­schaft­ler der grie­chi­schen Uni­ver­si­täts-Sta­ti­on Xan­thi hoch­gif­ti­ge Dioxi­ne und poly­zy­kli­sche aro­ma­ti­sche Kohlenwasserstoffverbindungen.

Schon weni­ge Jah­re nach Kriegs­en­de beob­ach­ten ser­bi­sche Medi­zi­ner wie der füh­ren­de Bel­gra­der Onko­lo­ge Vla­di­mir Čika­rić und die Neu­ro­lo­gin Dani­ca Gru­ji­čić einen dra­ma­ti­schen Anstieg der Krebs­ra­te und Sterb­lich­keit. Heu­te liegt Ser­bi­en bei Lun­gen- und Brust­krebs an der Spit­ze Euro­pas. Erst im Mai 2018 konn­ten Ärz­te im west­ori­en­tier­ten Bel­gra­der Par­la­ment die Grün­dung einer Unter­su­chungs­kom­mis­si­on für alle Fol­gen der Angrif­fe mit Uran­mu­ni­ti­on und auf die Che­mie­in­du­strie durchsetzen.

Für die Toxi­ko­lo­gin Ursu­la Ste­phan aus Halle/​Saale ist die Bom­bar­die­rung der ser­bi­schen Che­mie­be­trie­be bis heu­te ein unge­sühn­ter vor­sätz­li­cher Che­mie­krieg, der Tau­sen­de Opfer von Lang­zeit­schä­den bewusst in Kauf nahm. Als 1999 alle deut­schen Umwelt­ver­bän­de dazu schwie­gen, war Ste­phan Vor­sit­zen­de der deut­schen Stör­fall-Kom­mis­si­on, einer Exper­ten­ver­ei­ni­gung für Sicher­heits­fra­gen der Indu­strie und auch für die Fol­gen und Ver­hü­tung von Che­mie­un­fäl­len. Als ein­zi­ge Fach­per­son in Deutsch­land war sie Ende Juli 1999 auf Wunsch des World Wide Fund For Natu­re (WWF-Büro in Wien) dazu bereit, die zer­stör­ten Che­mie­or­te in Ser­bi­en (einem der über 150 »Welt­zen­tren der bio­lo­gi­schen Viel­falt«) zu besu­chen und ein Gut­ach­ten zu den medi­zi­ni­schen und umwelt­re­le­van­ten Aspek­ten zu erarbeiten.

Fast zeit­gleich unter­such­ten Spe­zia­li­sten der damals von Klaus Töp­fer gelei­te­ten UN-Umwelt­be­hör­de Unep vor Ort die Schä­den der Che­mie­an­grif­fe, dar­un­ter auch Exper­ten vom Lan­des­um­welt­amt Bran­den­burg. Doch sie hiel­ten am Ende in ihrem Bericht den Ball Nato-freund­lich flach und erklär­ten als Fazit ihrer Ana­ly­sen, dass die mei­sten der durch die aus­ge­lau­fe­nen und ver­brann­ten Che­mi­ka­li­en ent­stan­de­nen »Ver­schmut­zun­gen« Alt­la­sten aus der Zeit vor dem Krieg seien.

Ursu­la Ste­phan dage­gen dekla­rier­te das Aus­maß der Zer­stö­rung, der Boden­be­la­stung und vor allem der weit­räu­mi­gen Gift­gas­wol­ken nach den stren­gen deut­schen Geset­zen als »exzep­tio­nel­len Stör­fall«. Sozu­sa­gen als Super-GAU. Das heißt, als eine Kata­stro­phe außer Kon­trol­le, für deren Aus­ma­ße es kei­ne Erfah­run­gen, Bere­chen­bar­keit, kei­ne Vor­be­rei­tungs­mög­lich­kei­ten und des­halb kei­ne Abwehr­sze­na­ri­en gibt. Ver­gleich­bar mit Tscher­no­byl oder Fukushima.

Aus 78.000 Ton­nen ver­brann­ter Explo­siv- und Rake­ten­treib­stof­fe und den Abga­sen aus über 150.000 Flug­stun­den der Bom­ben­flug­zeu­ge und Marsch­flug­kör­per wur­de, so die Exper­ten, zu allen Che­mi­ka­li­en noch über eine Mil­li­ar­de Kubik­me­ter luft­ver­schmut­zen­der Sub­stan­zen frei­ge­setzt. Die­se Gesamt­men­ge an Koh­len­di­oxid, Stick­stoff­oxi­den und unver­brann­ten Koh­len­was­ser­stof­fen war seit dem Golf­krieg der größ­te Bei­trag zur Luft­ver­schmut­zung und zum Treib­haus­ef­fekt. »Wer die Che­mie­in­du­strie angreift«, sag­te Frau Ste­phan 1999 im ORB-Umwelt­ma­ga­zin Ozon, »weiß, was er tut«.

Schon wäh­rend der Luft­an­grif­fe hat­te auch der Ber­li­ner Uni­ver­si­täts-Pro­fes­sor für Umwelt­pla­nung Knut Kru­se­witz die­se Schlä­ge gegen Che­mie­zen­tren als neu­ar­ti­gen Umwelt­krieg bezeich­net, mit dem die Nato das Gen­fer Ver­bot von che­mi­schen Waf­fen gezielt umging und gegen die Enmod-Kon­ven­ti­on der UN-Voll­ver­samm­lung von 1978 ver­stieß, nach der »umwelt­ver­än­dern­de Tech­ni­ken, die weit­räu­mi­ge, lang andau­ern­de oder schwer­wie­gen­de Aus­wir­kun­gen« haben, als Mit­tel der Kriegs­füh­rung ver­bo­ten sind. Doch bis heu­te herrscht zu den dra­ma­ti­schen Fol­gen die­ses ersten Angriffs­krie­ges der Nato mit deut­scher Betei­li­gung gro­ßes Schweigen.