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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Euro­pas Schan­de 1. – Die euro­päi­sche Flücht­lings- und Migra­ti­ons­po­li­tik ist beschä­mend. Das Ster­ben im Mit­tel­meer geht nicht nur wei­ter. Es nimmt sogar zu – nicht in abso­lu­ten, aber in rela­ti­ven Zah­len. Die Flucht aus Krieg, Ver­fol­gung und Elend wird immer gefähr­li­cher. Als 2015 mehr als eine Mil­li­on Men­schen ver­such­ten, Euro­pa über das Mit­tel­meer zu errei­chen, ertrank (nach UNHCR-Anga­ben) jeder 269. von ihnen. 2019 mach­ten sich nach offi­zi­el­len Anga­ben zwar »nur noch« knapp 117.000 Migran­ten auf die ris­kan­te Über­fahrt, wovon nun aber bereits jeder 47. die Flucht mit dem Leben bezahl­te – auf der Rou­te Liby­en-Ita­li­en gar jeder elf­te; auch 2020 waren bis Mit­te Novem­ber wie­der knapp 1.000 Flüch­ten­de ertrun­ken (Quel­le: Sta­ti­sta). Aber war­um ist das so? Zum einen: Die Zahl der Migran­ten sinkt nicht des­halb, weil die Sehn­sucht nach Euro­pa abge­nom­men hät­te oder gar die Flucht­grün­de bekämpft wür­den. Es war­ten immer noch Mil­lio­nen auf die Über­fahrt. Den mei­sten bleibt sie jedoch ver­wehrt, weil sie von der soge­nann­ten liby­schen Küsten­wa­che, die dazu finan­zi­ell, tech­nisch und logi­stisch groß­zü­gig durch die EU unter­stützt wird, abge­fan­gen und nach Liby­en zurück­ge­bracht wer­den. An der grie­chisch-tür­ki­schen Gren­ze soll sich die EU-Grenz­schutz­mis­si­on Fron­tex, unter Mit­wir­kung deut­scher Bun­des­po­li­zi­sten, sogar selbst an ille­ga­len Rück­füh­run­gen, soge­nann­ten Push-backs, in die Tür­kei betei­ligt haben. Zum ande­ren ist die Flucht­rou­te immer gefähr­li­cher gewor­den, weil es kaum noch See­not­ret­ter gibt. Hilfs­pro­gram­me wie »Mare Nostrum« oder »Tri­ton«, in deren Rah­men noch 2014 mehr als 140.000 Men­schen aus See­not gebor­gen wor­den waren, wur­den ein­ge­stellt, und die pri­va­ten Hilfs­or­ga­ni­sa­tio­nen wer­den zuneh­mend am Ein­satz gehin­dert. Nach­dem bei­spiels­wei­se das Ret­tungs­schiff »Sea Watch 4« mit 353 Flücht­lin­gen an Bord nach tage­lan­ger Irr­fahrt Anfang Sep­tem­ber des ver­gan­ge­nen Jah­res end­lich den Hafen von Paler­mo anlau­fen und die Geret­te­ten an eine Qua­ran­tä­ne­fäh­re über­ge­ben konn­te, liegt das Schiff dort bis heu­te wegen angeb­li­cher Sicher­heits­män­gel und einer »fal­schen Regi­strie­rung« gewis­ser­ma­ßen an der Ket­te. Aus der Absicht, die zivi­le See­not­ret­tung – und damit Migra­ti­on – zu ver­hin­dern, wird mitt­ler­wei­le nicht ein­mal mehr ein Hehl gemacht. Wie aus einem zu Weih­nach­ten bekannt gewor­de­nen Schrei­ben »unse­res« Bun­des­in­nen- und selbst­er­nann­ten »Hei­mat­mi­ni­sters« an sei­nen Kabi­netts- und Par­tei­kol­le­gen Andre­as Scheu­er her­vor­geht, sol­len die zivi­len See­not­ret­ter künf­tig noch stren­ger kon­trol­liert und, wenn mög­lich, aus dem Ver­kehr gezo­gen wer­den. Wenn das die Hal­tung der deut­schen Regie­rung ist, wer­ter Herr See­ho­fer, macht sich Deutsch­land, im Ver­bund mit den ita­lie­ni­schen Behör­den und der EU, mit­schul­dig am fort­ge­setz­ten Ster­ben. Euro­päi­sche Wer­te? Nur­mehr Wor­te. Eine huma­ni­tä­re Bankrotterklärung!

Euro­pas Schan­de 2. – »Erst kommt das Fres­sen, dann die Moral.« Was Ber­tolt Brecht einst (1928 in der Drei­gro­schen­oper) dem sat­ten Bür­ger­tum zurecht ent­ge­gen­schleu­der­te, weil es den Hun­gern­den Moral zu pre­di­gen sich erdrei­ste­te, ihnen aber das Brot ver­wei­ger­te, haben sich nun die Sat­ten selbst zu eigen gemacht. Erst kommt der Finanz­haus­halt, dann der Rechts­staat und die Grund­rech­te. Nach­dem Ungarn und Polen den näch­sten EU-Haus­halt (2021-2027) zu blockie­ren droh­ten, weil ein neu­er Rechts­staats-Mecha­nis­mus das Bil­lio­nen Euro schwe­re Bud­get vor Miss­brauch schüt­zen soll­te, sie aber ein natio­na­les »Recht auf Rechts­bruch« ein­for­der­ten, um die hei­mi­sche Pres­se und Justiz wei­ter drang­sa­lie­ren zu kön­nen, haben sich die EU-Staats- und Regie­rungs­chefs Anfang Dezem­ber auf ein von Bun­des­kanz­le­rin Mer­kel aus­ge­han­del­ten Kom­pro­miss geei­nigt. Der Sank­ti­ons-bewehr­te Mecha­nis­mus, der etwa Ein­grif­fe in die Pres­se­frei­heit oder die Unab­hän­gig­keit der Justiz mit schmerz­haf­ten finan­zi­el­len Stra­fen zu ahn­den droh­te, wur­de zum Papier­ti­ger degra­diert, der in Wahr­heit allen­falls als Bett­vor­le­ger taugt. Der Rechts­staats­vor­be­halt bleibt zwar – im Prin­zip – bestehen, aber etwa­ige Ver­stö­ße sol­len nun zunächst ein­mal an aller­lei »Aus­schüs­se« zurück­ver­wie­sen und dort geprüft wer­den (Euro­päi­scher Gerichts­hof, die EU-Staats- und Regie­rungs­chefs). Na denn. Die EU habe damit ihre Hand­lungs­fä­hig­keit bewie­sen, froh­lock­te dar­auf­hin Bun­des­fi­nanz­mi­ni­ster Olaf Scholz (desi­gnier­ter »sozi­al­de­mo­kra­ti­scher« Kanz­ler­kan­di­dat). Aber von »Hand­lung«, wer­ter Herr Scholz, kann doch tat­säch­lich gar kei­ne Rede mehr sein. Die Wer­te­ge­mein­schaft ist auch in die­ser Hin­sicht, wie in der Migra­ti­ons­fra­ge, zur Worte­ge­mein­schaft ver­kom­men. Erst kommt das Fres­sen! Was danach kommt? Mal sehen.

Was, bit­te­schön, sind »Impf­pri­vi­le­gi­en«? – Ant­wort: ein Unsinn. Bun­des­ge­sund­heits­mi­ni­ster Jens Spahn und Bun­des­tags­prä­si­dent Wolf­gang Schäub­le haben sich – publi­kums­wirk­sam – dage­gen aus­ge­spro­chen, dass Men­schen, die den Covid-19-Impf­stoff nach behörd­li­chen Vor­ga­ben frü­her als ande­re erhal­ten, von den oder zumin­dest von eini­gen der für alle ande­ren wei­ter­hin gel­ten­den »Coro­na-Maß­nah­men« befreit wer­den. Sie soll­ten sich statt­des­sen »soli­da­risch« zei­gen und die Restrik­tio­nen mit den War­ten­den wei­ter erdul­den, um einer »Spal­tung der Gesell­schaft« kei­nen Vor­schub zu lei­sten. Wer hier wofür Vor­schub lei­stet, ist alles ande­re als aus­ge­macht. Man möch­te den Her­ren einen Grund­kurs in Rechts- und Staats­bür­ger­kun­de emp­feh­len. Mit ihrer Angst vor einer »Neid­de­bat­te«, die ja womög­lich – durch Publi­kums­me­di­en geschürt – tat­säch­lich auf­kommt, set­zen sie die Axt an den ver­fas­sungs­mä­ßig garan­tier­ten Schutz der Grund­rech­te. Das Infek­ti­ons­schutz­ge­setz (§ 28) erlaubt es aus nach­voll­zieh­ba­ren Grün­den, die­se Rech­te, etwa die Bewe­gungs- und Ver­samm­lungs­frei­heit, ein­zu­schrän­ken, »soweit und solan­ge es zur Ver­hin­de­rung der Ver­brei­tung über­trag­ba­rer Krank­hei­ten erfor­der­lich ist«. Wir kön­nen (noch) nicht abschlie­ßend beur­tei­len, ob die­ses Erfor­der­nis auch nach einer Imp­fung Bestand hat, ob also die Geimpf­ten trotz Immu­ni­sie­rung das Virus wei­ter­hin über­tra­gen kön­nen. Falls nicht, dür­fen ihre indi­vi­du­el­len Frei­heits­rech­te, das gehört zum Grund­be­stand unse­rer Rechts­ord­nung, selbst­ver­ständ­lich kei­nen Tag län­ger beschnit­ten wer­den. Das selt­sa­me »Her­umei­ern« etwa der ein­gangs genann­ten »Ver­fas­sungs­or­ga­ne« lässt zumin­dest dar­an zwei­feln, ob sie die sonst von ihnen selbst in aller­lei Sonn­tags­re­den hoch­ge­hal­te­nen »Wer­te« tat­säch­lich ver­stan­den und ver­in­ner­licht haben. Die Gewäh­rung von Grund­rech­ten ein Pri­vi­leg zu nen­nen, ist eine gefähr­li­che Dumm­heit und soll­te eigent­lich – dazu passt ein Bei­trag in den »Bemer­kun­gen« die­ses Hef­tes – den Ver­fas­sungs­schutz auf den Plan rufen.

Abstand hal­ten – Viro­lo­gen und ande­re Medi­zi­ner, Poli­ti­ke­rin­nen und Jour­na­li­sten, freund­li­che Poli­zi­stin­nen und Super­markt­kas­sie­rer sowie aller­lei Schil­der­werk im öffent­li­chen Raum ermah­nen uns in Pan­de­mie­zei­ten all­über­all und rund um die Uhr zu sozia­ler Distanz. Bloß nie­man­dem (zu) nahe kom­men. »Social distan­cing« ist so sehr in unse­ren All­tags­wort­schatz ein­ge­drun­gen, dass wir gar nicht mehr mer­ken, wie gefähr­lich sol­ches »wor­ding« ist. Für uns ist die­ser ver­schwen­de­risch gebrauch­te, aber irre­lei­ten­de Begriff daher das Unwort des ver­gan­ge­nen Jah­res. Abstands­re­geln sind zwei­fel­los gebo­ten, um die Gefahr einer Infek­ti­on zu min­dern. Aber die­se phy­si­sche Distanz muss gera­de in Kri­sen­zei­ten mit sozia­ler Nähe – »social pro­xi­mi­ty«, wenn es denn unbe­dingt eng­lisch sein soll – aus­ge­gli­chen wer­den. Eine sozia­le Distanz besteht zwi­schen Armen und Rei­chen, zwi­schen Hun­gern­den und Sat­ten, zwi­schen Arbeits­lo­sen und Beschäf­tig­ten. Sol­che Segre­ga­ti­on zu pro­pa­gie­ren, ist fahr­läs­sig. Damit die Gesell­schaft ange­sichts einer aku­ten Virus-Bedro­hung nicht »nach­hal­tig« aus­ein­an­der­fällt, ist das Gegen­teil gefor­dert: Nähe an Distanz.