Europas Schande 1. – Die europäische Flüchtlings- und Migrationspolitik ist beschämend. Das Sterben im Mittelmeer geht nicht nur weiter. Es nimmt sogar zu – nicht in absoluten, aber in relativen Zahlen. Die Flucht aus Krieg, Verfolgung und Elend wird immer gefährlicher. Als 2015 mehr als eine Million Menschen versuchten, Europa über das Mittelmeer zu erreichen, ertrank (nach UNHCR-Angaben) jeder 269. von ihnen. 2019 machten sich nach offiziellen Angaben zwar »nur noch« knapp 117.000 Migranten auf die riskante Überfahrt, wovon nun aber bereits jeder 47. die Flucht mit dem Leben bezahlte – auf der Route Libyen-Italien gar jeder elfte; auch 2020 waren bis Mitte November wieder knapp 1.000 Flüchtende ertrunken (Quelle: Statista). Aber warum ist das so? Zum einen: Die Zahl der Migranten sinkt nicht deshalb, weil die Sehnsucht nach Europa abgenommen hätte oder gar die Fluchtgründe bekämpft würden. Es warten immer noch Millionen auf die Überfahrt. Den meisten bleibt sie jedoch verwehrt, weil sie von der sogenannten libyschen Küstenwache, die dazu finanziell, technisch und logistisch großzügig durch die EU unterstützt wird, abgefangen und nach Libyen zurückgebracht werden. An der griechisch-türkischen Grenze soll sich die EU-Grenzschutzmission Frontex, unter Mitwirkung deutscher Bundespolizisten, sogar selbst an illegalen Rückführungen, sogenannten Push-backs, in die Türkei beteiligt haben. Zum anderen ist die Fluchtroute immer gefährlicher geworden, weil es kaum noch Seenotretter gibt. Hilfsprogramme wie »Mare Nostrum« oder »Triton«, in deren Rahmen noch 2014 mehr als 140.000 Menschen aus Seenot geborgen worden waren, wurden eingestellt, und die privaten Hilfsorganisationen werden zunehmend am Einsatz gehindert. Nachdem beispielsweise das Rettungsschiff »Sea Watch 4« mit 353 Flüchtlingen an Bord nach tagelanger Irrfahrt Anfang September des vergangenen Jahres endlich den Hafen von Palermo anlaufen und die Geretteten an eine Quarantänefähre übergeben konnte, liegt das Schiff dort bis heute wegen angeblicher Sicherheitsmängel und einer »falschen Registrierung« gewissermaßen an der Kette. Aus der Absicht, die zivile Seenotrettung – und damit Migration – zu verhindern, wird mittlerweile nicht einmal mehr ein Hehl gemacht. Wie aus einem zu Weihnachten bekannt gewordenen Schreiben »unseres« Bundesinnen- und selbsternannten »Heimatministers« an seinen Kabinetts- und Parteikollegen Andreas Scheuer hervorgeht, sollen die zivilen Seenotretter künftig noch strenger kontrolliert und, wenn möglich, aus dem Verkehr gezogen werden. Wenn das die Haltung der deutschen Regierung ist, werter Herr Seehofer, macht sich Deutschland, im Verbund mit den italienischen Behörden und der EU, mitschuldig am fortgesetzten Sterben. Europäische Werte? Nurmehr Worte. Eine humanitäre Bankrotterklärung!
Europas Schande 2. – »Erst kommt das Fressen, dann die Moral.« Was Bertolt Brecht einst (1928 in der Dreigroschenoper) dem satten Bürgertum zurecht entgegenschleuderte, weil es den Hungernden Moral zu predigen sich erdreistete, ihnen aber das Brot verweigerte, haben sich nun die Satten selbst zu eigen gemacht. Erst kommt der Finanzhaushalt, dann der Rechtsstaat und die Grundrechte. Nachdem Ungarn und Polen den nächsten EU-Haushalt (2021-2027) zu blockieren drohten, weil ein neuer Rechtsstaats-Mechanismus das Billionen Euro schwere Budget vor Missbrauch schützen sollte, sie aber ein nationales »Recht auf Rechtsbruch« einforderten, um die heimische Presse und Justiz weiter drangsalieren zu können, haben sich die EU-Staats- und Regierungschefs Anfang Dezember auf ein von Bundeskanzlerin Merkel ausgehandelten Kompromiss geeinigt. Der Sanktions-bewehrte Mechanismus, der etwa Eingriffe in die Pressefreiheit oder die Unabhängigkeit der Justiz mit schmerzhaften finanziellen Strafen zu ahnden drohte, wurde zum Papiertiger degradiert, der in Wahrheit allenfalls als Bettvorleger taugt. Der Rechtsstaatsvorbehalt bleibt zwar – im Prinzip – bestehen, aber etwaige Verstöße sollen nun zunächst einmal an allerlei »Ausschüsse« zurückverwiesen und dort geprüft werden (Europäischer Gerichtshof, die EU-Staats- und Regierungschefs). Na denn. Die EU habe damit ihre Handlungsfähigkeit bewiesen, frohlockte daraufhin Bundesfinanzminister Olaf Scholz (designierter »sozialdemokratischer« Kanzlerkandidat). Aber von »Handlung«, werter Herr Scholz, kann doch tatsächlich gar keine Rede mehr sein. Die Wertegemeinschaft ist auch in dieser Hinsicht, wie in der Migrationsfrage, zur Wortegemeinschaft verkommen. Erst kommt das Fressen! Was danach kommt? Mal sehen.
Was, bitteschön, sind »Impfprivilegien«? – Antwort: ein Unsinn. Bundesgesundheitsminister Jens Spahn und Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble haben sich – publikumswirksam – dagegen ausgesprochen, dass Menschen, die den Covid-19-Impfstoff nach behördlichen Vorgaben früher als andere erhalten, von den oder zumindest von einigen der für alle anderen weiterhin geltenden »Corona-Maßnahmen« befreit werden. Sie sollten sich stattdessen »solidarisch« zeigen und die Restriktionen mit den Wartenden weiter erdulden, um einer »Spaltung der Gesellschaft« keinen Vorschub zu leisten. Wer hier wofür Vorschub leistet, ist alles andere als ausgemacht. Man möchte den Herren einen Grundkurs in Rechts- und Staatsbürgerkunde empfehlen. Mit ihrer Angst vor einer »Neiddebatte«, die ja womöglich – durch Publikumsmedien geschürt – tatsächlich aufkommt, setzen sie die Axt an den verfassungsmäßig garantierten Schutz der Grundrechte. Das Infektionsschutzgesetz (§ 28) erlaubt es aus nachvollziehbaren Gründen, diese Rechte, etwa die Bewegungs- und Versammlungsfreiheit, einzuschränken, »soweit und solange es zur Verhinderung der Verbreitung übertragbarer Krankheiten erforderlich ist«. Wir können (noch) nicht abschließend beurteilen, ob dieses Erfordernis auch nach einer Impfung Bestand hat, ob also die Geimpften trotz Immunisierung das Virus weiterhin übertragen können. Falls nicht, dürfen ihre individuellen Freiheitsrechte, das gehört zum Grundbestand unserer Rechtsordnung, selbstverständlich keinen Tag länger beschnitten werden. Das seltsame »Herumeiern« etwa der eingangs genannten »Verfassungsorgane« lässt zumindest daran zweifeln, ob sie die sonst von ihnen selbst in allerlei Sonntagsreden hochgehaltenen »Werte« tatsächlich verstanden und verinnerlicht haben. Die Gewährung von Grundrechten ein Privileg zu nennen, ist eine gefährliche Dummheit und sollte eigentlich – dazu passt ein Beitrag in den »Bemerkungen« dieses Heftes – den Verfassungsschutz auf den Plan rufen.
Abstand halten – Virologen und andere Mediziner, Politikerinnen und Journalisten, freundliche Polizistinnen und Supermarktkassierer sowie allerlei Schilderwerk im öffentlichen Raum ermahnen uns in Pandemiezeiten allüberall und rund um die Uhr zu sozialer Distanz. Bloß niemandem (zu) nahe kommen. »Social distancing« ist so sehr in unseren Alltagswortschatz eingedrungen, dass wir gar nicht mehr merken, wie gefährlich solches »wording« ist. Für uns ist dieser verschwenderisch gebrauchte, aber irreleitende Begriff daher das Unwort des vergangenen Jahres. Abstandsregeln sind zweifellos geboten, um die Gefahr einer Infektion zu mindern. Aber diese physische Distanz muss gerade in Krisenzeiten mit sozialer Nähe – »social proximity«, wenn es denn unbedingt englisch sein soll – ausgeglichen werden. Eine soziale Distanz besteht zwischen Armen und Reichen, zwischen Hungernden und Satten, zwischen Arbeitslosen und Beschäftigten. Solche Segregation zu propagieren, ist fahrlässig. Damit die Gesellschaft angesichts einer akuten Virus-Bedrohung nicht »nachhaltig« auseinanderfällt, ist das Gegenteil gefordert: Nähe an Distanz.