Angela Merkel, besorgt. – Trotz Quarantäne werden Sie erfahren haben, dass Stephan Pusch, Landrat des von der Corona-Epidemie besonders betroffenen nordrhein-westfälischen Landkreises Heinsberg, sich mit einem Brief an den chinesischen Staatspräsidenten Xi Jinping gewandt und diesen um Hilfe bei der Beschaffung von Schutzmasken, Kitteln und sonstigen Materialien gebeten hat, die zum Schutz der Beschäftigten des Heinsberger Krankenhauses vor dem Coronavirus dringend benötigt werden. Vertrauen, dass deutsche Behörden zu Hilfe kommen würden, hatte der Landrat offenbar nicht mehr. In einer Video-Botschaft stellte er am 23. März fest, dass die deutsche Verteidigungsministerin zwar »medienwirksam« Hilfe durch die Bundeswehr angekündigt habe, doch »für uns sind sämtliche Hilfegesuche, die wir bisher an die Bundeswehr gerichtet haben, negativ beschieden worden«. In seinem Brief nach China, adressiert an die Botschaft der Volksrepublik in Berlin, zeigte sich Pusch auch interessiert an einem fachlichen Austausch mit den chinesischen Corona-Spezialisten. Und er regte eine Partnerschaft zwischen seinem Landkreis und der chinesischen Provinz Wuhan an. Wie Sie sicher auch wissen, erhielt Pusch umgehend einen Anruf des chinesischen Generalkonsuls in Düsseldorf. Der forderte ihn auf, mitzuteilen, was gebraucht wird. Man werde nach Kräften helfen. Aber haben Sie auch gelesen, was German Foreign Policy unter der Überschrift »Annahme verweigert« berichtete? Die gewöhnlich gut unterrichtete Online-Plattform am 22. März: »Als bislang einziges Land Europas nimmt Deutschland ein chinesisches Hilfsangebot im Kampf gegen die Covid-19-Pandemie nicht an. Wie Chinas Präsident Xi Jinping mitteilt, habe er Bundeskanzlerin Angela Merkel mitgeteilt, die Volksrepublik sei bereit, ›im Rahmen [ihrer] Fähigkeiten Hilfe zu leisten‹, sollte es ›Bedarf‹ geben. Beijing hat in den vergangenen Tagen mehreren Staaten Europas, darunter Italien, Spanien und Frankreich, Hilfslieferungen zukommen lassen und teilweise auch Ärzteteams … entsandt. Berlin ignoriert das Hilfsangebot …« Ihr Parteifreund Pusch wusste offenbar nichts von Ihrer »Annahme-verweigert«-Haltung. Woher auch, da die Medien darüber schweigen? Wir sind gespannt, was Sie ihm antworten werden, wenn er Ihnen demnächst deswegen Fragen stellt.
Saskia Esken, SPD-Kovorsitzende. – Rigorose Einschränkungen der Bewegungsfreiheit der Bevölkerung zwecks Schutz vor weiterer massiver Corona-Verbreitung finden Sie »problematisch«. »Als freiheitliche Gesellschaft brauchen wir keine Ausgangssperre«, sagen Sie. Vielleicht brauchen wir sie doch, auch wenn »die meisten Menschen … sich vernünftig, verantwortungsvoll und solidarisch [verhalten]«. Aber auch schon die jetzige »Ausgangsbeschränkung« bringt erhebliche Probleme für die demokratische Ordnung in unserem Land mit sich. Diese Sorge beschäftigt viele. Wird nicht die Situation genutzt, um Notstandsmaßnahmen auszuprobieren, die sich irgendwann als fatal erweisen könnten? Werden nicht Bundeswehreinsätze im Inneren, Einschränkungen der parlamentarischen Rechte, flächendeckende Bewegungskontrollen anhand von Handy-Daten als akzeptable Möglichkeiten propagiert? Ist nicht die Versammlungs- und Meinungsfreiheit bereits in hohem Maße ausgesetzt? Mit dem Sieg über die Viren muss eine breite Debatte einhergehen, wie unsere Demokratie künftig aussehen soll. Können wir Ihre skeptischen Worte so verstehen, dass Sie und Ihre Partei dann die Seite der vernünftig, verantwortungsvoll und solidarisch die Demokratie Verteidigenden stärken werden?
Carsten Brosda, Hamburger Vordenker. – Karl Marx hat in seiner »Kritik der politischen Ökonomie« (»Das Kapital«, Bd. 1) darüber geschrieben, Rosa Luxemburg in ihrem »Beitrag zur ökonomischen Erklärung des Imperialismus« (»Die Akkumulation des Kapitals«) ebenfalls und Hannah Arendt in ihrem monumentalen Werk über »Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft«. Und nun sprechen auch Sie, als Kultursenator »einer der gefragtesten Vordenker der Stadt«, von der »kapitalistischen Landnahme« (Interview mit Jörn Lauterbach, Redaktionsleiter Hamburg, welt.de, 22.3.2020). Sie hoffen darauf, »dass die Gesellschaft sich nach der Corona-Krise neu entdeckt«, und antworten auf die Frage, ob dann eine Rückkehr in den Status Quo ante möglich sein werde und ob das erstrebenswert wäre: »Das wird anders sein und sich anders anfühlen. Wir werden die gesellschaftlichen Orte des Begegnens, den öffentlichen Raum vermutlich anders wahrnehmen. Das, was Karl Marx mal als die ›kapitalistische Landnahme‹ bezeichnet hat, war in den letzten Jahren … doch sehr dominant. Es ging oft mehr um wirtschaftliche und weniger um gesellschaftliche und kulturelle Fragen. Wenn wir die heute leeren Plätze künftig wieder betreten werden, können wir sie auch neu bewerten. Da könnte die neu gefundene Solidarität, ein neues Zusammengehörigkeitsgefühl, eine gute Rolle spielen. Die Verlusterfahrung könnte dann nachhallen und Neues hervorbringen. Das wäre gut.« Ossietzky meint dazu: ein lesenswertes Interview voller kluger Gedanken, immanent unterlegt mit feiner Skepsis. Und drückt die Daumen, dass Sie im Zuge der anstehenden Regierungsneubildung in Hamburg keine persönliche Verlusterfahrung machen werden. (Siehe auch: Klaus Nilius: »Der Himmel kennt keine Günstlinge« in Ossietzky 5/20.)