Die Demonstrationen gegen die AfD, an denen sich Anfang 2024 fast vier Millionen Menschen beteiligten, vereinten das politische Lager von der Partei »Die Linke« bis hin zur CDU/CSU, mittendrin die drei Regierungsparteien SPD, Grüne und FDP. Häufig verbunden mit einem Bezug zu den Judenverfolgungen des Dritten Reiches verstanden sich ihre Teilnehmer überwiegend als antifaschistisch – wobei ihr Faschismusbegriff in der Regel um die Verfolgung von Juden als dem vermeintlichen Kern der Regierungszeit der NSDAP herum gruppiert war.
Der so von jedem Kapitalismusbezug entkernte Antifaschismus droht zur Legitimation für die Vorbereitung des Krieges gegen Russland und China zu werden, weil er vom politischen Zentrum der genannten Bewegungen, den drei Regierungsparteien, als Vorhang benutzt wird, hinter dem sie ihre Kriegsvorbereitung ideologisch unbehelligt vorantreiben können.
Marxismus ist vor allem eine historische Wissenschaft. Sie wendet sich gegen jede schematische Überstülpung historischer Begriffe auf neue Situationen. Die gegenwärtige Inflation im Gebrauch des Begriffes »Antifaschismus« erfüllt den Tatbestand einer solchen Überstülpung.
Die dominierende Gefahr, vor der wir stehen, ist keine Wiederholung der Ereignisse in Deutschland nach 1933. Die bis heute wirkende historische Konstante unserer Zeit ist der sich gegen Ende des vorletzten Jahrhunderts herausgebildete Imperialismus in der von Lenin 1916 analysierten Form, Begrifflichkeit und Definition. Entscheidend ist dessen Charakteristik als höchstem und damit letztem Stadium der kapitalistischen Gesellschaftsformation. Faschismus in der in Deutschland von 1933 bis 1945 regierenden Form ist eine sehr spezifische Ausprägung innerhalb dieser imperialistischen Schlussphase des Kapitalismus.
Um den Charakter unserer Phase zu begreifen und damit die unmittelbar vor uns liegenden Auswirkungen korrekt zu bestimmen, mag ein etwas weiterer Blick auf die Entwicklung des Imperialismus nützlich sein.
Die Ereignisse zwischen dem August 1914 und dem November 1918 machten schlagartig deutlich, dass der Kampf der imperialistischen Räuber, mit Deutschland an der Spitze des einen und England an der Spitze des anderen Lagers, offen ausgebrochen war. Die damals herrschenden Kreise wähnten sich in der Sicherheit, damit abermals – wie aus der Sicht Deutschlands etwa in den Kämpfen gegen Dänemark und Österreich-Ungarn 1866 oder gegen Frankreich 1870/71 – durch militärisches Gerangel auf Kosten des Lebens der unteren Volksmassen die Frage zu klären, welcher Zweig des um Queen Victoria einerseits und Wilhelm II. andererseits herum gruppierten europäischen Königsclans nach dem Gerangel den größeren Batzen Fleisch auf seinem Teller finden würde. Das damalige Völkergemetzel machte eine neue Herrschaftsform zu ihrer Vorbereitung nicht nötig. Es gab keine Bestrebungen, etwa die Errichtung einer offen terroristischen Diktatur, wie dann später 1933. Das war auch deshalb nicht nötig, weil es gelungen und allen Beteiligten im direkten Vorfeld des August 1914 klar war, dass die SPD als potentielle Störkraft politisch in die Tasche gesteckt worden und vom Gegner zum Komplizen der Kriegstreibenden geworden war. Die Möglichkeit, dass aus diesem gepflegten Gerangel um Einflusssphären so etwas wie der Oktober 1917 in Petrograd entstehen könnte, hatte von den tonangebenden Herren und Damen niemand auf dem Schirm.
Es gibt in unseren Kreisen den Hinweis, dass bei der Entscheidung zur Errichtung des Faschismus in Italien und Deutschland auch die Erwägung Pate gestanden habe, unter dem Eindruck der Oktoberrevolution in Russland vor einem neuen Expansions-Feldzug eine Art vorauseilende Konterrevolution zu organisieren – also die KPD auszuschalten, bevor es ihr gelänge, den Krieg in einen Bürgerkrieg zu verwandeln. Das schien in Deutschland auch deshalb mindestens überlegenswert, weil im Ergebnis des Verrats der Sozialdemokratie an den Friedensschwüren der II. Internationale ab 1919 die KPD als eine zunehmend der SPD ebenbürtige Arbeiterpartei entstanden war. Weil klar war, dass diese in Lenins Tradition stehende Partei, anders als die SPD, nicht in den Kriegskurs der herrschenden Klasse zu integrieren war, musste sie ausgeschaltet werden. Nüchtern betrachtet müssen wir aber konstatieren: Das war eher eine Vorsichtsmaßnahme. Die Ereignisse des Hamburger Aufstands 1923 hatten gezeigt, dass eine revolutionäre Gefahr in Deutschland nicht drohte.
Aus Sicht der damals in Deutschland Herrschenden war der ab 1933 forciert vorbereitete neue Waffengang seinem Charakter nach ein Revanchekrieg, in dem die Niederlage gegen das britische Empire korrigiert werden sollte. Über die Zerschlagung erst Frankreichs, dann aber vor allem Russlands sollte, Großbritannien besetzend, das von Berlin aus regierte Europa mit den USA anschließend (wie 1914 mit dem United Kingdom) in den finalen Endkampf um Platz 1 am Tisch der imperialistischen Räuber eintreten.
Dies ist nach wie vor der große Rahmen, in dem unsere aktuellen Kämpfe stattfinden. Der Hauptbezugspunkt historischer Startpunkte unserer heutigen Kämpfe ist nicht 1933, sondern 1914. Die Fokussierung auf einen auch noch des von Dimitroff beschriebenen Kerns beraubten Antifaschismus klärt die gegenwärtige Lage nicht, sondern vernebelt sie. Sie verstellt den Blick auf die dringende Hauptaufgabe, in unserer Zeit antiimperialistisch zu denken und zu handeln.
Zwei Aspekte kommen hinzu: Anders als 1914 haben die herrschenden Klassen in Washington, Brüssel und Berlin heute sehr wohl im Blick, dass der jetzt heraufziehende Kampf mit dem Untergang der Formation enden könnte, der sie Reichtum und Macht verdanken. Auch dafür gibt es geschichtliche Parallelen. Die eine ist die »Nach uns die Sintflut«-Mentalität, die die herrschenden feudale Klasse in Frankreich angesichts der großen französischen Revolution ergriffen hatte. Sie bildete die Mentalität heraus, dass dann eben nicht nur sie, sondern alle untergehen sollten. Noch einmal: Das war 1914 anders. Trotz der Warnung der 1912 untergegangenen Titanic war es aus Sicht der Herrschenden ein Gerangel auf einem für unsinkbar gehaltenen Dampfer. Seit 1917 aber – vielleicht unterbrochen durch die Jahre 1989 bis spätestens 2022 – und insbesondere seit der sich abzeichnenden Überlegenheit Chinas über die Führungsmacht USA verbreitet sich wieder die von den 1780er Jahren in Frankreich bekannte Endkampf-Stimmung. Sie geht einher mit der dumpfen Ahnung, dass nach einer Niederlage die kapitalistischen Privilegien für sich selbst und die eigene Brut nicht mehr durch die Wirren der Zeit getragen werden könnten. Bei früheren Epochenbrüchen verwandelten sich Sklavenhalter in Feudalherren und Feudalherren in Fabrikanten – sie blieben aber Teil der ausbeutenden Klassen. Mit der Überwindung der Klassengesellschaft und Ausbeutung überhaupt verschwindet diese Perspektive. Insofern ähnelt die bei Fortschreibung der gegenwärtigen Entwicklungen heraufziehende Stimmung in diesen Kreisen weniger der des abtretenden französischen Adels, sondern eher der Stimmung im Berliner Führerbunker 1945 – nur eben nicht nur als Stimmung einer Clique, sondern als Stimmung einer ganzen herrschenden Klasse.
Der andere ergänzende Aspekt betrifft unsere politisch und sozial unterdrückte Klasse. Faschismus steht auch deshalb nicht vor der Tür, weil neben der von den Herrschenden voll integrierten SPD (und den sogar übereifrig integrierten Grünen) keine KPD von 300.000 Mitgliedern mehr im Wege steht, die vor dem Krieg zu eliminieren wäre. Die knapp 3000 Mitglieder von heute sind aus Sicht der Herrschenden (noch) keine Gefahr, und die 5000 Unterschriften unter dem Gewerkschaftsaufruf für Frieden mit Russland sind auch von der anderen Seite als die Unter-einem-Promille-Bewegung registriert worden, die sie im Hauptstrom der 5,7 Millionen Mitglieder eben darstellen. Noch mehr als 1914 kann also die Kriegsvorbereitung ohne Wechsel in der Herrschaftsform durchgeführt werden. So wie damals durch Einsperren von Luxemburg und Liebknecht, durch Pressezensur, öffentlichen Druck, Kanzelpredigten und Frontverschickungen lässt sich, so das Kalkül der Herrschenden, Kriegsfähigkeit auch im Rahmen einer militaristisch-reaktionär formierten klassischen bürgerlichen Demokratie organisieren.
Die Worte von Rosa Luxemburg »Sozialismus oder Barbarei« kennt jeder gebildet Marxist in Deutschland. Sie hat das – auf Friedrich Engels Bezug nehmend – in ihrer Schrift über die Krise der Sozialdemokratie allerdings nicht auf diese drei Worte reduziert geschrieben, sondern davon gesprochen, die bürgerliche Gesellschaft stehe »vor einem Dilemma, entweder Übergang zum Sozialismus oder Rückfall in die Barbarei«. Die Ereignisse werden auf diesen Punkt zulaufen. Für das 85-Millionen-Volk Deutschlands ist angesichts der seit 1989 täglich vollzogenen Hetze gegen die DDR der Dilemma-Aspekt dieses Gedankens besonders ins Auge zu fassen. Selbst wenn die Millionen dieses Landes die ihnen drohende Gefahr eines Falls in die Barbarei in den Blick bekommen, steht ihnen der Ausweg des Sozialismus erst dann offen, wenn es der an Marx und Engels orientierten Partei gelingt, die Frage des Übergangs zum Sozialismus nicht als Teil eines Dilemmas, sondern als Teil einer Hoffnung wachsen zu lassen.