Wenn Olaf Scholz in seiner Neujahrsansprache, angesichts von Corona-Krise und Flutkatastrophe, die Solidarität der Deutschen lobt und eine Spaltung der Gesellschaft nicht erkennen kann, so sitzt er erneut dem alten sozialdemokratischen Wunschdenken »Versöhnen statt Spalten« auf. Das hat mit einer realistischen Beurteilung der sozialen und politischen Wirklichkeit in Deutschland und der streitbaren Durchsetzung eines dringend notwendigen sozial-ökologischen Wandels wenig zu tun. Hier verdrängt er, wie gehabt, die politischen Herausforderungen einer zunehmenden Kluft zwischen Arm und Reich, das nach wie vor bestehende soziale Gefälle zwischen Ost und West, zwischen Frauen und Männern, Inländern und Ausländern, zwischen Profit-orientierter Wirtschaft und deren katastrophalen sozial-ökologischen Folgen. Vor allem aber verdrängt er die Tatsache, dass rechte, nationalistische Kräfte – wie noch nie nach 1945 – eine unübersehbare mentale und politische Meinungsmacht innerhalb und außerhalb der Parlamente wiedergewonnen haben.
Was aber wäre die alternative Botschaft zu einer schöngefärbten Realitätsverweigerung, die an das harmonisierende Wunschdenken einer sich herausbildenden (sozialistischen) »Menschengemeinschaft« der SED-Führung erinnert?
Wenn die neue SPD-Innenministerin Nancy Faeser anlässlich ihrer Amtseinführung zurecht sagte: »Ein besonderes Anliegen wird mir sein, die größte Bedrohung, die derzeit unsere freiheitlich demokratische Grundordnung hat, den Rechtsextremismus, zu bekämpfen«, so ergibt eine solche, geradezu international gültige, Aussage für mich folgende solidarisierenden und identitätsstiftenden Kernbotschaften, wie wohl für die überwältigende Mehrheit der in Deutschland lebenden Menschen, die mit geschärften Geschichtsbewusstsein auf den singulären Zivilisationsbruch der NS-Zeit zurückblicken:
- Die Hervorbringung und kritische Weiterentwicklung einer antifaschistischen Kultur, die in beiden deutschen Staaten maßgeblich durch das wertvolle Erbe der politischen Remigranten und KZ-Überlebenden, nicht zuletzt der jüdischen, im Krieg und nach 1945 entstanden ist, kann ein einigendes mentales Band in Deutschland Ost und West sowie im Kampf gegen den Rechtsextremismus sein. Dazu bedarf es einer neuen politischen und medialen Würdigung dieses gemeinsamen deutsch-deutschen Nachkriegserbes, das sich einseitigen Abwertungen entzieht, aber auch unterschiedliche Defizite, in beiden deutschen Staaten, weiter aufarbeitet.
- Der Schwur der Überlebenden aller politischen Lager von Buchenwald »Nie wieder Faschismus, nie wieder Krieg!« muss die zentrale Richtschnur der Innen- und Außenpolitik sowie der Bildungs- und Medienpolitik in Deutschlands werden. Dazu gehört auch, die bisherige Militär- und Flüchtlingspolitik der EU und Nato grundsätzlich, in diesem Sinne infrage zu stellen und zu verändern. Es gilt, Konfliktursachen durch internationale Friedens- und Entspannungspolitik präventiv zu entschärfen, anstatt sie auf Kosten der Menschenrechte von Migranten nationalistisch auszutragen.
- Die Bekämpfung von Nationalismus, Rechtsextremismus und Fremdenfeindlichkeit kann nur dann nachhaltig gelingen, wenn nicht nur die Symptome und Erscheinungsformen der Hasspropaganda und Gewaltausbrüche konsequent rechtsstaatlich bekämpft werden, sondern wenn das gravierende und ursächliche soziale Gefälle in den Lebensbedingungen und Lebensperspektiven aller Menschen viel stärker als bisher zurückgedrängt wird.
- Der dringend notwendige ökologische Umbau der Gesellschaft darf die sozial Schwachen nicht zusätzlich belasten, sondern kann nur durch eine Umsteuerung gesellschaftlichen Reichtums von oben nach unten sozial verträglich gelingen.
- Der immer wieder zitierte grundgesetzliche Artikel, dass die Würde des Menschen unantastbar sei, sollte dauerhaft im Alltag und in allen Gesellschafts- und Politikbereichen, das zentrale Gebot und der entscheidende solidarisierende Maßstab des Handels sein, um gravierende Diskrepanzen zwischen Verfassungstext und Verfassungswirklichkeit zu überwinden. »Respekt« – ein zentraler Topos im Wahlkampf des jetzigen Kanzlers Scholz – einzufordern, ist ein guter erster Schritt. Der Vorsatz muss nun aber auch mit eigenen Taten, mit Regierungshandeln unterlegt werden.