Er ist wieder da. Auf dem Buchumschlag genügt ein zwölf Zentimeter hohes und sieben Zentimeter breites überdimensionales »M«, um den »Sohn des Jahrhunderts« – so der Untertitel – zu identifizieren. »M«. Mussolini.
Der Duce hat es erneut in die italienischen Bücherregale und Bestsellerlisten geschafft: als Protagonist eines auf drei Bände angelegten dokumentarischen Romans, dessen erster Teil 2018 in Italien und in diesem Frühjahr auf Deutsch erschienen ist. Sein Autor, der 1969 in Neapel geborene und an der Universität Mailand lehrende Medienwissenschaftler Antonio Scurati, will damit die Geschichte des italienischen Faschismus erzählen.
Und dies mit hohem Anspruch: Ereignisse und Personen seien nicht der Fantasie des Autors entsprungen. Sämtliche Begebenheiten, Personen, Dialoge oder Reden seien historisch belegt oder bezeugt. Der Roman bleibe dennoch »eine Erfindung, die sich aus dem Fundus der Wirklichkeit bedient. Allerdings nicht willkürlich«.
Für den vorliegenden ersten Teil der geplanten Trilogie erhielt Scurati 2019 den wichtigsten Literaturpreis Italiens, den Premio Strega. Zu den früheren Preisträgern dieser 1947 erstmals verliehenen Auszeichnung gehören solch namhafte Autorinnen und Autoren wie Cesare Pavese, Alberto Moravia, Elsa Morante, Tomasi di Lampedusa, Natalia Ginzburg und Umberto Eco.
Die Handlung setzt im Jahr 1919 ein. Italien gleicht einem politischen Trümmerfeld, wie so viele Staaten nach dem Ersten Weltkrieg. Sozialistische und rechtsnationale Gruppen erhalten Zulauf. Frustrierte Kriegsheimkehrer ziehen durchs Land auf der Suche nach Autorität und Führertum und Gefolgschaft, die ihnen die vom Krieg geschwächte Regierung nicht bieten kann: eine »Ansammlung Kopfloser und Entwurzelter«.
Der Roman beginnt mit einem inneren Monolog Benito Mussolinis, eine Erzähltechnik in Ich-Form, die Scurati später häufig einsetzt, um Einblicke in die Denk- und Gefühlswelt seiner Hauptfigur zu geben.
Es ist der 23. März 1919, die Gründung der Kampfbünde steht bevor, M. soll im Saal des Industrie- und Handelsverbandes eine Rede halten und reflektiert die Situation. Europa ist eine leere Bühne, die bisherigen Leitfiguren haben verspielt: »Die alten Männer werden von jener riesigen Masse überrollt, vier Millionen Kämpfer, die gegen die Landesgrenzen drängen, vier Millionen Heimkehrer. Man muss mitgehen, voranschreiten… Eine Ära ist zu Ende, und eine neue ist angebrochen. Ich bin der Mann des ›Danach‹. Die Zukunft gehört uns … Ich bin wie ein Tier: Ich wittere die kommende Zeit.«
Zehn Jahre zuvor stand Mussolini noch auf der anderen Seite, begann in seiner Heimatprovinz Forlì-Cesena in Oberitalien den Partito Socialista Italiano (PSI) zu organisieren. 1912 übernahm er die Chefredaktion des Zentralorgans »Avanti!«, dessen Auflage unter seiner Leitung von 20.000 auf 100.000 anstieg.
»Manch alter Weggefährte und Bewunderer gesteht noch heute, dass keiner die Seele des Proletariats besser verstand und zu deuten wusste als er«, heißt es sieben Jahre später in einem Bericht des Generalinspekteurs für öffentliche Sicherheit. Eines von vielen historischen Dokumenten, mit denen Scurati immer wieder die Handlung unterfüttert.
Der Bruch mit der sozialistischen Partei kam abrupt: »Als er im Zuge seines militanten revolutionären Aktionismus im Oktober 1914 den Krieg als Möglichkeit zur Revolution bezeichnete und den Eintritt Italiens in den Krieg forderte, schloss ihn der PSI, der für die strikte Neutralität Italiens eintrat, aus seinen Reihen aus« (Zitat aus: Brockhaus, Enzyklopädie, Bd. 15).
Zurück zum 23. März 1919. An diesem Tag wurde in Mailand die Bewegung Fascio di combattimento gegründet, die zwei Jahre später zum Partito Nazionale Fascista umbenannt wurde. Die nationalistischen und antidemokratischen Kräfte, aber auch das Bürgertum hatten eine neue Leitfigur, und im Bündnis mit den Liberalen (sic!) gelangte M. an der Spitze von 21 faschistischen Abgeordneten ins Parlament.
All dies schildert Scurati minutiös in einer bildhaften Sprache, ebenso wie den folgenden antisozialistischen Terror faschistischer Gewalttäter sowie den »Marsch auf Rom«, in dessen Tagen der italienische König Mussolini zum Ministerpräsidenten ernannte. In der neuen Regierung hatte zwar das konservative Lager die Mehrheit, die Schlüsselministerien jedoch lagen in der Hand der Faschisten.
Das Buch schließt mit dem 3. Januar 1925: In der Abgeordnetenkammer des Parlaments des Reiches steht Ministerpräsident Mussolini unter Druck. Zu schlimm hatten es die faschistischen Terrorgruppen getrieben. »Seit zwei Tagen hat das Land Herzkammerflimmern, die Gerüchte über den Rücktritt des Präsidenten reißen nicht ab, die Straßen hallen von antifaschistischem Getöse wider.«
Doch alle haben M. unterschätzt. Dieser zückt das Handbuch der Abgeordneten, zitiert aus dem Statut, das es den Abgeordneten ermöglichen könnte, die königlichen Minister anzuklagen und sie dem Obersten Gericht zu überstellen, und fragt, wer davon Gebrauch machen möchte. Schweigen.
Mussolini hebt an zur scheinbaren Selbstanklage: »Wenn der Faschismus nur Rizinusöl und Schlagstock war und nicht hehre Leidenschaft der besten italienischen Jugend, dann ist das meine Schuld! Wenn der Faschismus eine kriminelle Bande war, dann bin ich der Anführer!«
Niemand steht zur Anklage auf, und Mussolini »hebt das Kinn zum Horizont, schwellt die Brust und zieht seine Schlüsse … Er, der starke Mann, verspricht, die Situation in den achtundvierzig Stunden, die seiner Rede folgen, ›flächendeckend zu klären«.
830 Seiten sind passé. Und ich bin mir sehr unsicher, ob der Autor, der sich, monologisierend, im Kopf seines Protagonisten bewegte, bei dieser Bewusstseins-Nähe es stets geschafft hat, Distanz zu wahren, oder, wie es der Literaturkritiker Thomas Steinfeld in der Süddeutschen Zeitung formulierte, »der Leser am Ende nicht recht weiß, ob er ein Werk der Kritik oder ein Werk der Faszination gelesen hat«.
Trotz dieser Anmerkung, die dem Autor vielleicht Unrecht tut, ist der Roman als Studie über das Werden einer politischen gewalttätigen Bewegung unter Mithilfe oder Duldung von König, Kirche und Armee, von Wirtschaft und staatlicher Verwaltung lesenswert, denn er zeigt beispielhaft die schleichende Durchdringung einer Gesellschaft in den »Anni Ruggenti«, den »Brüllenden Jahren«, durch rechtes Gift und völkisch-nationalistische Ideologie.
Antonio Scurati: »M. Der Sohn des Jahrhunderts«, aus dem Italienischen von Verena von Koskull, Klett-Cotta, 830 Seiten, 32 €. Anmerkung: »Anni Ruggenti« ist in Italien das Pendant für die hierzulande bekanntere Bezeichnung »Die Goldenen Zwanziger« und außerdem der Titel einer italienischen Filmkomödie aus dem Jahr 1962, die während der faschistischen Periode unter Mussolini spielt.