Es ist ein bewölkter Sommermorgen Anfang Juli 2017, als sich überall in Hamburg Menschen auf die Beine machen. Anlässlich des beginnenden G20-Gipfels wollen sie ihre Kritik an der Politik der zwanzig mächtigsten Staatschefs auf die Straßen tragen. Zahlreiche Möglichkeiten werden dafür genutzt. Eine davon ist »Block G20«. Die Initiative ruft öffentlich dazu auf, sich an unterschiedlichen Orten der Stadt zu sammeln und in verschiedenfarbigen Gruppen – auch »Finger« genannt – auf den Tagungsort des Gipfels zuzuströmen, um seinen Ablauf zu stören.
Damit möglichst viele Menschen daran teilnehmen, haben zahlreiche linke Gruppen und Strömungen schon Monate zuvor verbindliche Verabredungen getroffen, um für alle Teilnehmer/innen transparent darzustellen, was sie erwarten wird. Mit ungehorsamen Massenblockaden wolle man die »Selbstinszenierung der Macht« stören und Bilder eines kreativen und bunten Widerstands entgegensetzen, heißt es in der Vereinbarung.
Tatsächlich dringen tausende Demonstrantinnen und Demonstranten in die Zone ein, in der ein generelles Versammlungsverbot verhängt wurde. Mehrere staatliche Delegationen müssen vor Blockaden umdrehen und andere Wege nehmen. Eine Veranstaltung von Finanzminister Schäuble wird abgesagt und Melania Trump kommt nicht aus ihrer Unterkunft. Der Gipfel kann nur mit Verzögerung beginnen.
Aber nicht alle Protestierende erreichen ihr Ziel. Ein überwiegend dunkel und schwarz gekleideter Demonstrationszug wird schon nach etwa 20 Minuten Fußweg im Gewerbegebiet Rondenbarg von der Polizei brutal gestoppt. 14 Demoteilnehmer/innen werden dabei so schwer verletzt, dass sie mit Rettungswagen in Krankenhäuser gebracht werden müssen und zum Teil bleibende Schäden davongetragen haben. Die verbliebenen knapp 60 Personen werden in eine Gefangenensammelstelle gebracht. Um den Polizeieinsatz und den »Massenanfall von Verletzten«, wie die Hamburger Feuerwehr es nennt, zu rechtfertigen werden dann Strafverfahren eingeleitet und Anklagen wegen schweren Landfriedensbruchs erhoben. Bauzaunelemente seien auf die Straße gezogen, Gegenstände in Richtung Polizei geflogen – jedoch aus so großer Entfernung, dass sie keine Polizeibeamte treffen konnten.
Während die Polizisten straffrei bleiben, läuft nun seit Januar 2024 vor dem Hamburger Landgericht ein Prozess gegen zwei Beteiligte dieser Demo, darunter ein Mitglied des damaligen Bonner Jugendvorstands von ver.di. Sie werden keiner eigenen strafbaren Handlung beschuldigt, und große Teile der Anklage sind inzwischen ausgeräumt. Dennoch zieht das Gericht eine Verurteilung wegen Beihilfe zu Straftaten in Betracht. Allein schon die bloße Anwesenheit auf der Versammlung am Rondenbarg könne wegen »Teilnahme an Landfriedensbruch« eine Verurteilung zur Folge haben, erklärte das Gericht Mitte Juli vor seiner Sommerpause.
Der Republikanische Anwältinnen- und Anwälteverein hat jedoch schon zu Prozessbeginn erklärt, dass seit der Liberalisierung des Landfriedensbruch-Paragrafen 125 StGB in den 1970er Jahren klar sei, »dass die bloße Teilnahme an einer Versammlung selbst dann, wenn diese einen gewaltsamen Verlauf nimmt, nicht der Strafbarkeit des § 125 StGB unterfällt. Nur diejenigen, die selbst als Täter*in oder Teilnehmende aktiv gewalttätig – etwa gegen Polizeibeamt*innen – agieren, können sich nach der entschärften Fassung strafbar machen«. Eine Verurteilung im Hamburger »Rondenbarg-Prozess« wäre also eine neue Rechtsprechung, die fortan die Versammlungsfreiheit erheblich einschränken würde.
Es gibt zudem mehrere Belege, dass zivile Polizeibeamte und sogenannte V-Personen der Verfassungsschutzämter verdeckt an den G20-Protesten beteiligt waren. Da deshalb eine konkrete staatliche Beteiligung an der Demonstration nicht ausgeschlossen werden kann, liegt eine rechtsstaatswidrige Tatprovokation vor, wie es juristisch heißt. Diese stellt nach europäischer und bundesdeutscher Rechtsprechung (BGH-Urteil vom 16.12.2021, 1 StR 197/21, Rn 17) ein Verfahrenshindernis dar, das eine Verurteilung ausschließt. Aber auch dieses Argument lässt das Gericht kalt.
Richterinnen und Richter haben wenig Kenntnis darüber, wie soziale Bewegungen funktionieren. Sie selbst arbeiten in hierarchischen Strukturen, ihnen geht es um Ordnung und Rechtspflege. Den weitgehend hierarchiefreien Bewegungen dagegen geht es um Veränderung, sie sind von Dynamik geprägt, von Widersprüchen und ständigen Aushandlungsprozessen. Folglich unterscheidet sich das Denken und Handeln in der Justiz und auch in der Polizei grundlegend von dem in Bewegungen. So ist es für Richterinnen und Richter schwer bis unmöglich, sich in Menschen hineinzudenken, die für eine andere und bessere Welt kämpfen und diese schon im Hier und Jetzt ansatzweise versuchen zu leben.
Auch die Vorsitzende Richterin der für Verkehrsstrafsachen zuständigen Kammer des Hamburger Landgerichts, Sonja Boddin, deutete schon am ersten Prozesstag an, nicht alles zu verstehen. Sie lud deshalb einen Protestforscher als Zeugen. Als es dann so weit war, interessierte sie sich hauptsächlich für den »Schwarzen Block«. Mehr als 30 Minuten – und damit über die Hälfte ihrer gesamten Fragezeit – widmete sie sich dieses Themas. Dabei ging es in der vorliegenden Sache am Rondenbarg, so der Protestforscher, gar nicht um den »Schwarzen Block«. Dieser sei Teil großer Demonstrationen – zusammen mit anderen Demo-Blöcken, wie dem Gewerkschaftsblock, dem Eltern-Kinder-Block oder anderen thematischen Blöcken. So war es auch auf der Abschlussdemonstration »Grenzenlose Solidarität statt G20« am 8. Juli 2017 in Hamburg zu erleben, wo etwa 80.000 Protestierende in ihrer bunten Vielfalt noch einmal zusammenkamen – einschließlich eines dunkel gekleideten Blocks.
Auch die Verteidigung stellte wiederholt heraus, dass sich das Fingerkonzept von »BlockG20« maßgeblich von der Idee des »Schwarzen Block« unterscheidet: Von mehreren Orten starteten verschiedenfarbige Demonstrationszüge, die sich wie die Finger einer sich öffnenden Hand auffächern, um bei Polizeikontakt an den Ordnungshütern »vorbeizufließen«, um sich so weiter fortbewegen zu können. Denn erklärtes Ziel von BlockG20 war nicht die Konfrontation mit der Polizei, sondern die Innenstadt, wo mit Blockaden auf den Zufahrtsstraßen zu den Tagungshallen des Gipfels die Staatschefs aufgehalten werden sollten. Mit diesem Fortbewegungskonzept sollte das während des Gipfeltreffens geltende umfassende Demonstrationsverbot unterlaufen werden.
Aber die richterliche Befragung zielte darauf, das Narrativ der Bedrohung und Eskalation zu bedienen, das sich in der staatsanwaltschaftlichen Anklageschrift und auch in den polizeilichen Aussagen wiederfindet. Nach Auskunft der Polizeizeugen sei ihnen schon am Vortag klar gewesen, dass der schwarze Demonstrationszug der »unfriedliche« sei. Diese Prophezeiung erfüllte sich durch das massive polizeiliche Auftreten. Zwar bemerkt das Gericht, der Polizeieinsatz im Rondenbarg sei unverhältnismäßig gewesen, aber gleichzeitig sei er für das laufende Gerichtsverfahren nicht relevant. Dieser Versuch, den Polizeieinsatz vom Demonstrationsgeschehen zu trennen, ist nicht realitätsgerecht. Vielmehr kaschiert er die polizeiliche Brutalität und die Knochenbrüche der Protestierenden.
Dass Angeklagte und sympathisierende Prozessbeobachter/innen offensichtlich noch immer als gefährlich gelten, zeigt sich an der Tatsache, dass weiterhin strenge Einlasskontrollen durchgeführt werden und in einem Hochsicherheitssaal verhandelt wird – mit einer fast deckenhohen Plexiglasscheibe, die die Besucherinnen und Besucher vom restlichen Prozessgeschehen räumlich trennt. Aufgrund der miserablen Akustik im Zuschauerbereich des Verhandlungssaals 288 beschweren sich immer wieder Zuhörerinnen und Zuhörer, weil sie nicht alles verstehen. Seitdem die Richterin kundtat, »da auch nichts machen« zu können, finden sich viele damit ab, kommen aber trotzdem weiter zu den Verhandlungstagen, um ihre Solidarität zu zeigen.
Das Gericht ist bestrebt, den Prozess Anfang September mit einem Urteil zu beenden. Zunächst aber wird die Verteidigung der Angeklagten noch die Möglichkeit für Stellungnahmen und Anträge haben.
Für den 24. August ruft das Solidaritätsbündnis »Gemeinschaftlicher Widerstand« zu Demonstrationen in Hamburg und Karlsruhe unter dem Motto »Versammlungsfreiheit verteidigen! Freispruch für die Angeklagten im G20-Rondenbarg-Prozess!« auf. Das Bündnis hat den Prozess begleitet und sämtliche Prozesstage auf seiner Webseite ausführlich protokolliert (https://gemeinschaftlich.noblogs.org).