Der Sommer bietet Gelegenheit, in Brandenburg Kirchen kennenzulernen. In jedem Dorf, und sei es noch so winzig, steht eine. Auch wenn sich die Gemeinde keine Pfarrstelle mehr leisten kann, existiert – im Unterschied zur Dorfkneipe mit Saal – dieser historische Kulturort unverändert und wird auch als solcher genutzt. Zumindest in der warmen Jahreszeit. Es finden Lesungen und Ausstellungen statt, Klangkörper und Solisten treten auf, gratis meist, gesponsert von regionalen Institutionen und den umliegenden Gärten – am Ende jedes Konzertes werden den Künstlern in der Regel lokale Marmelade und ein Behältnis mit der meist üppigen Kollekte übergeben, die das Publikum am Ausgang als Honorar darin versenkte. Wenngleich die Provinz tief ist, wie sie tiefer nicht sein kann, so ist es das gebotene Kulturniveau keineswegs. Bemerkenswert, wer dort auftritt und dem »einfachen« Volke Kunst nahebringt. Und wie groß das Interesse an Veranstaltungsreihen wie »Dorfkirchensommer« oder »Klassik in Dorfkirchen« ist. Seit Jahren schon fahren wir gern sommers übers Land.
An einem Sonntag im Juni machten wir uns auf nach Lindenhagen, einem Dorf jenseits von Prenzlau, im nordöstlichen Zipfel Brandenburgs gelegen. Nirgendwo sonst in Deutschland leben so wenig Menschen auf dem statistischen Quadratkilometer, weshalb man nach der Wende sehr viele Kommunen zu einer zusammenschloss. Mit mehr als dreitausend Quadratkilometern ist der Landkreis Uckermark größer als das Saarland, besiedelt von wenig mehr Menschen als in einer Großstadt leben. Lindenhagen selbst zählt vermutlich keine zweihundert Köpfe und ist darum nicht mehr eigenständig, sondern nur Teil der »Gemeinde Nordwestuckermark«. Bei diesem Kunstwort kommen doch sofort Heimatgefühle und -bindung auf, wenngleich nicht nur deshalb Landflucht erfolgt. Allerdings saßen erstaunlich viele Kinder auf dem harten Kirchengestühl, ich glaube, nicht alle machten Ferien bei Oma und Opa.
Die Kirche und die Mauer ringsum sind aus Feldsteinen, von denen hier reichlich vorkommen: Die Eiszeit hinterließ nicht nur eine schöne Landschaft und viele Seen, sondern eben auch unzählige Gesteinsbrocken. Nach 1687 ließen sich hier Flüchtlinge nieder, sie kamen aus Frankreich. Als erstes sanierten diese das damals bereits vierhundert Jahre alte Gotteshaus. Die Kanzel von 1708 stammt noch aus jener Zeit. Wie eben die ganze Ausstattung hugenottisch ist: schlicht und spartanisch, die Wände nackt, der Fußboden aus Ziegelsteinen, glatte Bretter an der Decke. Die Akustik hingegen: fantastisch. Es musizierte das Prenzlauer Preußische Kammerorchester, das so wenig preußisch war wie das begeisterte Publikum. Die zwölf festangestellten Musiker kamen aus sieben Nationen, die erste Violine spielte eine Japanerin. Sie führte auch durchs Programm und bezog das Publikum mit ein. Kinder durften auf Zeichen klingeln, rasseln oder pfeifen – ganz akademisch ging es zumindest bei Volksliedern und Filmmusiken nicht zu. Aber es gab auch Bach und Mussorgski. Und das exzellent. Die anderthalbstündige Autoreise von Berlin nach Lindenhagen hatte sich wahrlich gelohnt. (Wie dem Programm zu entnehmen war, teilt diese Freude in diesem Sommer ein reichliches Dutzend Dörfer, deren Namen unsereiner noch nie hörte oder las.)
Das Prenzlauer Orchester existiert seit 1994 und setzt die Tradition des vierzig Jahre zuvor an gleicher Stelle gegründeten Staatlichen Kreiskulturorchesters fort. Nebenbei: Die DDR, so räumt man heute ein, hatte die »beste Klassikversorgung weltweit« (Tagesspiegel vom 27. September 2020). Das war Verfassungsauftrag. Als aber mit dem Land auch dessen Verfassung unterging, verschwanden die meisten der 76 ostdeutschen Orchester. Nur wenige wie das Prenzlauer erlebten eine Wiedergeburt.
Beseelt vom Kunstgenuss und der Überzeugung, dass das Land vielleicht doch noch nicht so tot ist wie uns die täglichen Befunde in den Medien weismachen wollen, schlenderten wir zum Dorfanger, auf dem, natürlich, ein Monument mit Stahlhelm und Eisernem Kreuz an die Toten der beiden Kriege erinnerte. Unmut hingegen provozierte das Straßenschild: Hindenburger Platz. Und was für ein Deutsch! An der Haltestelle – an Werktagen stoppt hier fünfmal der Bus – steht ein gemauertes Wartehäuschen. Drinnen ein Sessel und alte Fotografien und Faksimiles unter Glas. »Ein kleines Heimatmuseum«, 24 Stunden täglich geöffnet bei freiem Eintritt, amüsierten wir uns und mussten sogleich unsere hauptstädtische Hochnäsigkeit herunterdimmen. Der Platz war nicht nach dem Kriegsverbrecher und Steigbügelhalter Hitlers benannt – sondern nach dem Ort: Lindenhagen hieß einst Hindenburg.
Im verständlichen Bemühen, nach dem Krieg die Wurzeln des Faschismus auszurotten, kam jemand in Prenzlau oder sonst wo auf die Idee, Hindenburg vom Ortsschild zu tilgen. Er wusste es nicht besser. 1946 sollte das Dorf in Butzbach umbenannt werden. Die Bewohner protestierten. Drei Jahre später gab es erneut einen Anlauf. Die Bürgermeisterin Neumann legte im März 1949 ein Schreiben vom Rat des Kreises vor, wonach es der Gemeindevertretung gestattet sei, einen neuen Namen zu wählen. Die Bürgermeisterin Neumann schlug Neumannsdorf vor, was aus naheliegenden Gründen abgelehnt wurde. Gegen den Willen der Dorfbewohner wurde durch den Erlass des Brandenburger Innenministers vom 24. September 1949 aus Hindenburg schließlich »Lindenhagen«. Am 8. November 1949 – inzwischen war die DDR gegründet – protestierten jedoch nicht wenige Menschen des Ortes bei der Landesregierung. »Der Ort Hindenburg hat mit dem Namen und der Sippe des Generalfeldmarschalls Hindenburg nicht das Geringste zu tun«, hieß es in dem Schreiben an die Obrigkeit. Der Dorfname gehe auf Fredericus von Hyndenborg zurück, der 1269 erstmals urkundlich erwähnt worden sei. Darum »bittet die gesamte Gemeinde, ihren alten Namen Hindenburg behalten zu dürfen. Es wäre auch nicht im demokratischen Sinne gehandelt, wenn gegen den Willen der gesamten Einwohnerschaft der Ortsname willkürlich geändert wird.«
Nun, die Landesregierung zeigte sich von dem Protest so wenig beeindruckt wie der Autor einer mit »Ker.« gezeichneten Notiz im Regionalblatt, welcher in der Ausgabe am 18. Dezember 1949 die Entscheidung »fortschrittlicher Kräfte« rühmte, »den an die Reaktion erinnernden Namen ›Hindenburg‹ aus dem Kreise Prenzlau verschwinden zu lassen«. Der Redakteur, augenscheinlich der Historie so unkundig wie der Innenminister und sich auf der Seite des Fortschritts wähnend, attackierte »reaktionäre Kräfte«, die das Rad der Geschichte zurückdrehen und den Namen Hindenburg zurückhaben wollten und dafür im Dorf sogar Unterschriften gesammelt hätten. (»Nicht rückwärts, sondern vorwärts!«, war übrigens sein Text überschrieben. Als »Vorwärts immer, rückwärts nimmer« sollte die Parole Jahrzehnte später trotzig wiederkehren.)
Die kollektive Intervention hat, wie wir sehen, nicht gefruchtet. Lindenhagen heißt noch immer Lindenhagen. Das Kind wurde also erfolgreich mit dem Bade ausgeschüttet, und 75 Jahre später erinnert sich daran kaum noch einer, um jenen aus Übereifer und Unwissenheit begangenen Betriebsunfall zu beheben.
Einen vergleichbar ideologiegesteuerten Aktionismus erleben wir seit etlichen Jahren auch in Berlin-Mitte. Der von den Grünen regierte Stadtbezirk will die Mohrenstraße umbenennen, weil der Begriff »Mohr« angeblich rassistisch sei. Was er aber so wenig ist wie Hindenburg in der Uckermark ein Denkmal für den Militarismus war. Die Debatte darüber ist geprägt von Unwissen, Rechthaberei und Ignoranz wissenschaftlicher Erkenntnisse. Das dokumentierte der renommierte Afrika- und Kolonialhistoriker Prof. Dr. Ulrich van der Heyden in einer unlängst erschienenen Streitschrift zum Umgang mit der kolonialen Vergangenheit Deutschlands*. Die begründeten Argumente gegen eine Umbenennung trafen auf taube Ohren, prallten ab am Schutzschild vermeintlich höherer Moral und Selbstgerechtigkeit. Sich selbst ermächtigte Aktivisten, die sie unterstützenden Politiker und Medien – allen voran die taz – erzielten mehr Resonanz und Wirkung als Wissenschaftler und Anwohner, bedauerte kopfschüttelnd der auch in Südafrika und Mosambik lehrende van der Heyden.
Für die »neuen Bilderstürmer« sei allein die Bezeichnung »Mohr« ein Beleg für Kolonialismus, weshalb er aus dem Sprachgebrauch und von Namensschildern getilgt werden müsse. Die Benennung ist allerdings älter als der europäische Kolonialismus. Bezeichnungen wie »Mohren-Apotheke« oder »Zum Mohren« (für Gastwirtschaften) gab es in Deutschland seit Jahrhunderten, also schon lange bevor das Deutsche Reich Kolonialmacht wurde. Mohr war zweifelsohne eine ehrende Bezeichnung für Menschen, die Wissen, etwa in Form von medizinischen Heilmitteln und -methoden, nach Europa brachten. Warum sonst sollten sich Apotheken so nennen? »Es war eine positive Referenz an die maurische (mohrische) Heilkunde«, so die Kolonialhistoriker. Im Umkehrschluss ließe sich also die rigorose Ausmerzung (!) des Begriffs »Mohr« als Rassismus bezeichnen.
Trotz des historisch neutralen Ursprungs der Mohrenstraße beschloss die Bezirksverordnetenversammlung im August 2020 die Umbenennung. Anwohner gingen dagegen juristisch vor, unter ihnen der bekannte Historiker Götz Aly. »Ich finde durchaus, dass an den deutschen Kolonialismus in kritischer Weise erinnert werden soll«, heißt es in seiner Klageschrift. Wie man es eben auch bei Hindenburg tun sollte. (Im Juli 2019 beschloss übrigens die BVV Steglitz-Zehlendorf auf Antrag der CDU-Fraktion und mit den Stimmen der Grünen, den Hindenburgdamm nicht umzubenennen. Das Verfahren bezüglich der Mohrenstraße hingegen läuft noch.)
Hindenburger Platz und Hindenburgdamm sind eben zwei verschiedene Paar Schuhe, nicht zu reden von den Mohren. Blinder Eifer und Aktionismus frei von Sachkenntnis sind also nichts Neues, wie der Ausflug nach Lindenhagen zeigte. Und dabei wollten wir nur ein Konzert in der Kirche erleben.
* Ulrich van der Heyden: Mohren, Missionare und Moralisten. Verlag am Park, Berlin 2024, 290 S. 22 €