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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Analoger Aktionismus

Der Som­mer bie­tet Gele­gen­heit, in Bran­den­burg Kir­chen ken­nen­zu­ler­nen. In jedem Dorf, und sei es noch so win­zig, steht eine. Auch wenn sich die Gemein­de kei­ne Pfarr­stel­le mehr lei­sten kann, exi­stiert – im Unter­schied zur Dorf­knei­pe mit Saal – die­ser histo­ri­sche Kul­tur­ort unver­än­dert und wird auch als sol­cher genutzt. Zumin­dest in der war­men Jah­res­zeit. Es fin­den Lesun­gen und Aus­stel­lun­gen statt, Klang­kör­per und Soli­sten tre­ten auf, gra­tis meist, gespon­sert von regio­na­len Insti­tu­tio­nen und den umlie­gen­den Gär­ten – am Ende jedes Kon­zer­tes wer­den den Künst­lern in der Regel loka­le Mar­me­la­de und ein Behält­nis mit der meist üppi­gen Kol­lek­te über­ge­ben, die das Publi­kum am Aus­gang als Hono­rar dar­in ver­senk­te. Wenn­gleich die Pro­vinz tief ist, wie sie tie­fer nicht sein kann, so ist es das gebo­te­ne Kul­tur­ni­veau kei­nes­wegs. Bemer­kens­wert, wer dort auf­tritt und dem »ein­fa­chen« Vol­ke Kunst nahe­bringt. Und wie groß das Inter­es­se an Ver­an­stal­tungs­rei­hen wie »Dorf­kir­chen­som­mer« oder »Klas­sik in Dorf­kir­chen« ist. Seit Jah­ren schon fah­ren wir gern som­mers übers Land.

An einem Sonn­tag im Juni mach­ten wir uns auf nach Lin­den­ha­gen, einem Dorf jen­seits von Prenz­lau, im nord­öst­li­chen Zip­fel Bran­den­burgs gele­gen. Nir­gend­wo sonst in Deutsch­land leben so wenig Men­schen auf dem sta­ti­sti­schen Qua­drat­ki­lo­me­ter, wes­halb man nach der Wen­de sehr vie­le Kom­mu­nen zu einer zusam­men­schloss. Mit mehr als drei­tau­send Qua­drat­ki­lo­me­tern ist der Land­kreis Ucker­mark grö­ßer als das Saar­land, besie­delt von wenig mehr Men­schen als in einer Groß­stadt leben. Lin­den­ha­gen selbst zählt ver­mut­lich kei­ne zwei­hun­dert Köp­fe und ist dar­um nicht mehr eigen­stän­dig, son­dern nur Teil der »Gemein­de Nord­westucker­mark«. Bei die­sem Kunst­wort kom­men doch sofort Hei­mat­ge­füh­le und -bin­dung auf, wenn­gleich nicht nur des­halb Land­flucht erfolgt. Aller­dings saßen erstaun­lich vie­le Kin­der auf dem har­ten Kir­chen­ge­stühl, ich glau­be, nicht alle mach­ten Feri­en bei Oma und Opa.

Die Kir­che und die Mau­er rings­um sind aus Feld­stei­nen, von denen hier reich­lich vor­kom­men: Die Eis­zeit hin­ter­ließ nicht nur eine schö­ne Land­schaft und vie­le Seen, son­dern eben auch unzäh­li­ge Gesteins­brocken. Nach 1687 lie­ßen sich hier Flücht­lin­ge nie­der, sie kamen aus Frank­reich. Als erstes sanier­ten die­se das damals bereits vier­hun­dert Jah­re alte Got­tes­haus. Die Kan­zel von 1708 stammt noch aus jener Zeit. Wie eben die gan­ze Aus­stat­tung huge­not­tisch ist: schlicht und spar­ta­nisch, die Wän­de nackt, der Fuß­bo­den aus Zie­gel­stei­nen, glat­te Bret­ter an der Decke. Die Aku­stik hin­ge­gen: fan­ta­stisch. Es musi­zier­te das Prenz­lau­er Preu­ßi­sche Kam­mer­or­che­ster, das so wenig preu­ßisch war wie das begei­ster­te Publi­kum. Die zwölf fest­an­ge­stell­ten Musi­ker kamen aus sie­ben Natio­nen, die erste Vio­li­ne spiel­te eine Japa­ne­rin. Sie führ­te auch durchs Pro­gramm und bezog das Publi­kum mit ein. Kin­der durf­ten auf Zei­chen klin­geln, ras­seln oder pfei­fen – ganz aka­de­misch ging es zumin­dest bei Volks­lie­dern und Film­mu­si­ken nicht zu. Aber es gab auch Bach und Mus­sorg­ski. Und das exzel­lent. Die andert­halb­stün­di­ge Auto­rei­se von Ber­lin nach Lin­den­ha­gen hat­te sich wahr­lich gelohnt. (Wie dem Pro­gramm zu ent­neh­men war, teilt die­se Freu­de in die­sem Som­mer ein reich­li­ches Dut­zend Dör­fer, deren Namen unser­ei­ner noch nie hör­te oder las.)

Das Prenz­lau­er Orche­ster exi­stiert seit 1994 und setzt die Tra­di­ti­on des vier­zig Jah­re zuvor an glei­cher Stel­le gegrün­de­ten Staat­li­chen Kreis­kul­tur­or­che­sters fort. Neben­bei: Die DDR, so räumt man heu­te ein, hat­te die »beste Klas­sik­ver­sor­gung welt­weit« (Tages­spie­gel vom 27. Sep­tem­ber 2020). Das war Ver­fas­sungs­auf­trag. Als aber mit dem Land auch des­sen Ver­fas­sung unter­ging, ver­schwan­den die mei­sten der 76 ost­deut­schen Orche­ster. Nur weni­ge wie das Prenz­lau­er erleb­ten eine Wiedergeburt.

Beseelt vom Kunst­ge­nuss und der Über­zeu­gung, dass das Land viel­leicht doch noch nicht so tot ist wie uns die täg­li­chen Befun­de in den Medi­en weis­ma­chen wol­len, schlen­der­ten wir zum Dorf­an­ger, auf dem, natür­lich, ein Monu­ment mit Stahl­helm und Eiser­nem Kreuz an die Toten der bei­den Krie­ge erin­ner­te. Unmut hin­ge­gen pro­vo­zier­te das Stra­ßen­schild: Hin­den­bur­ger Platz. Und was für ein Deutsch! An der Hal­te­stel­le – an Werk­ta­gen stoppt hier fünf­mal der Bus – steht ein gemau­er­tes War­te­häus­chen. Drin­nen ein Ses­sel und alte Foto­gra­fien und Fak­si­mi­les unter Glas. »Ein klei­nes Hei­mat­mu­se­um«, 24 Stun­den täg­lich geöff­net bei frei­em Ein­tritt, amü­sier­ten wir uns und muss­ten sogleich unse­re haupt­städ­ti­sche Hoch­nä­sig­keit her­un­ter­dim­men. Der Platz war nicht nach dem Kriegs­ver­bre­cher und Steig­bü­gel­hal­ter Hit­lers benannt – son­dern nach dem Ort: Lin­den­ha­gen hieß einst Hindenburg.

Im ver­ständ­li­chen Bemü­hen, nach dem Krieg die Wur­zeln des Faschis­mus aus­zu­rot­ten, kam jemand in Prenz­lau oder sonst wo auf die Idee, Hin­den­burg vom Orts­schild zu til­gen. Er wuss­te es nicht bes­ser. 1946 soll­te das Dorf in Butz­bach umbe­nannt wer­den. Die Bewoh­ner pro­te­stier­ten. Drei Jah­re spä­ter gab es erneut einen Anlauf. Die Bür­ger­mei­ste­rin Neu­mann leg­te im März 1949 ein Schrei­ben vom Rat des Krei­ses vor, wonach es der Gemein­de­ver­tre­tung gestat­tet sei, einen neu­en Namen zu wäh­len. Die Bür­ger­mei­ste­rin Neu­mann schlug Neu­manns­dorf vor, was aus nahe­lie­gen­den Grün­den abge­lehnt wur­de. Gegen den Wil­len der Dorf­be­woh­ner wur­de durch den Erlass des Bran­den­bur­ger Innen­mi­ni­sters vom 24. Sep­tem­ber 1949 aus Hin­den­burg schließ­lich »Lin­den­ha­gen«. Am 8. Novem­ber 1949 – inzwi­schen war die DDR gegrün­det – pro­te­stier­ten jedoch nicht weni­ge Men­schen des Ortes bei der Lan­des­re­gie­rung. »Der Ort Hin­den­burg hat mit dem Namen und der Sip­pe des Gene­ral­feld­mar­schalls Hin­den­burg nicht das Gering­ste zu tun«, hieß es in dem Schrei­ben an die Obrig­keit. Der Dorf­na­me gehe auf Fre­de­ri­cus von Hyn­den­borg zurück, der 1269 erst­mals urkund­lich erwähnt wor­den sei. Dar­um »bit­tet die gesam­te Gemein­de, ihren alten Namen Hin­den­burg behal­ten zu dür­fen. Es wäre auch nicht im demo­kra­ti­schen Sin­ne gehan­delt, wenn gegen den Wil­len der gesam­ten Ein­woh­ner­schaft der Orts­na­me will­kür­lich geän­dert wird.«

Nun, die Lan­des­re­gie­rung zeig­te sich von dem Pro­test so wenig beein­druckt wie der Autor einer mit »Ker.« gezeich­ne­ten Notiz im Regio­nal­blatt, wel­cher in der Aus­ga­be am 18. Dezem­ber 1949 die Ent­schei­dung »fort­schritt­li­cher Kräf­te« rühm­te, »den an die Reak­ti­on erin­nern­den Namen ›Hin­den­burg‹ aus dem Krei­se Prenz­lau ver­schwin­den zu las­sen«. Der Redak­teur, augen­schein­lich der Histo­rie so unkun­dig wie der Innen­mi­ni­ster und sich auf der Sei­te des Fort­schritts wäh­nend, attackier­te »reak­tio­nä­re Kräf­te«, die das Rad der Geschich­te zurück­dre­hen und den Namen Hin­den­burg zurück­ha­ben woll­ten und dafür im Dorf sogar Unter­schrif­ten gesam­melt hät­ten. (»Nicht rück­wärts, son­dern vor­wärts!«, war übri­gens sein Text über­schrie­ben. Als »Vor­wärts immer, rück­wärts nim­mer« soll­te die Paro­le Jahr­zehn­te spä­ter trot­zig wiederkehren.)

Die kol­lek­ti­ve Inter­ven­ti­on hat, wie wir sehen, nicht gefruch­tet. Lin­den­ha­gen heißt noch immer Lin­den­ha­gen. Das Kind wur­de also erfolg­reich mit dem Bade aus­ge­schüt­tet, und 75 Jah­re spä­ter erin­nert sich dar­an kaum noch einer, um jenen aus Über­ei­fer und Unwis­sen­heit began­ge­nen Betriebs­un­fall zu beheben.

Einen ver­gleich­bar ideo­lo­gie­ge­steu­er­ten Aktio­nis­mus erle­ben wir seit etli­chen Jah­ren auch in Ber­lin-Mit­te. Der von den Grü­nen regier­te Stadt­be­zirk will die Moh­ren­stra­ße umbe­nen­nen, weil der Begriff »Mohr« angeb­lich ras­si­stisch sei. Was er aber so wenig ist wie Hin­den­burg in der Ucker­mark ein Denk­mal für den Mili­ta­ris­mus war. Die Debat­te dar­über ist geprägt von Unwis­sen, Recht­ha­be­rei und Igno­ranz wis­sen­schaft­li­cher Erkennt­nis­se. Das doku­men­tier­te der renom­mier­te Afri­ka- und Kolo­ni­al­hi­sto­ri­ker Prof. Dr. Ulrich van der Heyden in einer unlängst erschie­ne­nen Streit­schrift zum Umgang mit der kolo­nia­len Ver­gan­gen­heit Deutsch­lands*. Die begrün­de­ten Argu­men­te gegen eine Umbe­nen­nung tra­fen auf tau­be Ohren, prall­ten ab am Schutz­schild ver­meint­lich höhe­rer Moral und Selbst­ge­rech­tig­keit. Sich selbst ermäch­tig­te Akti­vi­sten, die sie unter­stüt­zen­den Poli­ti­ker und Medi­en – allen vor­an die taz – erziel­ten mehr Reso­nanz und Wir­kung als Wis­sen­schaft­ler und Anwoh­ner, bedau­er­te kopf­schüt­telnd der auch in Süd­afri­ka und Mosam­bik leh­ren­de van der Heyden.

Für die »neu­en Bil­der­stür­mer« sei allein die Bezeich­nung »Mohr« ein Beleg für Kolo­nia­lis­mus, wes­halb er aus dem Sprach­ge­brauch und von Namens­schil­dern getilgt wer­den müs­se. Die Benen­nung ist aller­dings älter als der euro­päi­sche Kolo­nia­lis­mus. Bezeich­nun­gen wie »Moh­ren-Apo­the­ke« oder »Zum Moh­ren« (für Gast­wirt­schaf­ten) gab es in Deutsch­land seit Jahr­hun­der­ten, also schon lan­ge bevor das Deut­sche Reich Kolo­ni­al­macht wur­de. Mohr war zwei­fels­oh­ne eine ehren­de Bezeich­nung für Men­schen, die Wis­sen, etwa in Form von medi­zi­ni­schen Heil­mit­teln und -metho­den, nach Euro­pa brach­ten. War­um sonst soll­ten sich Apo­the­ken so nen­nen? »Es war eine posi­ti­ve Refe­renz an die mau­ri­sche (moh­ri­sche) Heil­kun­de«, so die Kolo­ni­al­hi­sto­ri­ker. Im Umkehr­schluss lie­ße sich also die rigo­ro­se Aus­mer­zung (!) des Begriffs »Mohr« als Ras­sis­mus bezeichnen.

Trotz des histo­risch neu­tra­len Ursprungs der Moh­ren­stra­ße beschloss die Bezirks­ver­ord­ne­ten­ver­samm­lung im August 2020 die Umbe­nen­nung. Anwoh­ner gin­gen dage­gen juri­stisch vor, unter ihnen der bekann­te Histo­ri­ker Götz Aly. »Ich fin­de durch­aus, dass an den deut­schen Kolo­nia­lis­mus in kri­ti­scher Wei­se erin­nert wer­den soll«, heißt es in sei­ner Kla­ge­schrift. Wie man es eben auch bei Hin­den­burg tun soll­te. (Im Juli 2019 beschloss übri­gens die BVV Ste­glitz-Zehlen­dorf auf Antrag der CDU-Frak­ti­on und mit den Stim­men der Grü­nen, den Hin­den­burg­damm nicht umzu­be­nen­nen. Das Ver­fah­ren bezüg­lich der Moh­ren­stra­ße hin­ge­gen läuft noch.)

Hin­den­bur­ger Platz und Hin­den­burg­damm sind eben zwei ver­schie­de­ne Paar Schu­he, nicht zu reden von den Moh­ren. Blin­der Eifer und Aktio­nis­mus frei von Sach­kennt­nis sind also nichts Neu­es, wie der Aus­flug nach Lin­den­ha­gen zeig­te. Und dabei woll­ten wir nur ein Kon­zert in der Kir­che erleben.

* Ulrich van der Heyden: Moh­ren, Mis­sio­na­re und Mora­li­sten. Ver­lag am Park, Ber­lin 2024, 290 S. 22 €

 

Ausgabe 15.16/2024