In den 60er Jahren gab es ein Chanson von Jacques Brel, jenem Liedermacher, der in seinen Texten oft die unerwiderte Liebe zu einer Frau zum Thema hatte: »Madelaine«. Die Angebetete, die nie zu dem erwarteten Rendezvous erscheint, wird schwärmerisch angehimmelt, und im Refrain heißt es dann: »Madelaine c’est mon éspoir, c’est mon Amérique à moi.« (Madelaine ist meine Hoffnung, sie ist mein Amerika.) Bis in die 80er Jahre war »Mon Amérique à moi« ein Synonym für das Beste, was einem passieren kann, die Erfüllung eines großen Traumes.
Frankreich hat den USA viel zu verdanken. Gleich zwei Mal leistete Amerika dem Land im vergangenen Jahrhundert die entscheidende militärische Hilfe gegen den deutschen Aggressor. Zwischen den beiden Kriegen gab es einen regen Kulturaustausch, Paris wurde zum bevorzugten Fluchtpunkt für amerikanische Intellektuelle, die ihrem prüden, bigotten Land zumindest zeitweise den Rücken kehrten. Henry Miller war einer ihrer bekanntesten Vertreter. Schwarze Musiker und Künstler genossen die Freiheiten der französischen Hauptstadt, welche ihnen im rassistischen Amerika nicht vergönnt waren, und brachten im Gepäck den Jazz nach Europa, wo sie ein begeistertes weißes Publikum vorfanden. Einige wie die Sängerin und Tänzerin Josephine Baker blieben in der neuen Heimat. Mit dem Eintritt der USA in die Anti-Hitler-Koalition nach der deutschen Kriegserklärung Ende 1941 änderte sich das Kräfteverhältnis auf dem europäischen Kontinent. Durch eine beispiellose Steigerung der Rüstungsproduktion konnte das Land bald nicht nur an der Pazifikfront, sondern auch in Europa eine immer stärkere Rolle spielen. 1943 ahnte die französische Philosophin Simone Weil in ihrem Londoner Exil kurz vor ihrem Tod, dass sich nach dem Sieg über die Hitlerdiktatur eine Amerikanisierung Europas abzeichnete, auf die eine Amerikanisierung der gesamten Welt folgen würde. In diesem Fall würde die Menschheit ihre Vergangenheit verlieren. Präsident Roosevelt misstraute General de Gaulle und dessen Freiem Frankreich, und als seine französischen Soldaten Paris befreiten, kamen sie auf amerikanischen Panzern. Die ersten zwölf Jahre nach dem Krieg waren vom Kalten Krieg und kolonialen Rückzugsgefechten bestimmt, Frankreich beherbergte in Rocquencourt westlich von Paris das NATO-Hauptquartier, amerikanische Soldaten waren auf französischem Boden stationiert. Das änderte sich 1959, ein Jahr nachdem de Gaulle seine neue Präsidialdemokratie installiert hatte. Zunächst zog Frankreich seine Flottenverbände aus dem NATO-Bündnis. 1960 erfolgte der erste französische Atomwaffentest in der algerischen Wüste, das Land gehörte somit zu den Atommächten.
1966 verlangte General de Gaulle die Unterstellung der in Frankreich stationierten amerikanischen und kanadischen Verbände unter französisches Kommando. Da die USA das ablehnten, zog sich Frankreich nun ganz aus dem militärischen Verband der NATO zurück, 30.000 Soldaten mussten Frankreich verlassen, das Hauptquartier des Nordatlantikpaktes wurde nach Belgien verlegt. Die Französische Republik war nun das einzige Land Westeuropas, welches sich dem direkten Einfluss der USA entzogen hatte. Die neue Strategie »tout azimut« beinhaltete die Verteidigungsfähigkeit in alle Himmelsrichtungen, nicht nur gegen den NATO-Hauptgegner Sowjetunion. Schon 1964 errichtete Frankreich in dem damals noch weitgehend isolierten China eine Botschaft, 1968 verhängte Frankreich ein Waffenembargo über Israel wegen des Einmarsches israelischer Truppen in den Libanon. Spektakulär war die 1966 von de Gaulle veranlasste Rückholung der französischen Goldreserven aus dem amerikanischen Fort Knox. Die Nachfolger de Gaulles auf dem Präsidentenstuhl änderten ihre Politik gegenüber den Vereinigten Staaten zunächst nicht. Erst Jacques Chirac wagte eine zumindest kulturelle Annäherung, als er 1987 gegen erhebliche Widerstände die Errichtung von Disneyland östlich von Paris genehmigte. Erst 2007, als der erklärte Amerika-Freund Nicolas Sarkozy in den Élysée-Palast einzog, wurde Frankreich wieder Vollmitglied der NATO. Der aktuelle Präsident ist hingegen aus nachvollziehbaren Gründen von der westlichen Führungsmacht enttäuscht und plädiert erst mal wie seinerzeit de Gaulle für ein souveräneres Europa.
Frankreich hat bis heute dem kulturellen Einfluss der westlichen Hegemonialmacht besser widerstanden als Resteuropa. Selbstverständlich legt auch Emmanuel Macron bisweilen beim Abspielen der Nationalhymne die Hand aufs Herz, und der kleine Drogendealer spricht seinen Richter mit »votre Honneur« (Euer Ehren) an, weil er das aus den auch in Frankreich verbreiteten US-Filmen so kennt. Aber die französische Film- und Musikproduktion hat sich gut behauptet, und dass sich die Anglizismen hier im Gegensatz zu Deutschland sehr in Grenzen halten, liegt nicht nur an einer selbstbewussten Kulturpolitik, die schnell mit französischen Wortschöpfungen reagiert, wenn sich ein Walkman (baladeur) oder Computer (ordinateur) einschleichen will. Was sich dagegen hartnäckig hält, ist das »bon weekend« für »schönes Wochenende« oder das »footing« für »jogging«. Auch die Werbung benutzt kaum englische Begriffe, denn schon wegen der in Frankreich so beliebten Wortspiele verbietet sich eine solche Reklame. Frankreichs berühmtester Rocksänger Jean-Philippe Smet, besser bekannt unter dem Namen Johnny Hallyday, griff das Thema »Mein Amerika« 1982 noch einmal auf. In dem Lied »Mon Amérique à moi« klingt trotz schwärmerischer Erinnerungen auch schon Kritik an: »Mein Amerika, das sind nicht die Wolkenkratzer, nicht die Polizisten, nicht die Waffen, nicht die Drogen, nicht das Blut.« Auf die Idee, die Geliebte als »mon Amérique« zu bezeichnen, käme heute niemand mehr.