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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Als Gastdozent in China

Pri­va­te Uni­ver­si­tä­ten haben in Deutsch­land den Ruf, Bil­dungs­stät­ten der Eli­te zu sein. Ent­spre­chend wei­sen Absol­ven­ten in ihren Bewer­bungs­schrei­ben gern auf sol­che Stu­di­en­ab­schlüs­se hin. In Chi­na ist das nicht durch­gän­gig so. Dort gibt es pri­va­te Uni­ver­si­tä­ten mit hohem Niveau, aber auch sol­che, die im Ver­gleich zu den staat­li­chen zwei­te Wahl sind. Stu­den­ten gehen zu sol­chen Unis nur, wenn sie an einer nor­ma­len kei­nen Stu­di­en­platz erhal­ten haben.

Wie in Deutsch­land sind pri­va­te Uni­ver­si­tä­ten auch in Chi­na teu­rer. 10.000 Yuan (etwa 1200 Euro) kostet das Stu­di­um pro Jahr, etwa dop­pelt so viel wie an einer staat­li­chen Ein­rich­tung. Viel Geld für eine chi­ne­si­sche Fami­lie, aller­dings gibt es Stipendien.

Wel­che Uni jemand besu­chen darf, ent­schei­den die gro­ßen, lan­des­wei­ten Prü­fun­gen nach dem Abschluss der Ober­schu­le. In vier Fächern wer­den die Kan­di­da­ten geprüft: Chi­ne­sisch, Eng­lisch, Mathe­ma­tik, dazu ent­we­der eine Gei­stes­wis­sen­schaft (etwa Erd­kun­de) oder eine Natur­wis­sen­schaft (Phy­sik, Che­mie). Pro Fach sind 150 Punk­te erreich­bar, 470 Punk­te benö­tigt man für die Zulas­sung zur Uni, also in drei Fächern eine Zwei, im vier­ten kann man etwas schwä­cher sein.

Danach darf man sich bewer­ben, darf, je nach Höhe der Punkt­zahl, das Stu­di­en­fach benen­nen und die Uni, an der man am lieb­sten stu­die­ren wür­de. Wer für eine staat­li­che Bil­dungs­ein­rich­tung zu wenig Punk­te erreicht, dem bleibt der Weg auf die Pri­vat­uni. Es gibt aber auch gute Stu­den­ten, die alles auf eine Kar­te set­zen, nur ein ambi­tio­nier­tes Stu­di­en­fach und eine Uni ange­ben – und wenn sie dann nicht rein­rut­schen, eben­falls nur noch den pri­va­ten Weg wäh­len können.

Ich habe an bei­den Uni­ver­si­täts­ty­pen mehr­fach als Gast­do­zent »Deut­sche Lite­ra­tur« unter­rich­tet und hat­te immer span­nungs­rei­che Wochen mit unver­gess­li­chen Erlebnissen.

Beson­ders inter­es­sant war die Pri­vat­uni »Fanyi« in einem Dorf in der Nähe der alten Kai­ser­stadt Xi´an. 20.000 jun­ge Men­schen stu­die­ren dort, dar­un­ter etwa tau­send Ger­ma­ni­stik­stu­den­ten. Gegrün­det wur­de die Ein­rich­tung von Herrn Ding, der 1987 ein ver­las­se­nes Fabrik­ge­bäu­de in dem Dorf kauf­te und die Uni nach und nach zu dem rie­si­gen Kom­plex aus­bau­te, der den Besu­cher in Stau­nen ver­setzt. 2011 schenk­te er sie dem Staat, mach­te sei­ne Toch­ter zur Che­fin und starb kurz dar­auf. »Fanyi« ist also inzwi­schen so etwas wie eine halb­staat­li­che Uni.

Chi­ne­si­sche Uni­ver­si­tä­ten sind Cam­pus­unis. Die Stu­den­ten woh­nen in Wohn­hei­men auf dem Gelän­de, acht Stu­den­ten in einem Zim­mer, Vor­le­sungs- und Semi­nar­räu­me befin­den sich direkt neben­an, selbst­ver­ständ­lich auch Biblio­the­ken und eine rie­si­ge Men­sa. Das Essen ist preis­wert und nahr­haft. Als Dozent hät­te ich stets in geson­der­ten Räu­men essen kön­nen, aber ich setz­te mich gern zu den Stu­den­ten und hol­te mir das nor­ma­le Mensaessen.

»Fanyi« ver­fügt außer­dem über ein gro­ßes Sta­di­on für die Sport­stu­den­ten. Es wür­de jedem Dritt­li­gi­sten im deut­schen Fuß­ball alle Ehre machen. Dort fin­det das jähr­li­che Sport­fest statt, an dem alle Fakul­tä­ten mit einer Mann­schaft teil­neh­men. Wie die Natio­nen bei den Olym­pi­schen Spie­len mar­schie­ren die ein­zel­nen Fakul­tä­ten ein, dar­un­ter zu mei­ner Über­ra­schung eine Mann­schaft aus deut­lich älte­ren Män­nern und Frau­en. Es war die Dienst­lei­stungs­mann­schaft, waren die Rei­ni­gungs­kräf­te, die Men­sa- und Biblio­theks­an­ge­stell­ten. Auch sie gehö­ren, wur­de mir stolz gesagt, zum Uniteam.

Direkt neben­an gibt es ein Fahr­ge­län­de, wo man den Füh­rer­schein machen kann.

Inzwi­schen ist »Fanyi« so groß, dass es zwi­schen der Haupt­stra­ße des Dor­fes und dem angren­zen­den Gebir­ge kei­nen Platz mehr für neue Gebäu­de gibt. Des­halb muss­te sich der Cam­pus auf die ande­re Stra­ßen­sei­te aus­wei­ten. Die Fanyi-Stu­den­ten sol­len aber wäh­rend der Woche das Unige­län­de nicht ver­las­sen, son­dern sich ganz auf das Stu­di­um kon­zen­trie­ren, wes­halb es eine Brücke über die Haupt­stra­ße gibt, so dass die Stu­den­ten das mit Zäu­nen umgrenz­te Gelän­de nicht ver­las­sen müs­sen. Im Prin­zip ist das auch nicht nötig, es gibt gut sor­tier­te Lebens­mit­tel­ge­schäf­te, in denen man alles, nur kei­ne Ziga­ret­ten kau­fen kann. Die­se Pra­xis hat einen faden Beigeschmack.

Rau­chen ist auf dem Unige­län­de ver­bo­ten. Auch dafür gibt es jedoch eine Lösung. Dorf­be­woh­ner war­ten schon, dass ein Stu­dent ans Git­ter­tor tritt, ihnen ein paar Yuan in den Hand drückt, für die sie dann Ziga­ret­ten kau­fen. Trink­geld inbe­grif­fen. Die Wach­leu­te am Ein­gang über­se­hen es.

Bei mei­nen Vor­le­sun­gen saßen stets etwa 200 Stu­den­ten vor mir. Sie hat­ten seit drei Jah­ren Deutsch­un­ter­richt, mit der Gram­ma­tik (der Dekli­na­ti­on) noch Pro­ble­me, aber in der Recht­schrei­bung waren sie unglaub­lich sicher. An deut­schen Gym­na­si­en habe ich da noch in der Mit­tel­stu­fe ganz ande­re Erfah­run­gen machen müssen.

Ich muss­te bei mei­nen Vor­trä­gen lang­sam und über­be­tont deut­lich spre­chen, dann wur­de ich ganz gut ver­stan­den, wie mei­ne Nach­fra­gen am Ende der Ver­an­stal­tung bewiesen.

Chi­ne­si­sche Stu­den­ten sind flei­ßig, denkt man. Der Druck ist groß, ihre Eltern sind zu gro­ßen Opfern bereit. Da muss es klap­pen mit dem Stu­di­um, nicht zuletzt ver­lie­ren Fami­lie und Stu­dent im Fal­le des Schei­terns »ihr Gesicht«. Aber zuletzt mach­te ich auch ande­re Erfah­run­gen. Bei man­chen Vor­le­sun­gen, bemerk­te ich, waren die Stu­den­ten in den bei­den letz­ten Rei­hen mit ihrem Han­dy beschäf­tigt, spiel­ten, ver­schick­ten eine SMS. Als ich den Pro­fes­so­ren mei­ne Ver­wun­de­rung aus­drück­te und sag­te, dass mein Sohn, wür­de er mit dem Han­dy in einem Semi­nar erwischt, sofort den Raum ver­las­sen müss­te, staun­ten sie. »Wir dach­ten, ihr Deut­schen seid so locker.« Ich war mir nicht sicher, wie ich das bewer­ten soll­te, und ent­schied mich, es posi­tiv zu sehen. So groß ist der Druck in Chi­na dann doch nicht, dach­te ich.

Chi­ne­si­sche Stu­den­ten sind anders, stell­te ich im Lau­fe der Jah­re in mei­nen Semi­na­ren fest. Ich bemüh­te mich immer um einen locke­ren Ton­fall, um iro­ni­sche Wen­dun­gen, humo­ri­ge Ein­schü­be, die die Auf­merk­sam­keit stei­gern und wodurch den Zuhö­rern, wie ich in vie­len Jah­ren als Leh­rer fest­stel­len konn­te, die Fak­ten län­ger im Gedächt­nis blei­ben. Bei mei­nen ersten Semi­na­ren wun­der­te ich mich, dass die Stu­den­ten gar nicht lach­ten, selbst als ich einen klei­nen Gag wie­der­hol­te und sicher war, dass sie ihn ver­stan­den hat­ten. Erst als ich ihnen zwei Wochen spä­ter mit­teil­te, dass mei­ne heu­ti­ge Ver­an­stal­tung die letz­te sei und ich am fol­gen­den Tag nach Hau­se flie­gen wür­de, drück­ten sie ihr Bedau­ern aus. Das sei aber scha­de, sag­ten sie, es wäre bei mir doch immer so lustig gewe­sen. Nach eini­gen Chi­na-Auf­ent­hal­ten ken­ne ich jetzt die Hin­ter­grün­de: Die Stu­den­ten lach­ten nach innen, offen darf ein chi­ne­si­scher Schü­ler oder Stu­dent nicht über sei­nen Leh­rer lachen. Das wird als respekt­los ver­stan­den. Bei mir hät­ten sie es ruhig machen kön­nen, aber das wuss­ten sie natür­lich nicht.

In den Zusam­men­hang passt auch eine Erfah­rung, die ich mal bei einer Lesung aus mei­nen Büchern im Auf­tra­ge des Goe­the-Insti­tuts in Xi´ans rie­si­ger Biblio­thek mach­te. Nach der Lesung mei­ner Tex­te bat ich um Fra­gen, Pro­fes­so­ren, mei­ne Stu­den­ten und ande­re Leu­te mit Deutsch­kennt­nis­sen waren unter den Zuhö­rern. Die Pro­fes­so­ren frag­ten etwas, ich ant­wor­te­te, dann trat eine Pau­se ein, ich bat um wei­te­re Fra­gen, aber es blieb still. Genau in dem Moment, als ich die Ver­an­stal­tung mit Bedau­ern been­den woll­te, mel­de­te sich der erste Stu­dent. Danach gab es ein mun­te­res, lan­ges und auch für mich anre­gen­des Gespräch. Auch hier hat­te ich mal wie­der nicht die chi­ne­si­sche Men­ta­li­tät bedacht. Die Pro­fes­so­ren haben den Vor­tritt. Erst als die Stu­den­ten sicher waren, dass von den Hoch­schul­leh­rern kei­ner mehr eine Fra­ge hat­te, waren sie an der Reihe.

Wenn ich mit Stu­den­ten auf dem Unige­län­de zusam­men­saß, waren sie immer zutrau­lich, stell­ten alle mög­li­chen Fra­gen und baten mich um Rat, selbst bei pri­va­ten Pro­ble­men, was ich als eine klei­ne Bestä­ti­gung mei­ner Arbeit empfand.

Aber auch bei Sach­pro­ble­men soll­te ich hel­fen und konn­te dabei fest­stel­len, dass man­che Semi­nar­ar­beit, die sie schrei­ben müs­sen, es wirk­lich in sich hatte.

Ob ich ihr bei einem schwie­ri­gen The­ma Rat geben kön­ne, frag­te mich eine Stu­den­tin aus dem vier­ten Jahr­gang mal, und groß­spu­rig hat­te ich sofort zuge­stimmt. Na klar, war­um nicht? Wel­chen Ein­fluss Tho­mas von Aquin auf die deut­sche Roman­tik hat­te, muss­te sie bear­bei­ten, ob ich ihr dazu etwas sagen kön­ne. Ich muss­te schlucken, mit so einem The­ma hat­te ich wirk­lich nicht gerech­net. Ein biss­chen konn­te ich dann doch erzäh­len, aber die The­men, die den Stu­den­ten gestellt wer­den, weiß ich seit­dem, haben stets einen hohen Anspruch. Und ideo­lo­gisch platt, wie man das Chi­na immer unter­stellt, sind sie auch nicht.

Man­che der Stu­den­ten, stell­te ich im Lau­fe der Jah­re fest, woh­nen weit weg von ihren Eltern. Von Xi´an bis in die inne­re Mon­go­lei, woher einer mei­ner Stu­den­ten kam, fährt man mit dem Zug fast vier­zig Stun­den. Sei­ne Eltern sah er höch­stens ein­mal im Jahr. Eine ande­re Stu­den­tin wein­te mal in mei­nem Semi­nar. Ihre Mut­ter lag im Ster­ben, erzähl­te sie mir in der Pau­se. Doch fehl­te ihr das Geld für die lan­ge Rei­se in den Süden, die fast zwei Tage gedau­ert hät­te. Sie hat ihre Mut­ter wohl nie wiedergesehen.

Heim­weh ist ein Gefühl, das vie­le der Stu­den­ten ken­nen, nicht ver­wun­der­lich unter die­sen Bedin­gun­gen. Ich konn­te es aus den Tex­ten mei­ner Kurs­teil­neh­mer lesen, als ich sie mal – nach Anlei­tung – bat, Gedich­te zu schrei­ben. Die Melan­cho­lie und die Meta­pho­rik der wirk­lich anspruchs­vol­len lyri­schen Tex­te waren beredt. Man­ches, was für chi­ne­si­sche Stu­den­ten selbst­ver­ständ­lich ist, kön­nen sich deut­sche Stu­den­ten nicht mal den­ken, merk­te ich. Was in man­chen Punk­ten auch gut so ist.

Ein trau­ri­ges Kapi­tel sind aller­dings die deut­schen Fir­men. Immer wie­der zeig­ten mir die Ger­ma­ni­stik­pro­fes­so­ren Stel­len­aus­schrei­bun­gen deut­scher Fir­men, die sie ans Info­brett der Fakul­tät hef­ten. VW, Sie­mens, sie alle suchen Arbeits­kräf­te. Ein Ein­stel­lungs­kri­te­ri­um sind gute Eng­lisch­kennt­nis­se, damit ihre Mit­ar­bei­ter, wie es da steht, mit der Zen­tra­le in Deutsch­land kom­mu­ni­zie­ren kön­nen. Ich ver­ste­he dann den trau­ri­gen Blick mei­ner Freun­de. War­um unter­rich­ten wir sie dann in Deutsch, wenn deut­sche Fir­men das gar nicht brauchen?

Fran­zo­sen sind da anders, selbst­ver­ständ­lich müs­sen Bewer­ber bei ihren Fir­men Fran­zö­sisch spre­chen. Unser gebro­che­nes Selbst­be­wusst­sein nach dem ent­setz­li­chen Faschis­mus ver­hin­dert bis heu­te ein ent­spann­tes Ver­hält­nis zur eige­nen Kul­tur und Spra­che. Dabei ist das Inter­es­se dar­an im Aus­land, gera­de auch in Chi­na, groß.

Inzwi­schen weiß ich, wel­che The­men chi­ne­si­sche Ger­ma­ni­stik­stu­den­ten am mei­sten inter­es­sie­ren. Die deut­sche Roman­tik kommt immer gut an, der Rhyth­mus eines Eichen­dorff-Gedichts berührt sie. Goe­the ist wich­tig, aber auch die Gegen­warts­li­te­ra­tur. Ein­mal muss­te ich Pro­fes­so­ren und Stu­den­ten das isra­el­kri­ti­sche Gedicht von Gün­ter Grass erklä­ren. Sie waren irri­tiert und woll­ten wis­sen, war­um es in Deutsch­land so hohe Wel­len schlug.

Es ist für mich ein schö­nes Gefühl zu wis­sen, dass auf der ande­ren Sei­te der Erd­ku­gel jun­ge Leu­te her­um­lau­fen, denen ich deut­sche Lite­ra­tur ein wenig nahe­brin­gen konn­te. Man­che von ihnen mel­den sich bis heu­te per Mail bei mir und berich­ten »ihrem Leh­rer« brav, was sie zuletzt an anspruchs­vol­len Tex­ten gele­sen haben. Dann stau­ne ich und den­ke, ob deut­sche Ger­ma­ni­stik­stu­den­ten das wohl auch lesen?