Aus der Feder von Willi Herzog (1901-1970), Lehrer und Journalist aus Dortmund, Widerstandskämpfer in Deutschland und Frankreich, Verfolgter des Naziregimes, stammen aufgefundene Dokumente. Darunter ein bemerkenswertes Zeugnis des Kalten Krieges, ein Briefwechsel mit der Stadt Dortmund.
Die Stadt Dortmund genehmigte der VVN Dortmund (damals noch ohne Zusatz BdA) in einem Brief an den Vorsitzenden Willi Herzog am 12. September 1952 eine Gedenkfeier vor dem Tatort eines Gestapo-Massakers, dem Forsthaus im Rombergpark zu »Ehren der Opfer des blutigen Karfreitags 1945« mit den Auflagen: Keinen geschlossenen An- und Abmarsch vorzunehmen, auf das Zeigen von FDJ-Emblemen zu verzichten, keine hoch- und landesverräterischen Inhalte zu zeigen, in Reden nicht gegen Gesetze zu verstoßen, in Straßen keine Zettel zu kleben – und dies alles gemäß Kontrollratsgesetz, Grundgesetz und »§1 Abs. 2 der Verordnung des Reichspräsidenten zum Schutze des deutschen Volkes vom 4.2.1933«.
Oder dies: Der Vorsitzende Richter und Landgerichtsdirektor Anton Rheinländer schreibt am 25. Juni 1953 an Willi Herzog und droht ihm ein Strafverfahren an. Rheinländer war 1946 Mitbegründer der VVN Dortmund und führte nun politische Prozesse gegen VVN-Mitglieder, wogegen die VVN Dortmund protestiert hatte. Den Protestbrief, in dem Rheinländer mit antifaschistischen Äußerungen von früher konfrontiert wurde, empfindet er nun als beleidigend.
Solche dreist offenen Bekundungen aus der Zeit des Kalten Krieges findet man nicht oft. Besonders, dass noch 1952 eine Notverordnung aus dem Februar 1933 galt, ist bemerkenswert.
Vor 1933 betrieb Willi Herzog gemeinsame Recherchen mit Bernard von Brentano. Die Ergebnisse flossen ein in Brentanos Buch mit dem prophetischen Titel »Der Beginn der Barbarei in Deutschland«, 1932 bei Rowohlt in Berlin erschienen.
Die Barbarei begann in der Tat lange vor 1933. Man lese nur die Geschichte der Frau, die im Oktober 1931 im Zug aus Stendal in eine Männergesellschaft von Stahlhelmern geriet. »Einer erzählt von Braunschweig. ›Ja, ich war mit in Braunschweig. Es war ein großer Erfolg für uns, nur in manchen Straßen hat sich die Bevölkerung sehr schofel benommen.‹ Schofel ist gut. Es ist ein Tag nach der Beerdigung der Naziopfer in Braunschweig. Ich deute auf meine Zeitung und sage: ›Hier wird gerade berichtet von der Beerdigung der Opfer.‹ Jetzt wird der Mann lebendig. ›Die Zeitungen verhetzen bloß die Arbeiter, aber wir werden es ihnen schon zeigen. Wir haben in Braunschweig friedlich demonstriert, und dabei hat ein Arbeiter (er sagte Arbeiter, nicht Kommunist) auf einen Mann von uns hinterrücks mit dem Messer eingestochen. Na, den haben wir gekriegt. Den haben wir buchstäblich auseinandergerissen; wir haben ihm den Kopf ab- und Arme und Beine ausgerissen. Einen anderen haben wir verfolgt, aber nicht mehr bekommen, weil die Polizei kam. Mit dem hätten wir es genauso gemacht.‹ Mir wurde übel.«
Ob die Polizei dem Arbeiter geholfen hätte? Das ist fraglich, liest man die Berichte in dem Gemeinschaftsbuch über die Rolle der Polizei von Weimar. Sie verstand sich vor allem als bewaffneter Arm der herrschenden Klasse gegen die Arbeiterbewegung. Dutzende Zitate aus Lehrbüchern und Fachzeitungen wie »Polizeiaufgaben mit Lösungen« (Berlin 1927), »Almanach zum Polizeiball« (Berlin 1926), »Die Polizeipraxis« (Jahrgang 1930) belegen es. Beispiel für die Feindschaft eines Großteils der Polizei gegen die Weimarer demokratische Republik: »Die Vereinigung der Polizeioffiziere hat der ›B.Z. am Mittag‹ eine Mitteilung zugehen lassen, in der die Stellung der Herren dem republikanischen Staat gegenüber präzisiert ist: ‹Ich liebe dich nicht, trotzdem diene ich dir und nehme von dir Stellung und Gehalt. Ja, ich erkläre sogar, dass ich deine Staatsform, auch unter Einsatz des Lebens, verteidigen will. Korrekt, nicht wahr? Nun aber bitte keine weiteren Belästigungen oder gar Propaganda für die republikanische Staatsform machen und jüngeren Kameraden Vorbild, Erzieher sein, Lust und Liebe zur Republik wecken. Im Gegenteil: Gesinnungsgenossen stärken, Schwankende stützen, und bei Wahlen kann mir niemand in den Wahlzettel gucken. Letzten Endes wird ja die Karre doch mal umgeworfen, und dann sind wir die großen Leute.«
Sollte man den Nazis Auflagen machen und ihnen Verbote erteilen, so gelte das, was in einer Aktennotiz von Staatssekretär Oberst von Bredow am 26. Juli 1932 festgehalten wurde: »Sie können uns die größten Strapazen auferlegen, sie können uns hungern lassen, aber das Recht zur Rache lassen wir uns von niemand nehmen, auch nicht von unserem Führer!« (Hitler hatte sich zur »Legalität« bekannt.)
Die Frage der Bewaffnung der Polizei war eine drängende. Straßenkampf per Straßenwagen für sechs Personen, Einsatz von »amerikanischem Polizeigas«, Schießen vom Kraftrad, »Verlegung des Rückwegs« – das sind so die Themen. Mit Lockspitzeln galt es zusammenzuarbeiten – das war nicht »moralwidrig«. Sodann Wasserwerfer, Maschinengewehre und -pistolen, Handgranaten, Leuchtpistolen. Alles dabei. Brentano und Herzog fassen zusammen: »Die berittenen Patrouillen in den Quartieren der Arbeiter erwecken den Eindruck, als befände man sich in erobertem Gebiet. Der Eindruck ist richtig. Es handelt sich darum, jeden Versuch der Arbeiterschaft, ihre Lage zu verändern und zu verbessern, sofort zu ersticken.«
Brentano schildert ein Gespräch mit einem alten demokratischen Journalisten, »der eine leitende Position in einer großen Zeitung innehatte« und vor dem Ersten Weltkrieg als Korrespondent in London für eine Berliner Zeitung tätig war. Man sprach über den 1. Mai 1929, »als man in Berlin einen Bürgerkrieg inszenierte und in mehreren Straßen des Arbeiterviertels Proleten wie Hasen jagte und abschoss«. Der alte Kollege sagte: »Vor dem Krieg hätte ein solches Vorgehen der Polizei zur sofortigen Revolution geführt.« Bei Streikunruhen sei vor dem Krieg in Berlin einmal ein Arbeiter getötet worden. Damals erregte es die Öffentlichkeit in starkem Maße. Nach Berlin musste der Korrespondent ständig berichten, wie in England darüber gedacht wurde. Aber 1929 ging der Blutmai fast ohne Aufregung durch. Jedoch: Die Weltbühne thematisierte das Verbrechen und nannte den Verantwortlichen, den SPD-Polizeipräsidenten.
Und heute? Die Polizei kennt vielerorts nicht die Arbeiterklasse als Feind. Aber die Menschen mit Migrationshintergrund sehr wohl. Und wieder ging die Bewaffnung der Polizei mit Tasern und Maschinenpistolen glatt durch, die in jedem Polizeiwagen mitzuführen sind, In NRW ging dies auf eine Anordnung von Innenminister Herbert Reul (CDU) zurück. Diese Anordnung konnte nur als Aufforderung angesehen werden, diese Waffen auch einzusetzen. Und das geschah im August 2022 dann in der Dortmunder Nordstadt. Ein 16-jähriger Senegalese wurde mit Taser und MP erschossen. Demonstranten wiesen auf Schildern darauf hin, dass derartiges hundertfach in Deutschland passiert. Nur – so sagen Experten – in zwei Prozent der Fälle von tödlicher Polizeigewalt kommt es zur Anklage. (In der Weimarer Zeit war es ähnlich.) Dies geschieht nun endlich auch in Dortmund. Gegen fünf Schützen mit Tasern und Maschinenpistole wurde Anklage erhoben, in einem Fall wegen Totschlags.
Bernard von Brentano: Der Beginn der Barbarei in Deutschland, 1932, Rowohlt Verlag Berlin.