Stuttgart besitzt einen desolaten Hauptbahnhof als Dauerbaustelle. Das Opernhaus mutierte beim Traditionstreffen der FDP am Tag der Heiligen Drei Könige digital für eine Stunde zur Hall of Fame für den Gralshüter bundes-föderaler Freiheit: Christian Lindner. Der Schattenkanzler von eigenen Gnaden, der alles bisher Gewohnte dieser Wankelpartei übertroffen hatte, musste sich mit einer einstündigen Kundgebung im publikumsfreien Opernhaus begnügen. Corona kannte keinen Pardon für den Mann, der strengen Blickes wochenlang mit staatsmännischer Attitüde Ampelregeln im Koalitionspoker vorgegeben hatte. Zu seiner natürlichen Befähigung als intellektueller Überflieger ward ihm nämlich in Wehrübungen des Luftwaffenführungskommandos Köln-Wahn praktische Erfahrung als Einsatztagebuchführer zuteilgeworden.
Bei der Jamaika-Kungelei vor vier Jahren, nach dem Wiedereinzug der FDP in den Bundestag, hatte der Mann erfolgsduselig zu hoch gepokert. Die zu späte Erkenntnis: »Mit knapp 11 Prozent kann man nicht den Kurs einer ganzen Republik diktieren«. Die Niederlage falschmünzte er flugs ins Positive: »Es ist besser, nicht zu regieren, als falsch zu regiere«. Heuer fehlte es im Vorfeld an Fantasie für eine Ampelkoalition sowie erneut an gewichtenden Prozenten. Deshalb wurde ein Spektakel nach altrömischer Art inszeniert: divide et impera!
Zuerst Schmusekurs mit den Grünen. Deren Spitzenpersonal entledigte sich anstandslos jeglicher Bedenken. Der autoritäre Regisseur und die Gespielen zinkten die Karten nach Belieben. Zu späteren Meetings der Dreifarballianz erschien im Pulk der Erbfolger von Angela Merkel immer erhobenen Hauptes und forschen Schritts: der Gladiator der Freidemokraten. Mit mageren 11,5 Prozent der Wählerstimmen, marginalen 0,8 Punkten mehr als 2017, obsiegte er scheinbar im Nachgang über die SPD mit deren 25,7 Prozent. Verkehrte Welt war angesagt. Das Wahlvolk bekam wortschwallige Statements als Strafe. Unwort des Jahres ob des unerträglichen Dauergebrauchs: Herausforderungen.
Hanseatisch geprägte Gelassenheit bewies Pokerface Olaf Scholz. Der Kanzler in spe mit Richtlinienkompetenz laut GG und die ganze SPD öffentlich gedeppt? Ein bundesgeschichtlich einmaliger Affront. Gerhard Schröder und selbst ein Gemütsmensch wie Kurt Beck hätten garantiert drastisch reagiert. Stattdessen pure sozialdemokratische Freude und Einigkeit aller Getreuen sowie der etwaigen grün-gelben Mitregierer nach außen. Das machte skeptisch!
Schließlich die wortkarge Botschaft: Mehr Fortschritt wagen mit verschwurbelten Verheißungen (siehe Bernd Trautvetter »Zum Koalitionsvertrag«, in Ossietzky 24/2021). War der SPD als Koalitionspartner in den letzten Jahrzehnten nicht hinreichend Gelegenheit gegeben, Fortschritte zu bewirken? Das Gegenteil befeuerte zuletzt ihr Außenminister Heiko Maas hinreichend. Scholz selbst hatte sich längst seiner Juso-Vergangenheit entledigt. Das waren noch Zeiten, als er gegen Nato und Rüstung und Kapitalismus aufmuckte. Annalena Baerbock will den bisherigen russophoben Kurs toppen. Ihren ersten Auftritt in Paris nutzte sie, um Russland im Falle einer Eskalation im Ukraine-Konflikt mit schweren Folgen zu drohen. Die Nato und Kiew wären die richtige Adresse gewesen. Noch vor ihrem offiziellen Amtsantritt kündigte sie härtere Maßnahmen gegen die Volksrepublik China an, einen Olympia-Boykott der Pekinger Winterspiele inklusive.
Dem durch die vierte unbeherrschte Corona-Welle schwer gebeutelten Land bleibt nichts erspart. The Show must go on. Das farbgemischte Koalitionspapier segneten Sonderparteitage von SPD und FDP ab. Sonst Diktaturen zugeordnete Prozentmehrheiten sowie das dürftige grüne Mitgliedervotum heiligten das Maximum des kleinsten gemeinsamen Nenners. Nach der Unterzeichnung blitzte beim FDP-Chef auf der Bundespressekonferenz kurz der Oppositionelle mit Verweis auf Leitplanken durch, um Steuererhöhungen zu vermeiden und ab 2023 wieder die Schuldenbremse anzuziehen. Der Sozialbremser im Originalton: »Die Freien Demokraten stehen nicht für einen Linksruck in Deutschland zur Verfügung, weil wir bereits sehr viel linke Politik in unserem Land haben.«
Werden jetzt alle Kanzlerblütenträume samt grüner Garnitur am Spartropf verdorren? Ein weichgespülter, sich in Demut übender Lindner fand lobende Worte für den bisherigen Chef über die Bundesfinanzen: Die Finanzplanung sei »vorausschauend« gewesen. Jetzt spätestens wird klar, weshalb sich Olaf Scholz in Wire-Card-Gelassenheit und Cum-Ex-Geduld übte. Sein Insiderwissen ist der Joker schlechthin. Als Vizekanzler und Vorgänger im Amt kennt er sich bestens mit der Kontrolle über die Finanzspielräume praktisch aller anderen Ministerien aus, einschließlich der Investitionen. Auf den neuen sparfuchsigen Machthaber, der sozusagen im Blindflug in der Wilhelm-Straße landete, kommen harte Zeiten der Erkenntnis am Kanzlertisch zu. Alle gegen einen und alle gegen jede*n.
Ein spektakuläres Sanierungswunder wäre z. B. eine jährliche Kürzung des Wehretats um 20 Prozent (wir wollen es ja nicht gleich übertreiben!). Der Garaus für das teure bonn-berlinische Spektakel von Doppelministerien wäre ein weiteres Pfund, mit dem zu wuchern wäre. Selbst im Land der unbegrenzten Möglichkeiten hatte bislang niemand die Idee, Ministerien außerhalb von Washington in Juneau, New Orleans oder auf Hawaii anzusiedeln. Aber zu solchen Einsparungen wird sich der oberste Haushälter natürlich nie hergeben. Sie wären in FDP-Lesart freiheitsbedrohlich für Waffenschmieden wie Rheinmetall & Co. sowie den privilegierten Reiseverkehr von Staatsdienern zwischen Spree und Rhein.
Im Bundestag gingen nach althergebrachter Prozedur des GG Art 64 Kanzlerwahl und Inthronisation samt Eid nach GG Artikel 56 über die Bühne. Die hehren Worte waren zum 25. Mal von einer Regierungsriege zu hören. Realiter wären sämtliche dieser Zeremonien total verzichtbar. Die lila Tagesparole des FDP-Sonderparteitages als Marschbefehl würde völlig reichen: Fangen wir an. Denn für staatskonforme (Mein)Eide existieren im wahren Leben hilfreiche Gesetzeslücken. Sämtliche Amtseide, die das deutsche öffentliche Recht vorsieht, sind nicht strafbewehrt. Selbst bei einer offensichtlich folgenschweren Verletzung der übernommenen Verpflichtungen kann in Deutschland niemand zur Verantwortung gezogen werden. Das Regierungsversagen in der Corona-Pandemie kostete bislang über 102.000 Mitmenschen das Leben. Die Todeszahl entspricht zurzeit etwa der Einwohnerzahl von Koblenz oder Jena. Eine makabre Bilanz für die Ex-Regierung, die für diesen Eid nicht einstand bzw. nur unzulänglich handelte. Die FDP war als Opposition (!) beteiligt, da sie die Rechtmäßigkeit der Bundesnotbremse in Zweifel zog, in Karlsruhe klagte, so die Zögerlichkeit beförderte. Sie hat das Desaster mit zu verantworten. Bei ihr gilt das Dogma: In dubio pro Gesetz – contra Leben!
Wer motzte daher sofort gegen das Urteil des Bundesverfassungsgerichts? Der designierte Bundesjustizminister Dr. jur. Marco Buschmann. Von diesem Jünger Justitias dürfte einiges zu erwarten sein. FDP-Parteivize Wolfgang Kubicki wiederum opponierte gegen die allgemeine Impfpflicht, die er einen tiefen Grundrechtseingriff nannte. Seiner abstrusen Logik zufolge müssten die Ministerpräsidenten Söder und Kretschmann unverzüglich vom Verfassungsschutz observiert werden. Sie haben diese Impfpflicht öffentlich gefordert, offensichtlich gemeinsam eine kriminelle Vereinigung gebildet und sich als Gefährder der freiheitlich-demokratischen Grundordnung geoutet.
Das freidemokratische Spitzenpersonal demontiert sich nach wie vor am liebsten selbst. Erinnern wir uns kurz des Politalltags der Bonner Republik. Die FDP rühmte sich, Zünglein an der Waage zu sein, und wechselte beliebig die Seiten. Die Lichtgestalt Erich Mende ließ sich vom Altliberalen Theodor Heuss, wohlgemerkt erster Bundespräsident, ermuntern, das Nazi-Ritterkreuz wieder öffentlich zu tragen. M. verweigerte sich dann der Brandt´schen Ostpolitik, brach sein schriftlich gegebenes Ehrenwort und wechselte samt FDP-Mandat zur CDU.
Äußerst dubios wurde 1990 bei der »Vereinigung« mit den Ost-Liberalen deren Mitgliederplus per Stimmschlüssel in eine Mehrheit für die schwachbrüstige Alt-FDP manipuliert. Eigentliches Traumziel war der Marktwert an Grundstücken und Vermögen, den die vormalige LDPD als Bund Freier Demokraten auswies. Die Seifenblase platzte. Damals wurde ebenfalls viel von Freiheit geredet, weniger von Demokratie. Im Osten schmolz darob die Mitgliederzahl wieder rasch dahin. Sie bleibt mit 75.000 gesamtdeutsch bescheiden. Nur staatliche Zuschüsse mit 15.694.937 Euro aus unser aller Steuergeld sowie Großspenden halten die Partei finanziell am Leben. Das Wahljahr 2021 beförderte die FDP mit 3,7 Millionen Euro Spenden zum unangefochtenen Spitzenreiter. Ein Schelm, der Schlechtes über Spender und Empfänger denkt.
Es hat den Anschein, dass (frei nach Brecht) die Mühen der Ebenen bewältigt sind. Die Mühen der Berge werden zeigen, ob die Seilschaft durchhält.
Eine normale Ampel an der Straße zeigt übrigens nur kurzzeitig gelb …
Freie Demokratie, gibt es sie überhaupt? Laut Schwabensender Killesberg im Prinzip scho’. Vorbehaltlich Caputh I »Deutschland – Ein Wintermärchen« des Herrn Dr. jur. Heinrich Heine und bundesdeutscher Verfasstheiten.