Meine frühere Tätigkeit im Dienst der chinesischen Außenpolitik bringt es mit sich, dass ich unverändert viele deutsche Medien im Internet verfolge. Zudem hilft mir die Lektüre, die Sprache von Marx und Engels nicht zu verlernen. Seit Jahren beobachte ich mit einiger Sorge, dass nicht nur die Oberflächlichkeit in den Berichten über meine Heimat zunimmt. Auch folgen viele deutsche Journalisten der Regierungspropaganda. Von der Unabhängigkeit des Urteils, das sich die Medienvertreter einst zugutehielten und sich darum gern als »Vierte Gewalt« im Staate sahen, ist immer weniger zu spüren. Die Bundesregierung folgt nibelungentreu dem Kurs des von den USA geführten – wohl richtiger: beherrschten – westlichen Bündnisses.
Im Juni 2022 hatte die Nato mal wieder ein Strategisches Konzept verabschiedet, in welchem wir erstmals erwähnt wurden. »Die von der Volksrepublik China erklärten Ziele und ihre Politik des Zwangs stellen unsere Interessen, unsere Sicherheit und unsere Werte vor Herausforderungen«, hieß es dort. Mit anderen Worten: Die Nato-Staaten – Deutschland eingeschlossen, denn Widerspruch wurde aus Berlin nicht bekannt – fühlen sich durch uns bedroht. Und dieser Lesart folgen die meisten deutschen Medien.
Es vergeht kein Tag, an dem nichts Negatives über China aus dem deutschen Blätterwald dringt, um die vermeintliche Bedrohung und die »Politik des Zwangs« zu beweisen. Die Themen sind stets die gleichen, ihre Zahl ist überschaubar: Taiwan und Hongkong, Uiguren, Seidenstraße, Schuldenfalle, Militär- und Polizeistaat, Parteidiktatur und Personenkult, Cyber-War, Menschenrechte …
Nun ließe sich zu jedem einzelnen Thema unendlich viel schreiben, und soweit ich sehe, sind dazu auch etliche Bücher deutscher Autoren bereits erschienen, sehr vernünftige und kluge darunter. Aber gegen die Medienwucht des Mainstreams vermögen selbst die kundigsten Publizisten und Blogger nicht viel auszurichten. Im Informationskrieg, im Kampf um die Köpfe und Gefühle, ist es schwer, Geländegewinne zu erzielen gegen jene, denen die Informationshoheit gehört.
Nur dem Anschein nach haben wir es mit einem ideologischen Konflikt zu tun. In Wahrheit geht es um die gleichen Ziele, für die der Imperialismus schon immer Kriege geführt hat: um Rohstoffe, Ressourcen und Märkte. Und die USA waren schon immer führend dabei – nun aber gehen sie aufs Ganze. Die Volksrepublik China ist nicht nur das bevölkerungsreichste Land, es ist auch die zweitstärkste Volkswirtschaft. Die USA – Mutter- und Hauptland des Kapitalismus – fürchten, wir könnten sie von ihrem scheinbar angestammten America-First-Platz verdrängen. Darin sehen sie die Bedrohung. Einen Wettbewerb der Systeme gibt es nicht. Es hat ihn nie gegeben, und es wird ihn auch nicht geben, solange es den Imperialismus gibt. Der drängt zur Beherrschung der Welt, das ist in seinen Genen programmiert.
Und wir wissen aus der Weltgeschichte auch: Werden politische Systeme instabil, verlieren die Herrschenden Akzeptanz und Zustimmung beim Volk, verstärken sie ihre Propaganda. Es erfolgt eine wachsende ideologische Normierung, eine Gleichschaltung der öffentlichen Diskussion. Täglich werden Menschen bedrängt zu denken, was andere ihnen vorsagen. Inklusive des Narrativs, dass dies nur in Diktaturen so sei und keineswegs in Demokratien, in denen man für die Freiheit frieren und jeden Unsinn konsumieren darf. In denen man unter Brücken nächtigen und als Spekulant steinreich werden kann. Was ist das für eine »Demokratie«, in der beispielsweise Politiker oder TV-Manager sich auf Kosten des Staates bereichern können, in der Menschen massenhaft getäuscht und in die Irre geführt werden mit Halbwahrheiten und Verdrehungen, mit Fake News und stereotypen Wertungen, kurz: mit neoliberalem Zeitgeist, der die Welt grobschlächtig in Gut und Böse teilt wie im klassischen Western?
Chinesen meinen mehrheitlich, dass wir unser Land, seine staatliche Integrität und unsere Ökonomie angesichts der vielen Krisen und Konflikte in der Welt schützen müssen. China hat beispielsweise 22.000 Kilometer Grenze auf dem Festland, und die Seegrenze zieht sich über 18.000 Kilometer hin. Die beste Grenzsicherung, das ist Staatsdoktrin, besteht im friedlichen Einvernehmen mit den Nachbarn. China zieht die Harmonie der Hegemonie vor.
Ein wenig komplizierter als auf dem Lande ist die Lage vor unserer Küste. Der militärischen Einhegung durch die USA – vergleichbar mit der Containment-Politik im Kalten Krieg gegen die Sowjetunion – setzen wir den Ausbau unserer Seestreitkräfte entgegen. Diese sichern unsere Handelsrouten. Wie eine Perlenkette ziehen sich die maritimen Stützpunkte der USA und ihrer Verbündeten von Südkorea über Japan, Taiwan, den Philippinen, Vietnam, Thailand, Singapur bis nach Indonesien und Indien. Wir nutzen kleine Inseln und Riffe im Ost- und im Südchinesischen Meer sowie im Gelben Meer, um ein elektronisches Frühwarnsystem auf- und auszubauen, um Stützpunkte zu schaffen und Abwehrsysteme zu installieren. Die US Navy – insgesamt etwa dreihundert Kriegsschiffe und mehr als dreihunderttausend Soldaten – operiert weltweit, die 6. und die 7. Flotte, die beiden stärksten Verbände, sind im Indischen Ozean und im Pazifik, unmittelbar vor der Küste Chinas, unterwegs. Das ist eine reale Bedrohung. Man stelle sich vor, unsere beiden Flugzeugträger würden ständig von der Küste Kaliforniens kreuzen?
Für Marx war der (bürgerliche) Staat das »nationale Kriegswerkzeug des Kapitals gegen die Arbeit«. Wir verstehen unseren sozialistischen Staat als ein nationales Friedenswerkzeug, um die Arbeit von mehr als einer Milliarde Menschen zu schützen. Nach innen wie nach außen.
Die Volksrepublik China hat – wie jeder andere Staat auch – ein legitimes Sicherheitsbedürfnis. Doch wir gehen anders damit um. Tianxia, alles unter einem Himmel, heißt die von Konfuzius formulierte und in Jahrtausenden ins kollektive Bewusstsein nicht nur der Chinesen, sondern auch vieler anderer asiatischer Völker eingeflossene Vorstellung, dass alle Menschen unter einer Sonne, auf einer Erde leben und sich darum verständigen, vertragen und in Frieden miteinander auskommen können und müssen. Auch die USA leben mit China »unter einem Himmel«.
Wir Chinesen blicken auf eine dokumentierte Geschichte von einigen tausend Jahren zurück. Im Unterschied zu wesentlich jüngeren Staaten haben wir nie fremde Territorien erobert, Kolonien begründet und andere Völker unterjocht oder gar vernichtet. Wir mischten Salpeter, Holzkohle und Schwefel und veranstalteten damit Feuerwerke – als Jahrhunderte später in Europa ebenfalls das Schwarzpulver entdeckt wurde, machte man daraus Schießpulver und nutzte es zum Töten.
Nun wissen wir ebenfalls aus der Geschichte, dass eine kulturvolle Vergangenheit nicht zwingend vor einer grausigen Gegenwart schützt: Deutsche Nazimörder spielten Geige oder lasen Goethe, bevor sie Juden ins Gas schickten oder andere Staaten überfielen. Und Truman hat zuvor gewiss ein Gebet gesprochen oder ein gutes Buch gelesen, ehe er die Atombomben über Hiroshima und Nagasaki abwerfen ließ. Warum also sollen die heutigen Chinesen so friedfertig sein wie die Chinesen von einst? Ich verstehe diesen Gedanken, und dass er auch ausgesprochen wird, ist kein Sakrileg. Chinesen waren und sind aufgeschlossen und interessiert zu erfahren, wie die Welt sie sieht. Selbst Zweifel an ihrer Friedfertigkeit sind sie bereit offen zu diskutieren. Allerdings verstört es sie, wenn deutsche Politiker und Publizisten nur den Zweifel an ihrer Lauterkeit zulassen und a priori das Gegenteil ausschließen, also dass China keine Bedrohung darstellt. Zumindest vor der Kamera und auf der politisch-ideologischen Ebene. Auf der Homepage der deutschen Botschaft in Peking lautet nämlich der erste Satz zu den bilateralen Wirtschaftsbeziehungen: »Die Beziehungen zwischen Deutschland und China sind derzeit so intensiv wie nie zuvor.« Trotz der »schwierigen Rahmenbedingungen« – welche könnten das wohl sein? – ist Deutschland »der mit Abstand wichtigste Handelspartner Chinas in Europa. Umgekehrt ist China wirtschaftliches Partnerland Nummer eines für Deutschland in Asien.«
Dieser Widerspruch zwischen der »wertegesteuerten« Propaganda und der ökonomischen Realität ist schon erstaunlich. Aber das wird sich vermutlich in einer gewissen Zeit ändern. Wir Chinesen haben Ausdauer und Geduld. Pekings Politik hetzt nicht von Legislatur zu Legislatur, von Umfrage zu Umfrage. Sie plant in Jahrzehnten und hat Jahrhunderte im Blick.