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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Aller Anfang ist schwer

Das ist ein Buch, wie ich es lie­be und wie es Ossietzky-Lese­rin­nen und -Leser viel­leicht auch lie­ben wer­den, mög­li­cher­wei­se beson­ders die Autorin­nen und Autoren, geht es doch um nichts weni­ger als um ein Kern­pro­blem unse­res gemein­sa­men Tuns: um den Anfang von etwas, um den ersten Satz.

Indem ich dies schrei­be, habe ich schon die Hür­de genom­men und begon­nen, die Lee­re des wei­ßen Papiers zu fül­len, Zei­le um Zei­le. Die Blocka­de vor dem ersten hin­ge­schrie­be­nen Satz ist durch­bro­chen, und ich kann viel­leicht hof­fen, dass es mir gelun­gen ist, die­sen ersten Satz so zu for­mu­lie­ren, »dass der Leser unbe­dingt auch den zwei­ten lesen will« (Wil­liam Faulkner).

Sicher­lich, mein erster Satz ist kein Gedan­ke von »olym­pi­schem Gewähr« (Gott­fried Benn, »Ver­ließ das Haus«). Aber er kam »ver­meint­lich aus dem Nichts und (setzt) etwas fest, das fort­an da ist«. Schwarz auf weiß. Sie haben es gera­de gelesen.

Das Buch von Peter-André Alt, das ich hier vor­stel­le, han­delt durch­weg von »olym­pi­schen« Gedan­ken. Und »von der Schwie­rig­keit, mit dem Erzäh­len zu begin­nen«. Es geht um »erste Sät­ze der Welt­li­te­ra­tur und was sie uns verraten«.

Alt ist Pro­fes­sor für Neue­re deut­sche Lite­ra­tur­wis­sen­schaft an der Frei­en Uni­ver­si­tät Ber­lin, die er von 2010 bis 2018 als Prä­si­dent lei­te­te, und er ist aktu­ell Prä­si­dent der Hochschulrektorenkonferenz.

»Jemand muss­te Josef K. ver­leum­det haben.«

»Alle glück­li­chen Fami­li­en glei­chen ein­an­der, jede unglück­li­che ist unglück­lich auf ihre Art.«

»Im acht­zehn­ten Jahr­hun­dert leb­te in Frank­reich ein Mann, der zu den geni­al­sten Gestal­ten die­ser an genia­len und abscheu­li­chen Gestal­ten rei­chen Epo­che gehörte.«

»Heu­te vor drei­hun­dert­acht­und­vier­zig Jah­ren sechs Mona­ten und neun­zehn Tagen erwach­ten die Pari­ser unter dem Geläu­te aller Glocken …«

»Frei­tag, den 20. Juli 1714, um die Mit­tags­stun­de, riss die schön­ste Brücke in ganz Peru und stürz­te fünf Rei­sen­de hin­un­ter in den Abgrund.«

»Ich war den gan­zen Tag lang gerit­ten, einen grau­en und laut­lo­sen, melan­cho­li­schen Herbst­tag lang – durch eine eigen­tüm­lich öde und trau­ri­ge Gegend, auf die erdrückend schwer die Wol­ken herabhingen.«

»Zuge­ge­ben, ich bin Insas­se einer Heil- und Pflegeanstalt.«

»Immer fällt mir, wenn ich an India­ner den­ke, der Tür­ke ein; dies hat, so son­der­bar es erschei­nen mag, doch sei­ne Berechtigung.«

»Vie­le Jah­re spä­ter soll­te der Oberst Aure­lia­no Buen­día sich vor dem Erschie­ßungs­kom­man­do an jenen fer­nen Nach­mit­tag erin­nern, an dem sein Vater ihn mit­nahm, um das Eis kennenzulernen.«

»Wir lie­gen neun Kilo­me­ter hin­ter der Front.«

Eine Aus­wahl aus den im Buch zitier­ten »ersten Sät­zen der Welt­li­te­ra­tur«. Und ich bin bos­haft genug, um nicht zu schrei­ben, woher sie stam­men. Eini­ge Quel­len sind aber sicher­lich Selbst­läu­fer. Alt unter­sucht, was die Roman­an­fän­ge ver­ra­ten, war­um sie uns »über­ra­schen oder über­wäl­ti­gen, schmei­cheln, erschrecken, ver­locken oder erre­gen«. Wie sie Span­nung erzeu­gen oder Stim­mung her­vor­ru­fen oder an ent­fern­te Orte ent­füh­ren, kurz gesagt, »wie sie uns auf die fol­gen­de Geschich­te vorbereiten«.

249 Bei­spie­le ent­hält der Essay, begin­nend mit den Alt­vor­de­ren Homer, Ver­gil, Ovid, auch eini­ge mei­ner Lieb­lings­an­fän­ge ent­decke ich, zum Bei­spiel: »Tief ist der Brun­nen der Vergangenheit.«

Was ich ver­mis­se? Bei­spiels­wei­se »Es fiel Regen in jener Nacht, ein fei­ner, wis­pern­der Regen« (Cor­ne­lia Fun­ke, »Tin­ten­herz«). Und dann vor allem den fol­gen­den Anfang, der inzwi­schen so bekannt ist, dass er 1980 in die 15. Aus­ga­be der älte­sten und am wei­te­sten ver­brei­te­ten eng­lisch­spra­chi­gen Zita­ten­samm­lung »Bartlett’s Fami­li­ar Quo­ta­ti­ons« auf­ge­nom­men wur­de: »In a hole in the ground the­re lived a hob­bit«, in der Über­set­zung von Wolf­gang Kre­ge: »In einem Loch im Boden, da leb­te ein Hob­bit.« So beginnt »Der Hob­bit«. Mit ihm führ­te J. R. R. Tol­ki­en in die sagen­haf­te Welt aus Men­schen, Elben, Zau­be­rern, Orks und ande­ren Krea­tu­ren ein, die Mit­tel­er­de bevöl­kern, den Schau­platz des Epos »Der Herr der Rin­ge«. Der Hob­bit und damit auch der zitier­te erste Satz wur­den in 50 Spra­chen über­setzt, von Alba­nisch bis Viet­na­me­sisch. Welt­li­te­ra­tur par excellence.

So hat halt jeder sei­ne per­sön­li­chen Favo­ri­ten. Das tut Peter-André Alts Abhand­lung kei­nen Abbruch. Und wenn wir Ossietzky-Autorin­nen und -Autoren durch ihre Lek­tü­re uns noch mehr ange­spornt füh­len, mit gelun­ge­nen ersten Sät­zen die Lese­rin­nen und Leser noch neu­gie­ri­ger auf unse­re Tex­te zu machen, tja, dann ist das doch fast so schön wie ein Satz von »olym­pi­schem Gewähr«.

 

Peter-André Alt: »›Jemand muss­te Josef K. ver­leum­det haben …‹ Erste Sät­ze der Welt­li­te­ra­tur und was sie uns ver­ra­ten«, C.H.Beck, 262 Sei­ten, 26,95