Die Enkel kneten den Teig, Ballen für Ballen von der Oma zubereitet. Sie teilen ihn, formen nach und nach walnussgroße Kugeln, rollen diese über die Unterlage zu kurzen Strängen aus, biegen sie halbmondförmig zu Vanillekipferln, die dann von der Oma aufs Backblech gelegt und in den Ofen geschoben werden.
Vor meinen Augen dreht sich das Rad der Zeit, und ich betrete ein fernes Land: das Land meiner Kindheitsheimat in einem kleinen verschneiten Dorf, am Ende eines Tals gelegen, von Winterwald umgeben. Im Herd knistert das Feuer, ich sitze mit meiner Großmutter in der Küche am Tisch, vor uns eine Platte mit Teig und mehrere Ausstechförmchen für Viertelmonde und Sterne, für Vögel und einen Nikolaus. Die gute Stube ist verschlossen. Es ist die Zeit der Vorahnung und der Geheimnisse.
Weihnachten lebt von Ritualen. Gerade Kinder brauchen Rituale. Aber nicht nur sie. Rituale sind wie Strickleitern. Sie geben dem Inneren halt.
Weihnachten begann mit dem Keksbacken. Und mit den Tannenbäumen. Sie tauchten plötzlich auf, auf den Schultern der Dorfbewohner, frisch im Gemeindewald geschlagen. Bezahlt wurde später, wenn der Gemeindediener zum Abkassieren von Haus zu Haus ging.
Einer meiner schönsten Weihnachtsbäume stand Weihnachten 1946 in unserem Wohnzimmer. Eines Tages, es war kurz vor dem Fest, war ich von fröhlichem Spiel im Schnee nach Hause gekommen, hatte die Küchentür geöffnet und war erschrocken stehen geblieben. »Mama«, entfuhr es mir, »was macht der fremde Mann an unserem Küchenschrank?«
Der Fremde war mein Vater. Aus dem Krieg heimgekehrt. Geflohen aus irgendeinem Lager in irgendeinem Land »im Osten«. Er war marschiert, »soweit die Füße tragen«, in umgekehrter Richtung als Jahre zuvor, und nun war er zu Hause bei Frau und Kind, kurz vor Weihnachten. Noch am selben Nachmittag holten wir den Schlitten heraus, ich wurde den Hang neben dem Haus hochgezogen, und dann ging es in rasanter Fahrt abwärts. Der Schnee stob zur Seite, und die anderen Kinder wichen ehrfürchtig aus, bestaunten den Mann mit der dicken, fremdartigen Fellmütze und der dicken, wattierten Jacke. Bestaunten mich. Und manche, deren Väter »im Felde« geblieben waren, beneideten mich.
In meiner Kindheit und Jugendzeit fiel im Winter dort, wo ich wohnte, viel Schnee. In manchem Jahr türmte er sich links und rechts der geräumten, noch unbefestigten Straße so hoch auf, dass die Busse, die unser Dorf mit den anderen Dörfern der Umgebung, der nahen Kleinstadt und der Bahnstrecke in einem neu eingerichteten Linienverkehr verbanden, zwischen den Schneequadern verschwanden.
Schnee knirschte unter den Sohlen. Am schönsten knirschte er in der Weihnachtsnacht. Wir waren die einzige Familie evangelischen Glaubens in dem ansonsten katholischen Dorf. Was allerdings keine Probleme untereinander machte, nur: Während die Katholiken bloß der Durchgangsstraße bis zur nächsten Gemeinde folgen mussten, um zu ihrer Kirche zu kommen, mussten wir, wie bei Peter Rosegger (»Waldheimat«), wie bei Adalbert Stifter (»Bergkristall«), auch mitten im Winter über unwegsame, häufig spurlose Pfade zuerst den Berg hochstapfen, ihn dann wieder auf der anderen Seite ins Tal hinabrutschen in den evangelischen Nachbarort, bevor es wieder auf eine Anhöhe ging, wo unser Kirchlein seinen spitzen Turm in den Himmel reckte.
Hier, in der spärlich erleuchteten Kirche, wurde dann die Frohe Botschaft verkündet, wie sie im Lukasevangelium geschrieben steht, in späteren Jahren regelmäßig mit einem Krippenspiel untermalt, für das schon im Herbst Hirten und Bauern und Wirte gesucht wurden, aber auch die Darsteller der Maria und des Josef. Ich erinnere mich an kein Kind, das nicht an das Wunder geglaubt hat, das alljährlich in der Heiligen Nacht von Neuem geschah und das in der Kirche dargestellt wurde. Es griff ans kindliche Herz, wenn in dem Spiel die raue Stimme des Wirtes fragte: »Wer klopfet an?«, und Maria und Joseph sanft antworteten: »O zwei gar arme Leut.« Und weiter: »Was wollt ihr dann?« »O gebt uns Herberg heut.« Schier unerträglich, wie zuerst dieser Wirt und dann die anderen Wirte, bei denen das Heilige Paar anklopfte, diesem entgegenriefen: »Nein, es kann einmal nicht sein, da geht nur fort! Ihr kommt nicht rein.« Zum Glück war ein Stall in der Nähe, mit Ochs und Esel. (Nach 1950 wurde übrigens dieses szenische Lied in der Bundesrepublik in Schulliederbücher aufgenommen. Würde es heute noch in der Schule gespielt, müssten die Lehrerinnen und Lehrer wohl Antwort geben auf Schülerfragen, was da an Europas Außengrenzen los ist, wo es noch nicht einmal einen Stall für die Herberg-Suchenden gibt.)
Nach dem Gottesdienst wurden in dem Nachbarort noch Verwandte besucht. Dort brannten bald die Wachskerzen am Baum, und meine Cousins und Cousinen staunten schon über die bereit liegenden Gaben. Wir aber mussten wieder den Berg hinan, dann durch den Wald und auf der anderen Seite hinunter in unser Dorf. Der Schnee knirschte, aber es war Musik in den Ohren, es ging sich leicht, angetrieben von der Vorfreude auf das, was die Eltern in der guten Stube vorbereitet hatten.
Viel später, als ich mich schon lange der Institution Kirche entfremdet hatte, als wir, statt »Stille Nacht, heilige Nacht« zu singen, lieber »Silent Night« von Elvis Presley oder von Johnny Cash oder von Mahalia Jackson auf dem Plattenteller rotieren ließen oder »The Little Drummer Boy« von Ray Charles, da war also, Jahre nach der Kindheit, auch die Zeit gekommen, die traditionelle Christbaumspitze durch einen roten Stern zu ersetzen. Und den garstigen Weihnachtsliedern des Bänkelsängers Dieter Süverkrüp zu lauschen, der in Düsseldorf mit einer Agitationsgruppe mitten im Einkaufstrubel der Vorweihnachtszeit Weihnachten als Friedensfest zu verteidigen versuchte, mit einer roten Fahne im Arm.
Doch das Rad der Zeit drehte sich weiter, ging über Moden und Macken hinweg. Der Mythos Weihnachten blieb. Alljährlich stand am selben Platz in unserem Wohnzimmer ein Weihnachtsbaum, meistens geradeso unter die Decke passend, so dass jetzt die Christbaumspitze schon aus praktischen Gründen nicht mehr gebraucht wurde. Dann wurden die eigenen Kinder geboren. Und Jahr für Jahr drehte sich für sie, wie inzwischen für die Enkel, wenn sich die vorher abgeschlossene Wohnzimmertür öffnete, auf dem Plattenteller die uralte LP aus dem Jahr 1958, die mit Glockengeläut und Orgelgebrause und Chorgesang nur die eine Botschaft verkündet: dass jetzt für uns eine Zeit gekommen ist, die uns eine große Freud bringt.
Große Freud gibt es weiterhin in der Backstube. Meine Frau hat die Backofentür geöffnet. Die Kekse sind fertig. Ihr Duft durchzieht das Haus, und die Bäckergehilfen pusten auf das erste Plätzchen, um es so schnell wie möglich zu probieren und dann ein Kontingent für Mama und Papa beiseite zustellen. Vielleicht machen wir später noch einen Spaziergang, durch den dunklen Vorabend, vorbei an still erleuchteten, bunt geschmückten Häusern, vielleicht wandern wir an den wenigen Häusern vorbei »bis hinaus aufs freie Feld«. Vielleicht zitiere ich ihnen aus dem Gedicht »Weihnachten« von Joseph von Eichendorff. Wie alle Jahre wieder.