Das Dutzend war voll. Das Maß auch. Eigentlich hätte ich die Reise stornieren sollen, als zwei Wochen zuvor meine Taube in der Notaufnahme der Charité eine Schiene am linken Fuß angelegt bekam, um die Bänder zu schonen, die infolge eines Sturzes ein wenig überstrapaziert worden waren. Da sie sich aber ohne Krücken fortbewegen konnte, meinte sie, es auch mit dem Flieger bis zum Eiland vor der Westküste Afrikas zu schaffen. Unter der wärmenden Sonne des Südens würde sie rascher genesen als unterm trüben Winterhimmel in Berlin. Und schließlich wäre diese Reise unsere zwölfte auf den Archipel. Das müsse sein. Schon wegen unseres Hochzeitstages.
Am Tag vorm Aufbruch teilte der Reiseveranstalter mit, dass er uns in einem anderen als dem gebuchten Quartier unterbringen müsse. Nun gut. Dann standen wir nach mehreren Stunden Flug am Transportband, auf denen die Koffer kreisten. Wir standen dort noch, als das Band abgeschaltet wurde. Ohne Gepäck. Ich reise, auch berufsbedingt, seit mehreren Jahrzehnten und stets reiste die Sorge mit, ob ich denn gleichzeitig mit meinem Gepäck am Zielort eintreffen würde. Bisher hatte sich die Furcht als unbegründet erwiesen. Irgendwann gibt es immer ein erstes Mal.
Wir waren jedoch nicht die einzigen gepäcklosen Reisenden, wie ich an der Länge der Gesichter und der Schlange bemerkte. Nun ganz langsam wurde diese kürzer, was an der Dauer der intensiv geführten Gespräche am Kopf der Warteschlange lag. Vor mir standen schließlich nur noch zwei junge Leute aus Amsterdam, die den Verlust ihrer Rucksäcke anzeigten und der Frau hinter der Glasscheibe klarzumachen versuchten, dass sie Backpacker seien, weshalb sie auch kein Hotel benennen konnten, dessen Adresse sie angeben sollten, damit dort das Gepäck angeliefert werden könne, wenn es denn käme. Die Kommunikation erfolgte in einer Mischung als Englisch, Spanisch und Niederländisch und durch eine Öffnung, die sich zwar in Augenhöhe der dahinter sitzenden Beamtin, aber in Höhe des Bauchnabels der vor dem Schalter Stehenden befand. Deshalb mussten sie sich ziemlich krumm machen. Dann waren wir an der Reihe und bekamen ziemlich rasch ein Papier: Wir hatte ja eine Adresse. Dorthin werde man die beiden vermissten Koffer bringen. Morgen.
Am Schalter, wo Schlüssel und Papiere für den Mietwagen lagen, hatte man die Öffnungszeit augenscheinlich verlängert und zwei Stunden über die vereinbarte Abholzeit geöffnet. Es war bereits dunkel, als meine hinkende Taube und ich das Gefährt kofferlos auf dem mäßig beleuchteten Parkplatz bestiegen.
Am späten Nachmittag des nächsten Tages nahmen wir einen Koffer an der Rezeption in Empfang. Und der andere? Es sei nur einer vom Flugplatz gebracht worden, sagte die Dame und hob bedauernd die Schulter. Vielleicht morgen. Bei dem ausgehändigten Koffer handelte es sich um den Trolley, den wir als Handgepäck zu befördern gedachten. Er war uns in Berlin abgenommen worden. Die Maschine sei überbucht, hatte es geheißen. Wenigstens waren nun das Arbeitsmaterial und die Badehose da.
Am fünften Tag war der Koffer mit unseren Klamotten noch immer nicht eingegangen. Obgleich wir die Dusche im Hotel überdurchschnittlich oft nutzten, hätten wir gern die Wäsche gewechselt, die wir seit Berlin trugen. Auch vermissten wir die wärmenden Pullover, denn wenn die Sonne nicht am Himmel stand, war’s verdammt kühl. Und in diesen Gegenden kennen auch gute Hotels keine Heizung. Inzwischen hatten wir den Verlust unseres Koffers beim Reiseveranstalter angezeigt. Es entwickelte sich eine rege Kommunikation per WhatsApp und Ferngespräch, die Quintessenz lautete: Der Koffer sei wieder in Berlin, aber bar der üblichen Banderole, die irgendwo in Madrid abhandengekommen sei. Man werde ihn neuerlich auf den Weg bringen.
Der optimistische Trost ließ uns von Tag zu Tag Abstand von dem Gedanken nehmen, uns auf Kosten des Reiseveranstalters neu einzukleiden. Man war schließlich kein nölender Tourist, der sich über jeden Fliegenschiss beschwerte. Außerdem hätten wir dann auf der Rückreise das Doppelte zu schleppen, sofern unser Koffer schließlich doch noch einträfe, woran wir nicht zweifelten.
Unterdessen hielt meine Taube ihr lädiertes Fußgelenk in die Sonne und hoffte darauf, dass diese die im Koffer befindlichen Medikamente, Salben und Binden ersetzte. Und ich hockte als blinder Vogel auf dem Balkon, denn ich konnte weder schreiben noch lesen, weil die Brille im Koffer steckte. Das Maß war voll, der Urlaub im Eimer, egal, was noch kommen würde. Ich sehnte mich zurück ins trübe Berlin, wo alles an seinem Platz stand oder lag.
Was soll ich sagen: Am Abend des fünften Urlaubstages stand der Koffer an der Rezeption, behängt mit etlichen Banderolen, die er im Laufe seiner Reise quer durch Europa eingesammelt hatte. Am nächsten Morgen, gleich nach dem Frühstück, würden wir endlich in frischer Wäsche die Insel erobern.
Am folgenden Tag goss es wie aus Kannen …