Wer kennt sie nicht, die Gedankenspiele, die entstehen, wenn man sich das Urteil und die Expertise eines längst Verstorbenen herbeiwünscht in unsicheren Zeiten, in denen der gesellschaftliche Friede wankt und bislang sicher geglaubte Regeln des demokratischen Miteinanders infrage gestellt oder gar durch Hetze, Häme und Verachtung in ihren Grundfesten erschüttert werden?
Was also hätte uns Carl von Ossietzky zu sagen gehabt angesichts der gegenwärtigen Hinwendung einer nicht unbeträchtlichen Wählerschaft zu den nationalistischen Heilsbringern und offen rassistisch agierenden Verheißungsboten, die seit nunmehr vier Jahren als Land- oder Bundestagsabgeordnete der »Alternative für Deutschland« die bundesrepublikanische Politiklandschaft mit ihren Parolen, Verleumdungen und Lügen nicht mehr nur provozieren, sondern geradezu malträtieren? Und da wir Ossietzky vor nunmehr einundachtzig Jahren an die faschistischen Folterer und Mörder, die wohl heimlichen Vorbilder eines gewissen Teils der Fürsprecher der sogenannten Alternative, verloren haben wie so viele andere standhafte, willensstarke und unbeugsame Verteidiger humanistischer Grundwerte, was könnten uns der Mensch von Ossietzky und sein Schicksal mit auf den Weg geben in Tagen wie diesen, von denen einige meinen, sie seien eine fast spiegelbildliche Wiederholung der Endzeit der Weimarer Republik, des durch den Naziterror zerstörten ersten demokratischen deutschen Staates seit mehr als tausend Jahren? Bundesdeutsche AfD-Befürworter mögen vielleicht nicht alle überzeugte Demokratiefeinde sein, in dem Moment jedoch, in dem sie ihre Stimme in der Wahlkabine dieser Sammlungsbewegung von ressentimentgeladenen Autoritätsanbetern und affektlabilen Hassern zukommen lassen, werden sie genau zu diesen. Zweimal in der jüngeren deutschen Geschichte, 1914 und 1933, hat dieser Typus von »Volksvertretern« unsägliches Unheil über das eigene Volk, Europa und die Welt gebracht. Warum, zum Donnerwetter, sollte es beim dritten Mal anders laufen?
Carl von Ossietzky hatte nach sieben Monaten Haft am 3. Januar 1933 in seinem in der Weltbühne erschienenen Aufsatz »Wintermärchen« all die Totengräber der Weimarer Republik entlarvt, ihre antidemokratischen Phänotypen, ihre charakterlichen Defizite und ihre vorgeblichen Motive, das deutsche Volk, so das vielbeschworene Sujet, aus den Klauen des Versailler Schmachdiktats zu entreißen. Einen Tag nach der Veröffentlichung seines Aufsatzes, am 4. Januar, sollten sich von Papen, Hitler und der Großbankier Schröder bei diesem zum Diner treffen, um das »Dritte Reich« programmatisch nicht nur am gerade noch amtierenden Kurt Schleicher, dem »Prätorianer-Kanzler« (Ossietzky), vorbei, sondern auch durch das Großkapital finanziell abgesichert aus der Taufe zu heben. Mit der ihm eigenen analytischen Scharfsinnigkeit und seiner unnachahmlichen Polemik beschreibt Ossietzky die letzten politischen Wochen vor der Naziherrschaft als eine Art Ritterspiel am Vorabend des allesentscheidenden Turniers um die Herrschaft in reichsdeutschen Landen. Die Nazis stecken seit Mitte des Jahres 1932, besonders aber nach den für sie ernüchternden Reichstagsneuwahlen vom November, bei der sie zwei Millionen ihrer Wähler und 34 Mandate eingebüßt haben, in einer ideologischen und finanziellen Krise.
Es »sind die langen Messer ins Futteral gesteckt und öffentlich sichtbar nur die langen Ohren des Führers. Die deutsche Entwicklung geht nicht glatt, aber rapid.« Ossietzky beschreibt die Abfolge der – von den schwankenden Stimmungen des greisen, aber durch seine verfassungsgemäßen Befugnisse mächtigen Reichspräsidenten Hindenburg gesteuerten – Kabinette Brünings und von Papens und des im Januar 1933 noch amtierenden Schleicher. »Es kam der Herrenklub und die autoritäre Regierung«, denen »nur noch die nominelle monarchische Spitze fehlte.« Beiden Kabinetten gelang es trotz Notverordnungen und offener Verfassungsbrüche nicht, die Wirtschaftskrise, den sich ausweitenden Terror der »SA-Leute ohne Sold in ihren ungeheizten Mannschaftsstuben« zu stoppen. Rasant hebeln von Papen und dann Schleicher die bürgerlichen Grundrechte der Weimarer Reichsverfassung aus, derweil Kommunisten und Sozialdemokraten sich gegenseitig auf das Bitterste bekämpfen. Die Nazis haben »die KPD kopiert und sich nicht gescheut, in einem Streik an ihre Seite zu treten«, derweil Gregor Strasser, der nationalbolschewistische Konkurrent Hitlers, »ohne Zweifel kein halbseidener Jammerlappen wie der große Adolf«, ein sich links gerierender Nazi, der eine Art national-sozialdemokratische Querfront bilden will, die Popularität Hitlers zu untergraben beginnt. Interessant ist, dass Ossietzky Strasser, »der über sympathische Züge verfügt« zwar menschlich gelten lässt, sein vorgebliches Sozialengagement jedoch sachlich analysiert, um dann doch nur einen »Sack voll Nebel« zu finden. Im gleichen Satz äußert Ossietzky, diese Prüfung von Argumenten sei bei einer »hysterischen Käsemilbe wie Goebbels« dann doch »verschwendet«.
Als für die Nazipropaganda anfälligste Schicht sieht der Autor – wie Siegfried Krakauer und Erich Fromm soziologisch bestätigen sollten – »jenes verrottende Kleinbürgertum, das jeden Propheten zu steinigen bereit ist, der sich nicht einen Mercedeswagen … leisten kann«. »Adolphus und die Seinen«, »ihre Brutalität, Großmäuligkeit und Hirnlosigkeit«, haben – so schlussfolgert Ossietzky – jedoch auch weite bürgerliche Schichten korrumpiert: »Niemals ist das deutsche Bürgertum … so ehrlich gegen sich gewesen wie in diesen paar Jahren nationalsozialistischen Wachstums. Da gab es nicht mehr intellektuellen Aufputz, nicht mehr geistige Ansprüche, nicht mehr die akademische Fassade reicherer Jahrzehnte. Der ökonomische Zusammenbruch hat die innere Rohheit, die plumpe Geistfeindlichkeit, die harte Machtgier bürgerlicher Schichten … offen bloßgelegt.« Was »der große völkische Führer« … »an bösen und hässlichen Instinkten hervorgerufen hat, wird nicht so leicht verwehen und für lange Jahre noch das gesamte öffentliche Leben in Deutschland verpesten. Neue politische und soziale Systeme werden kommen, aber die Folgen Hitlers werden aufstehen, und spätere Generationen noch werden zu jenem Gürtelkampf antreten müssen, zu dem die deutsche Republik zu feige war«. Und im letzten Abschnitt seines Weltbühne-Aufsatzes fährt Ossietzky fort: »Damit ist eine jahrelange Maskerade beendet, die wirkliche Macht tritt unverhüllt hervor. Und sie wird diktatorisch herrschen, bis ihr eine neugebildete Macht entgegentritt.«
Ossietzky war damals so wenig ein Prophet, wie wir heute in die Glaskugel einer unmittelbaren politischen Zukunft schauen können. Er war jedoch ein Mensch mit einer unverrückbaren pazifistischen und humanistischen Grundhaltung, die ihn immun machte gegen jegliche offenen oder verbrämten Versuche politischer Vereinnahmung jenseits ebendieser Überzeugungen. Gerade von Publizisten konservativer Leitmedien, die es in den westdeutschen Nachkriegsjahren oft vermieden, die Verbrechen der Naziherrschaft dezidiert als solche zu benennen, wurde Weltbühne-Herausgeber Ossietzky am Untergang der Weimarer Republik mitverantwortlich gemacht, weil er eben auch explit demokratische Persönlichkeiten jener Jahre mit teilweise beißendem Spott überschüttete. Doch Ossietzky verfügte – wohl wie kein anderer Publizist damals – über eine bewundernswerte Geschicklichkeit bei der charakterpsychologischen Einschätzung seiner Mitmenschen. Was er schrieb und wen er dabei aufs Korn nahm, er tat dies in polemischen Abstufungen, die dem gesellschaftlichen Wirkungsgrad der Charakterschwächen öffentlicher Personen entsprachen; bei tatsächlich depravierten Charakteren – wie am Beispiel Goebbels gezeigt – dann auch bis hin zur radikalen Verächtlichmachung, wenngleich diese – und die Geschichte gab ihm mit jedem Einzelnen recht – nicht einmal annähernd die Verworfenheit dieser Individuen zu skizzieren in der Lage war.
Was also kann uns der an den Folgen seiner im KZ erlittenen Misshandlungen verstorbene Carl von Ossietzky auf den Weg geben? Die Antwort ist nicht kompliziert, aber auch nichts für schwache Gemüter: Den Menschen ihre Verwerflichkeit deutlich und offen vorzuführen, wenn sie anderen an die Menschenwürde, an das Leben wollen. Und dagegen mit allem einzustehen, was einem zu Gebote steht. Und sei es das eigene Leben.