1847/48 – vor nunmehr 175 Jahren: Unzählige Menschen demonstrieren auf den Straßen Frankreichs und in den Ländern des »Deutschen Bundes« für eine demokratische, liberale Gesellschaft. Sie sind beseelt von den Idealen der Freiheit, sie fordern ein durch allgemeine freie Wahlen hervorgehendes Parlament, gleiche Grundrechte für alle, eine demokratische Verfassung, einen sozialen Ausgleich zwischen Arm und Reich sowie eine friedlich-freiheitliche Union der europäischen Völker. »Alles für das Volk, alles durch das Volk« war ihr Leitspruch. Der Staat, das sind wir! Wir wollen uns selbst regieren! Bevormundung, Unterdrückung, Ausbeutung, Rechtlosigkeit und Elend sollten ein Ende haben, und dem Protest dagegen, auf »Volksversammlungen« öffentlich artikuliert, schlossen sich immer mehr Leute an.
Es waren Menschen wie die Autodidakten Robert Blum und Joseph Fickler, die Juristen Friedrich Hecker und Gustav Struve, die Publizisten Arnold Ruge und Karl Marx, der Dichter Georg Herwegh und seine Frau Emma, die Frauenrechtlerinnen Louise Aston und Franziska Anneke – und mit ihnen viele Studenten, Arbeiter und Bauern sowie die wachsende Schicht des aufstrebenden Bürgertums –, die sich der Monarchie, den absolutistisch regierenden Fürstenhäusern mit ihrem Prunk, ihrem Beamtenstaat und ihren überbordenden Militärausgaben widersetzten, unter Inkaufnahme des höchsten persönlichen Risikos. Denn die alten Mächte wollten natürlich keineswegs weichen und reagierten, orchestriert vom länderübergreifenden Polizei- und Überwachungssystem des österreichischen Staatsministers Clemens Wenzel von Metternich, mit Zensur und Spitzelwesen, mit Verfolgung und Verhaftung, um jede oppositionelle Regung zu unterdrücken.
Und dennoch: Mit der französischen Februarrevolution 1848, der Absetzung des »Bürgerkönigs« Louis-Phillipe und der Ausrufung der Zweiten Französischen Republik wurden die Demokratie-Forderungen in weiten Teilen Europas immer massiver. Revolutionsangst bemächtigte sich der feudalen Führungsschicht, auch der Fürsten der deutschen Länder, die sich dem zunehmenden Druck schließlich zu beugen schienen. Nach anfänglichen Versuchen, den »Aufstand« gewaltsam zu unterdrücken – mit Hunderten Toten auf beiden Seiten –, gelang es den Aufbegehrenden von Berlin bis Wien in nur wenigen Wochen, die Herrschenden zum Einlenken zu bewegen und die Berufung liberaler Regierungen in den Einzelstaaten (die sogenannten Märzregierungen) sowie die Wahl zu einer verfassungsgebenden Nationalversammlung zu erzwingen, die schon im Mai in der Frankfurter Paulskirche erstmals zusammentrat. Auch andere Erfolge wie eine Aufhebung der Pressezensur oder die Abschaffung des Lehenswesens konnten erzielt werden und ließen auf eine freiheitlich-demokratische Zukunft hoffen.
Es sollte anders kommen. Nach kaum mehr als einem unruhigen Jahr endete die so erfolgreich begonnene Revolution in Parteienzersplitterung. Die unterschiedlichen »liberalen« Strömungen, obwohl in vielen Zielen einig, zerstritten sich heillos über den Weg dorthin, insbesondere über die Frage »Monarchie oder Republik?« – sehr zum Wohlgefallen des nur kurz »taumelnden« Adels, der die Schwäche zur »Reaktion« nutzte und alle republikanischen Bestrebungen bis Mitte 1849 militärisch niederschlagen konnte.
Es ist klar: In Ausbildung und Ausrüstung war das fürstliche Militär den Aufbegehrenden massiv überlegen. Aber diese Überlegenheit erklärt das Scheitern der Revolution nur sehr bedingt – wie das Beispiel der französischen Februarrevolution gezeigt hat. Es war letztlich die streitsüchtige Uneinigkeit der Opposition, die den möglichen und kurzzeitig auch durchaus absehbaren Erfolg verhindert hat.
Dabei lässt sich durchaus so eine Art Muster erkennen. Man könnte es »politischen Masochismus« nennen. Oder in anderen (meinen) Worten: »Wir«, die Linken, sind eine Gurkentruppe. Wir scheinen es zu lieben, unsere Ziele nicht zu erreichen – und dafür dann vorzugsweise nicht etwa den politischen Gegner, sondern anderen, nicht »wahren« Linken die Schuld zuzuweisen und uns anschließend tränenreich darüber zu wundern, dass sich viele »von uns« Enttäuschten dann den Rechten und Populisten zuwenden, die vermeintlich »klare Ansagen« machen. Wir streiten viel lieber untereinander als mit denen, die uns in Wahrheit entgegenstehen. So wurde, so wird das nie etwas!
Man nehme 1792, 1848, 1917/18: Alle »linken« – opferreichen – Revolutionen, stets mit den besten Vorsätzen und Versprechungen, sind auf die eine oder andere Weise gescheitert. Und das lag nicht in erster Linie an den Gegnern, an den konservativen, restaurativen Kräften. Sowohl nach der französischen als auch nach der deutschen und den russischen Revolutionen haben sich die zunächst erfolgreichen Revolutionäre anschließend selbst zerlegt. Wer da jeweils als »Abweichler« denunziert, exkommuniziert, verfolgt oder massakriert wurde, ist im Grunde austauschbar.
Zusammengefasst: Linke Demokraten haben den leidenschaftlichen Drang, übereinander herzufallen, statt sich zusammenzuraufen, um die, trotz mancher Differenzen, doch im Großen und Ganzen gleichen Ziele gemeinsam zu erreichen. Dass die Linken sich nicht einigen können, ist beispielsweise der Grund, warum Italien eine postfaschistische Regierung hat. Daran müssen wir arbeiten, das müssen wir als »Linke« gemeinsam ändern. Denn diese Schwäche gefährdet die Demokratie, statt sie voranzubringen, weil sie jene stärkt, die etwas anderes im Sinn haben als »Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit«.
Demokratie ist immer bedroht, in sich, auch weil sie selbst ihren Verächtern und Gegnern alle Grundrechte einräumt, einräumen muss. Sie bleibt nur durch aktive Teilnahme lebendig, durch Mitwirkung, Einmischung, Kritik, Meinungsstreit – sowie durch den unbedingten Willen, weitgehend gemeinsame Ziele wichtiger zu nehmen als die eigene Rechthaberei. Deshalb dieses Heft. Deshalb Ossietzky.