Skip to content

Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

Menu
Menu

Ach, die Linke – Statt eines Editorials

1847/​48 – vor nun­mehr 175 Jah­ren: Unzäh­li­ge Men­schen demon­strie­ren auf den Stra­ßen Frank­reichs und in den Län­dern des »Deut­schen Bun­des« für eine demo­kra­ti­sche, libe­ra­le Gesell­schaft. Sie sind beseelt von den Idea­len der Frei­heit, sie for­dern ein durch all­ge­mei­ne freie Wah­len her­vor­ge­hen­des Par­la­ment, glei­che Grund­rech­te für alle, eine demo­kra­ti­sche Ver­fas­sung, einen sozia­len Aus­gleich zwi­schen Arm und Reich sowie eine fried­lich-frei­heit­li­che Uni­on der euro­päi­schen Völ­ker. »Alles für das Volk, alles durch das Volk« war ihr Leit­spruch. Der Staat, das sind wir! Wir wol­len uns selbst regie­ren! Bevor­mun­dung, Unter­drückung, Aus­beu­tung, Recht­lo­sig­keit und Elend soll­ten ein Ende haben, und dem Pro­test dage­gen, auf »Volks­ver­samm­lun­gen« öffent­lich arti­ku­liert, schlos­sen sich immer mehr Leu­te an.

Es waren Men­schen wie die Auto­di­dak­ten Robert Blum und Joseph Fick­ler, die Juri­sten Fried­rich Hecker und Gustav Struve, die Publi­zi­sten Arnold Ruge und Karl Marx, der Dich­ter Georg Her­wegh und sei­ne Frau Emma, die Frau­en­recht­le­rin­nen Loui­se Aston und Fran­zis­ka Anne­ke – und mit ihnen vie­le Stu­den­ten, Arbei­ter und Bau­ern sowie die wach­sen­de Schicht des auf­stre­ben­den Bür­ger­tums –, die sich der Mon­ar­chie, den abso­lu­ti­stisch regie­ren­den Für­sten­häu­sern mit ihrem Prunk, ihrem Beam­ten­staat und ihren über­bor­den­den Mili­tär­aus­ga­ben wider­setz­ten, unter Inkauf­nah­me des höch­sten per­sön­li­chen Risi­kos. Denn die alten Mäch­te woll­ten natür­lich kei­nes­wegs wei­chen und reagier­ten, orche­striert vom län­der­über­grei­fen­den Poli­zei- und Über­wa­chungs­sy­stem des öster­rei­chi­schen Staats­mi­ni­sters Cle­mens Wen­zel von Met­ter­nich, mit Zen­sur und Spit­zel­we­sen, mit Ver­fol­gung und Ver­haf­tung, um jede oppo­si­tio­nel­le Regung zu unterdrücken.

Und den­noch: Mit der fran­zö­si­schen Febru­ar­re­vo­lu­ti­on 1848, der Abset­zung des »Bür­ger­kö­nigs« Lou­is-Phil­li­pe und der Aus­ru­fung der Zwei­ten Fran­zö­si­schen Repu­blik wur­den die Demo­kra­tie-For­de­run­gen in wei­ten Tei­len Euro­pas immer mas­si­ver. Revo­lu­ti­ons­angst bemäch­tig­te sich der feu­da­len Füh­rungs­schicht, auch der Für­sten der deut­schen Län­der, die sich dem zuneh­men­den Druck schließ­lich zu beu­gen schie­nen. Nach anfäng­li­chen Ver­su­chen, den »Auf­stand« gewalt­sam zu unter­drücken – mit Hun­der­ten Toten auf bei­den Sei­ten –, gelang es den Auf­be­geh­ren­den von Ber­lin bis Wien in nur weni­gen Wochen, die Herr­schen­den zum Ein­len­ken zu bewe­gen und die Beru­fung libe­ra­ler Regie­run­gen in den Ein­zel­staa­ten (die soge­nann­ten März­re­gie­run­gen) sowie die Wahl zu einer ver­fas­sungs­ge­ben­den Natio­nal­ver­samm­lung zu erzwin­gen, die schon im Mai in der Frank­fur­ter Pauls­kir­che erst­mals zusam­men­trat. Auch ande­re Erfol­ge wie eine Auf­he­bung der Pres­se­zen­sur oder die Abschaf­fung des Lehens­we­sens konn­ten erzielt wer­den und lie­ßen auf eine frei­heit­lich-demo­kra­ti­sche Zukunft hoffen.

Es soll­te anders kom­men. Nach kaum mehr als einem unru­hi­gen Jahr ende­te die so erfolg­reich begon­ne­ne Revo­lu­ti­on in Par­tei­enz­er­split­te­rung. Die unter­schied­li­chen »libe­ra­len« Strö­mun­gen, obwohl in vie­len Zie­len einig, zer­strit­ten sich heil­los über den Weg dort­hin, ins­be­son­de­re über die Fra­ge »Mon­ar­chie oder Repu­blik?« – sehr zum Wohl­ge­fal­len des nur kurz »tau­meln­den« Adels, der die Schwä­che zur »Reak­ti­on« nutz­te und alle repu­bli­ka­ni­schen Bestre­bun­gen bis Mit­te 1849 mili­tä­risch nie­der­schla­gen konnte.

Es ist klar: In Aus­bil­dung und Aus­rü­stung war das fürst­li­che Mili­tär den Auf­be­geh­ren­den mas­siv über­le­gen. Aber die­se Über­le­gen­heit erklärt das Schei­tern der Revo­lu­ti­on nur sehr bedingt – wie das Bei­spiel der fran­zö­si­schen Febru­ar­re­vo­lu­ti­on gezeigt hat. Es war letzt­lich die streit­süch­ti­ge Unei­nig­keit der Oppo­si­ti­on, die den mög­li­chen und kurz­zei­tig auch durch­aus abseh­ba­ren Erfolg ver­hin­dert hat.

Dabei lässt sich durch­aus so eine Art Muster erken­nen. Man könn­te es »poli­ti­schen Maso­chis­mus« nen­nen. Oder in ande­ren (mei­nen) Wor­ten: »Wir«, die Lin­ken, sind eine Gur­ken­trup­pe. Wir schei­nen es zu lie­ben, unse­re Zie­le nicht zu errei­chen – und dafür dann vor­zugs­wei­se nicht etwa den poli­ti­schen Geg­ner, son­dern ande­ren, nicht »wah­ren« Lin­ken die Schuld zuzu­wei­sen und uns anschlie­ßend trä­nen­reich dar­über zu wun­dern, dass sich vie­le »von uns« Ent­täusch­ten dann den Rech­ten und Popu­li­sten zuwen­den, die ver­meint­lich »kla­re Ansa­gen« machen. Wir strei­ten viel lie­ber unter­ein­an­der als mit denen, die uns in Wahr­heit ent­ge­gen­ste­hen. So wur­de, so wird das nie etwas!

Man neh­me 1792, 1848, 1917/​18: Alle »lin­ken« – opfer­rei­chen – Revo­lu­tio­nen, stets mit den besten Vor­sät­zen und Ver­spre­chun­gen, sind auf die eine oder ande­re Wei­se geschei­tert. Und das lag nicht in erster Linie an den Geg­nern, an den kon­ser­va­ti­ven, restau­ra­ti­ven Kräf­ten. Sowohl nach der fran­zö­si­schen als auch nach der deut­schen und den rus­si­schen Revo­lu­tio­nen haben sich die zunächst erfolg­rei­chen Revo­lu­tio­nä­re anschlie­ßend selbst zer­legt. Wer da jeweils als »Abweich­ler« denun­ziert, exkom­mu­ni­ziert, ver­folgt oder mas­sa­kriert wur­de, ist im Grun­de austauschbar.

Zusam­men­ge­fasst: Lin­ke Demo­kra­ten haben den lei­den­schaft­li­chen Drang, über­ein­an­der her­zu­fal­len, statt sich zusam­men­zu­rau­fen, um die, trotz man­cher Dif­fe­ren­zen, doch im Gro­ßen und Gan­zen glei­chen Zie­le gemein­sam zu errei­chen. Dass die Lin­ken sich nicht eini­gen kön­nen, ist bei­spiels­wei­se der Grund, war­um Ita­li­en eine post­fa­schi­sti­sche Regie­rung hat. Dar­an müs­sen wir arbei­ten, das müs­sen wir als »Lin­ke« gemein­sam ändern. Denn die­se Schwä­che gefähr­det die Demo­kra­tie, statt sie vor­an­zu­brin­gen, weil sie jene stärkt, die etwas ande­res im Sinn haben als »Frei­heit, Gleich­heit, Brüderlichkeit«.

Demo­kra­tie ist immer bedroht, in sich, auch weil sie selbst ihren Ver­äch­tern und Geg­nern alle Grund­rech­te ein­räumt, ein­räu­men muss. Sie bleibt nur durch akti­ve Teil­nah­me leben­dig, durch Mit­wir­kung, Ein­mi­schung, Kri­tik, Mei­nungs­streit – sowie durch den unbe­ding­ten Wil­len, weit­ge­hend gemein­sa­me Zie­le wich­ti­ger zu neh­men als die eige­ne Recht­ha­be­rei. Des­halb die­ses Heft. Des­halb Ossietzky.