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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Abstand und Anstand

Ob der heu­te erwünsch­te Abstand auch mor­gen noch gilt? Heu­te sol­len es zwei Meter sein, mor­gen viel­leicht acht Fuß, wenn wir uns nach der Nati­on mit den mei­sten Krank­heits­fäl­len zu rich­ten haben. Heu­te wird uns erzählt, wir müss­ten sozia­le Distanz wah­ren, obwohl »sozi­al« kein Wort ist, das eine geo­me­tri­sche Dimen­si­on beschreibt. Denn baue ich zum Bei­spiel beim Tele­fo­nie­ren kei­ne sozia­le Nähe auf? Das Ohr ist das Organ, das viel mehr als das Auge vom Part­ner mit­zu­tei­len weiß. Jahr­hun­der­te lang wur­de eine sozia­le Bezie­hung durch den Brief­wech­sel begrün­det, erneu­ert, fort­ge­führt und auch been­det. Der hüb­sche Begriff »Feder­krieg«, der um die Mit­te des vori­gen Jahr­hun­derts aus vie­len Kon­takt­an­zei­gen her­vor­leuch­te­te, brach­te die Wider­sprüch­lich­keit der Bezie­hung von Men­schen auf den sprach­li­chen Punkt. Das schmach­ten­de Beschwö­ren »Wir kön­nen uns lei­der nicht sehen!« kann heut­zu­ta­ge sofort ad absur­dum geführt wer­den: Man skypt. Und weil vie­le den Tast­sinn wie auch den wech­sel­sei­ti­gen Aus­tausch von Kör­per­flüs­sig­kei­ten für die end­gül­ti­ge Ver­wirk­li­chung mensch­li­cher Bezie­hun­gen zu benö­ti­gen schei­nen: Man kann sich die Daten der jewei­li­gen DNA sen­den, man kann befruch­te­te Embryo­nen welt­weit und pfeil­ge­schwind (Amors Geschoss) über­mit­teln. Man kann durch ein­fach­ste Mit­tel (Tele­fon­sex) bis zu hoch­kom­pli­zier­ten Cyber-Bezie­hun­gen all das errei­chen, was die Mensch­heit über Jahr­hun­der­te und Jahr­tau­sen­de sich wünsch­te, hoff­te, erträum­te und befürch­te­te, was höch­stes Glück und tief­ste Ver­zweif­lung den Bür­gern ver­sprach. Längst schon hät­te man auch die gegen­sei­ti­ge Geruchs­be­glückung hand­hab­bar und welt­weit ent­wickelt – wenn nicht ein paar Gesund­heits­apo­stel ande­res für wich­ti­ger ansä­hen. Die dar­auf drin­gen wür­den, statt Geruchs­nä­he zu erzeu­gen Krank­hei­ten mit teu­ren Medi­ka­men­ten­ga­ben zu bekämp­fen. Man hat Anti­bio­ti­ka über Jahr­zehn­te hin­weg ent­wickelt. Mit wel­chem Resul­tat? Sie sind heu­te viel zu bil­lig. Und Bil­lig­hei­mer, das ergibt der Pra­xis­test, wir­ken nicht mehr. Man müss­te neue, teu­re­re, end­lich wie­der wirk­sa­me Sub­stan­zen ent­wickeln. Was das kostet! Die Öko­no­mie hin­ge­gen for­dert Gewinn. Schnel­len Gewinn.

Damit sind wir beim zwei­ten Teil unse­rer gegen­wär­ti­gen, sich welt­weit aus­brei­ten­den Beson­der­hei­ten. Dem Anstand.

Die­ses Wort wur­zelt tief im 19. Jahr­hun­dert und wur­de noch lan­ge, bis vor ein paar Jahr­zehn­ten, genutzt. Dabei wider­spricht es dem zeit­ge­mä­ßen Han­del und Wandel.

Diver­se Admi­ni­stra­to­ren ver­fü­gen, dass man sich mit Gesichts­mas­ken ver­se­hen sol­le. Das ist schön und gut, aber auch ein Wirt­schafts­gut. Und wenn eine sol­che Gesichts­mas­ke in nicht pan­de­mo­ni­schen Zei­ten 30 Cent kostet, so schnell­te der Preis mit Beginn der Kri­se auf 30 Euro. Auch Beatmungs­ge­rä­te erwei­sen sich als kostbar.

Man­che Men­schen fan­gen bei sol­chen Tat­sa­chen an, mit dem Wort »Anstand« zu han­tie­ren. Es sei doch nicht anstän­dig, mit der Not der Men­schen, also dem Man­gel an Medi­zin und Gerät, ein Geschäft zu machen.

Womit, bit­te, soll man sonst ein – sein – Geschäft machen?

Der ganz gewöhn­li­che Kapi­ta­lis­mus funk­tio­niert nun mal über Ange­bot und Nach­fra­ge. Sel­te­ne Güter stei­gen im Preis. Wenn man die­ses Grund­ge­setz nicht mehr ein­hiel­te, wäre die gan­ze gut funk­tio­nie­ren­de markt­för­mi­ge Demo­kra­tie zum Teu­fel. Ein biss­chen Krank­heit und schon geschieht das, was seit hun­dert­fünf­zig Jah­ren Par­tei­en, Revo­lu­ti­ons­ver­kün­der und Zen­tral­ko­mi­tees anstreb­ten und bis­her kaum ver­wirk­li­chen konn­ten: kom­mu­ni­sti­scher Sozialismus.

Soll denn der Anstand zur Loko­mo­ti­ve der Revo­lu­ti­on wer­den? Ist »Anstand« nicht ein zutiefst bür­ger­li­ches Wort, einen Wert ver­kör­pernd, der gleich neben Hei­mat und Recht­schaf­fen­heit, Pünkt­lich­keit und ähn­li­chen Sekun­där­tu­gen­den haust?

Davon wol­len wir dann doch Abstand neh­men. Sei der nun zwei Meter oder acht Fuß groß.