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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Abschreckung statt Entspannung?

Was kommt in den Mona­ten nach dem Wahl­sonn­tag auf Deutsch­land zu? Der Kanz­ler­kan­di­dat der Uni­on, Fried­rich Merz, hat in sei­ner bis­her völ­lig unbe­ach­tet geblie­be­nen Grund­satz­re­de zur Außen- und Sicher­heits­po­li­tik am 24. Janu­ar 2025 bei der Kör­ber-Stif­tung in Ham­burg umris­sen, was auf die Deut­schen und Euro­pä­er zukommt: Auf­rü­sten, auf­rü­sten, auf­rü­sten! Kriegs­be­reit wer­den! Merz ver­kün­det einen Epo­chen­wech­sel.

Im Wort­ge­fecht stellt Merz die »libe­ra­len Demo­kra­tien« und die »anti­li­be­ra­len Auto­kra­tien« in einen Gegen­satz und macht ihn gleich­zei­tig zum Nukle­us »eines neu­en System­kon­flikts«. Völ­ker­recht­wid­ri­ge Krie­ge sind für »libe­ra­le Demo­kra­tien« aller­dings kei­ne Aus­nah­me, son­dern Aus­druck ihrer Macht­po­li­tik. Für Merz und vie­le ande­re ist aber erst der Krieg Russ­lands gegen die Ukrai­ne Aus­gangs­punkt für den Zusam­men­bruch der euro­päi­schen Frie­dens- und Sicher­heits­ord­nung. Die ist aller­dings von den »west­li­chen« Demo­kra­tien schon Jahr­zehn­te ver­nach­läs­sigt wor­den. Die­se Demo­kra­tien selbst habe die Frie­dens­ord­nung durch Krieg ausgehöhlt.

Der außen­po­li­ti­sche Bera­ter von Bun­des­kanz­ler Hel­mut Kohl, Horst Telt­schik, und ande­re poli­ti­sche und mili­tär­po­li­ti­sche Per­sön­lich­kei­ten bekla­gen die Ver­nach­läs­si­gung bereits ent­wickel­ten Ver­trau­ens und koope­ra­ti­ver Insti­tu­tio­nen, wie etwa den Nato-Russ­land-Rat. Sie kri­ti­sie­ren eine zur Jahr­tau­send­wen­de ein­ge­schla­ge­ne Poli­tik, die Kon­flikt-Lösun­gen auf fried­li­chem Weg erschwer­ten. Wo Ver­tie­fung der Dia­lo­ge erfor­der­lich gewe­sen wäre, ließ regie­ren­des Per­so­nal der jewei­li­gen Zeit Gele­gen­hei­ten verstreichen.

Heu­te stün­den »an der Spit­ze die­ses System­kon­flikts« Russ­land und Chi­na, glaubt Fried­rich Merz. »Sie lei­ten ihre Ansprü­che auf Ein­fluss­sphä­ren aus Prä­mis­sen einer Macht­po­li­tik ab« – und die Ver­ei­nig­ten Staa­ten und ande­re? »Das Ver­bot von Angriffs­krie­gen und das Gebot der fried­li­chen Kon­flikt­lö­sung wer­den nur noch dann ange­wandt, wenn es dem eige­nen Macht­stre­ben nützt«, so Merz wei­ter. Was heu­te gern ver­ges­sen wird: Das war in der inter­na­tio­na­len Poli­tik mei­stens so. Merz‘ Fest­stel­lung ist schon auf den Janu­ar 1991 anzu­wen­den, den zwei­ten Golf­krieg gegen den Irak, den die Ver­ei­nig­ten Staa­ten schon ein hal­bes Jahr zuvor vor­be­rei­te­ten, noch wäh­rend der fried­li­chen Revo­lu­ti­on und der poli­ti­schen Ent­span­nung in Euro­pa. Der außen­po­li­ti­sche Koope­ra­ti­ons­pro­zess der Sie­ger­mäch­te des zwei­ten Welt­kriegs wäh­rend des Ver­ei­ni­gungs­pro­zes­ses bei­der deut­scher Staa­ten wur­de durch den Irak-Krieg erschüt­tert. Rück­blickend beginnt hier die Saat des Miss­trau­ens, die in den Fol­ge­jah­ren zwi­schen Nato-Inte­gra­ti­on und Nato-Aus­deh­nung nach Ost­eu­ro­pa einer­seits und Russ­land ande­rer­seits auf­ging. Schon zu die­ser Zeit scho­ben sich (mili­tä­risch unter­füt­ter­te) nie auf­ge­ge­be­ne glo­ba­le geo­po­li­ti­sche Inter­es­sen in die Kon­flikt­lö­sungs­stra­te­gien euro­päi­scher und deut­scher Poli­tik und sicker­ten vor allem in die Frie­dens- und Kon­flikt­for­schung ein, einem gewich­ti­gen Pool von Exper­ti­se. Poli­ti­sche Per­sön­lich­kei­ten – wie etwa Egon Bahr und Die­ter S. Lutz – prak­ti­zier­ten die­se Metho­den, natür­lich nicht als »rei­ne Leh­re«, son­dern im Rah­men ihres poli­ti­schen Cha­rak­ters. Inter­es­sen sind dort im Den­ken immer viru­lent. Aber die Inter­es­sen der ein­zig ver­blie­be­nen Groß­macht nach dem Kal­ten Krieg wer­den, je nach eige­ner Ein­schät­zung, mit Gewalt gelöst, wie am zwei­ten Golf­krieg zu besich­ti­gen ist, in den Bür­ger­krie­gen auf dem Bal­kan oder nach 9/​11. Indem Merz und ande­re Regie­rungs- und Oppo­si­ti­ons­po­li­ti­ker die­se krie­ge­ri­schen Vor­ge­schich­ten der »libe­ra­len Demo­kra­tien« aus­blen­den, leug­nen sie nicht nur mili­tä­ri­sche Inter­ven­tio­nen ihres eige­nen Lagers, son­dern wol­len zugleich begrün­den, war­um die 1989/​90 geschei­ter­te Auf­rü­stungs- und Abschreckungs­po­li­tik des Kal­ten Kriegs heu­te der gebo­te­ne Aus­weg sei. Denn schließ­lich hat die Wen­de in der Sowjet­uni­on zur Ent­span­nungs- und Abrü­stungs­po­li­tik Deutsch­land und zum Auf­bau koope­ra­ti­ver Bezie­hun­gen zwi­schen allen Län­dern Euro­pas, zur Char­ta von Paris, geführt. Kohl, Gor­bat­schow und Sche­ward­n­ad­se über­wan­den gemein­sam Miss­trau­en. Ver­trau­en ermög­lich­te Ver­ste­hen und Eini­gung. Ohne ein Netz­werk befä­hig­ter Poli­ti­ker und Bera­ter konn­te das euro­päi­sche Werk nicht gelingen!

Der Krieg Putins gegen die Ukrai­ne ist das Ende von Ver­trau­en, Ver­ste­hen und Eini­gung, zuletzt aber eine Poli­tik gro­ßer Ver­säum­nis­se, vor allem deut­scher Poli­tik und Ver­ant­wor­tung. Vie­le inein­an­der wir­ken­de Ent­wick­lun­gen führ­ten von die­sem Pfad ab. Da gab es die Macht- und Mili­tär­po­li­ti­ker, die nun die Bun­des­wehr auf den außen­po­li­ti­schen Kriegs­pfad, soge­nann­te Aus­lands­ein­sät­ze der Bun­des­wehr, dräng­ten und die Nato nach Osten aus­deh­nen woll­ten, statt die Frie­dens­ord­nung aus­zu­bau­en. Da gab es die Inter­es­sen der Ver­ei­nig­ten Staa­ten. Die Nato-Aus­deh­nung nach Osten wur­de her­un­ter­ge­spielt. Es gab gewich­ti­ge War­ner. Selbst wenn es kei­ne Ver­trä­ge gab, ver­stan­den füh­ren­de Poli­ti­ker der US-Admi­ni­stra­ti­on, Deutsch­lands, etwa des Nato-Gene­ral­se­kre­tärs Wör­ner u. a., Russ­lands Befürch­tun­gen. Sie sind früh geäu­ßert wor­den, als der War­schau­er Pakt noch bestand (bis 1994). Es gab den dama­li­gen US-Bot­schaf­ter in Mos­kau Burns, der die­ses rus­si­sche Sicher­heits­emp­fin­den genau ein­zu­schät­zen wuss­te und warn­te. Klu­ge Poli­tik setzt Ver­ste­hen vor­aus. Rück­sichts­lo­se Inter­es­sen­po­li­tik heißt Expan­si­on. Ver­trags­brü­che sind Rechts­brü­che. Wenn alle Sei­ten das gel­ten­de Recht bre­chen, gilt auch das Wort nichts. Es ist das Papier nicht wert, auf dem es steht. Die Bedeu­tung und die Risi­ken der Nato-Aus­deh­nung nach Osten an die rus­si­schen Gren­zen muss­te der uni­po­la­ren Macht und den euro­päi­schen Bünd­nis­part­nern bewusst sein. Zumal nach der mit gro­ßem Bei­fall bedach­ten Rede des rus­si­schen Prä­si­den­ten Wla­di­mir Putin im Deut­schen Bun­des­tag am 25. Sep­tem­ber 2001. Ver­trau­ens­voll, allen Abge­ord­ne­ten, Gästen und den Regie­ren­den zuge­wandt, trug er vor, was Russ­land, was die rus­si­sche Regie­rung in ihren freund­schaft­li­chen Bezie­hun­gen zu Deutsch­land und Euro­pa beschäf­tig­te und bedrückte.

Nach dem isla­mi­sti­schen Anschlag auf das World Trade Cen­ter 9/​11 besann sich die Welt jedoch nicht auf eine gleich­ge­sinn­te Gemein­schaft, son­dern dreh­te sich in eine ande­re Rich­tung. Geor­ge W. Bush ließ sich mit Voll­mach­ten aus­stat­ten, setz­te bis­her gel­ten­des Recht außer Kraft, ver­schärf­te es und über­zog gan­ze Län­der und Staa­ten mit sei­nem Krieg gegen den Ter­ror. Russ­land griff mili­tä­risch in Sezes­si­ons­krie­ge ein. In Deutsch­land explo­dier­ten die Start­ups von »Sicher­heits­in­sti­tu­ten«; die »isla­mi­sti­sche« Gefahr scha­de­te der Ent­span­nungs­po­li­tik, sie stärk­te jene Kräf­te, die mili­tä­ri­sche und sicher­heits­po­li­ti­sche Mobil­ma­chung in den Län­dern des Westens und Russ­lands befür­wor­te­ten. Im Janu­ar 2006 beschrieb der außen- und sicher­heits­po­li­ti­sche Bera­ter Hel­mut Kohls in einer Denk­schrift die Gefähr­dun­gen des Frie­dens für die poli­ti­sche Sta­bi­li­tät Euro­pas. Es müs­se eine gemein­sa­me Stra­te­gie ent­wickelt wer­den, um »Ost­eu­ro­pa ein­schließ­lich Russ­land« in eine gesamt­eu­ro­päi­sche Frie­dens- und Sicher­heits­ord­nung ein­zu­bin­den. Telt­schik, damals Vor­sit­zen­der der Münch­ner Sicher­heits­kon­fe­renz, hielt fest: Die Erwei­te­rung der EU sei wie die Wie­der­ver­ei­ni­gung Deutsch­lands ein »win­dow of oppor­tu­ni­ty« für poli­ti­sche Sta­bi­li­tät in Euro­pa. »Der wach­sen­de Druck auf die Ukrai­ne, auf Geor­gi­en und auch auf Weiß­russ­land« erfor­de­re eine gemein­sa­me Poli­tik der Euro­päi­schen Uni­on. In einem per­sön­lich-ver­trau­li­chen Brief an Bun­des­kanz­le­rin Mer­kel teilt Telt­schik zahl­rei­che Beden­ken des rus­si­schen Prä­si­den­ten mit: sei­ne Besorg­nis über ame­ri­ka­ni­sche Rüstungs­vor­ha­ben (Trident II) und das Drän­gen der USA, dass die Ukrai­ne Mit­glied der Nato wer­de, wort­wört­lich: »Erst müss­ten die Bezie­hun­gen Russ­lands mit der Nato geklärt sein und wei­ter­ent­wickelt wer­den, bevor die Ukrai­ne der Nato bei­tre­ten kön­ne und nicht umge­kehrt. Sonst sei die Nato für Russ­land ein Feind.« Telt­schiks Brief an Mer­kel beinhal­tet Putins Stel­lung­nah­men zu Geor­gi­en, Tür­kei, die demo­gra­fi­sche Ent­wick­lung in Russ­land, eine Kri­tik an US-Außen­mi­ni­ster Che­ney, zur Hamas, zum Ver­hält­nis zwi­schen Russ­land und EU – und schließt mit dem Wunsch nach ver­stärk­ter Zusam­men­ar­beit mit Deutsch­land und einer stär­ke­ren Ein­bin­dung in die Nato, »gewis­ser­ma­ßen als Kom­pen­sa­ti­on für den Nato-Bei­tritt der Ukraine«.

In einem kürz­lich mit Telt­schik geführ­ten Inter­view beklag­te der ehe­ma­li­ge Vor­sit­zen­de der Münch­ner Sicher­heits­kon­fe­renz (1999 bis 2008), dass Mer­kels Vor­schlag, die Bezie­hun­gen zu Russ­land aus­zu­bau­en, wäh­rend der Kon­fe­renz 2007 ohne Wider­hall geblie­ben sei. Weder die Bun­des­kanz­le­rin noch Außen­mi­ni­ster Stein­mei­er und deren Mit­ar­bei­ter hät­ten Putins Rede auf­ge­grif­fen, um in einen frucht­ba­ren Dia­log zu kom­men. Horst Telt­schik kam im Gespräch meh­re­re Male auf das schwer­wie­gen­de Ver­säum­nis zurück, das ihn fast drei­ßig Jah­re danach noch bewegt, weil er sich im Rück­blick ob der ver­ta­nen Mög­lich­keit bewusst ist.

Zita­te aus: Horst Telt­schik: Die 329 Tage zur deut­schen Eini­gung. Das voll­stän­di­ge Tage­buch mit Nach­be­trach­tun­gen, Rück­blen­den und Aus­blicken, V&R, Göt­tin­gen 2024.

Gespräch mit Horst Telt­schik am 3.2.2025 in Rot­tach-Egern unter: https://youtu.be/nSLN3vGI6EM.