Was kommt in den Monaten nach dem Wahlsonntag auf Deutschland zu? Der Kanzlerkandidat der Union, Friedrich Merz, hat in seiner bisher völlig unbeachtet gebliebenen Grundsatzrede zur Außen- und Sicherheitspolitik am 24. Januar 2025 bei der Körber-Stiftung in Hamburg umrissen, was auf die Deutschen und Europäer zukommt: Aufrüsten, aufrüsten, aufrüsten! Kriegsbereit werden! Merz verkündet einen Epochenwechsel.
Im Wortgefecht stellt Merz die »liberalen Demokratien« und die »antiliberalen Autokratien« in einen Gegensatz und macht ihn gleichzeitig zum Nukleus »eines neuen Systemkonflikts«. Völkerrechtwidrige Kriege sind für »liberale Demokratien« allerdings keine Ausnahme, sondern Ausdruck ihrer Machtpolitik. Für Merz und viele andere ist aber erst der Krieg Russlands gegen die Ukraine Ausgangspunkt für den Zusammenbruch der europäischen Friedens- und Sicherheitsordnung. Die ist allerdings von den »westlichen« Demokratien schon Jahrzehnte vernachlässigt worden. Diese Demokratien selbst habe die Friedensordnung durch Krieg ausgehöhlt.
Der außenpolitische Berater von Bundeskanzler Helmut Kohl, Horst Teltschik, und andere politische und militärpolitische Persönlichkeiten beklagen die Vernachlässigung bereits entwickelten Vertrauens und kooperativer Institutionen, wie etwa den Nato-Russland-Rat. Sie kritisieren eine zur Jahrtausendwende eingeschlagene Politik, die Konflikt-Lösungen auf friedlichem Weg erschwerten. Wo Vertiefung der Dialoge erforderlich gewesen wäre, ließ regierendes Personal der jeweiligen Zeit Gelegenheiten verstreichen.
Heute stünden »an der Spitze dieses Systemkonflikts« Russland und China, glaubt Friedrich Merz. »Sie leiten ihre Ansprüche auf Einflusssphären aus Prämissen einer Machtpolitik ab« – und die Vereinigten Staaten und andere? »Das Verbot von Angriffskriegen und das Gebot der friedlichen Konfliktlösung werden nur noch dann angewandt, wenn es dem eigenen Machtstreben nützt«, so Merz weiter. Was heute gern vergessen wird: Das war in der internationalen Politik meistens so. Merz‘ Feststellung ist schon auf den Januar 1991 anzuwenden, den zweiten Golfkrieg gegen den Irak, den die Vereinigten Staaten schon ein halbes Jahr zuvor vorbereiteten, noch während der friedlichen Revolution und der politischen Entspannung in Europa. Der außenpolitische Kooperationsprozess der Siegermächte des zweiten Weltkriegs während des Vereinigungsprozesses beider deutscher Staaten wurde durch den Irak-Krieg erschüttert. Rückblickend beginnt hier die Saat des Misstrauens, die in den Folgejahren zwischen Nato-Integration und Nato-Ausdehnung nach Osteuropa einerseits und Russland andererseits aufging. Schon zu dieser Zeit schoben sich (militärisch unterfütterte) nie aufgegebene globale geopolitische Interessen in die Konfliktlösungsstrategien europäischer und deutscher Politik und sickerten vor allem in die Friedens- und Konfliktforschung ein, einem gewichtigen Pool von Expertise. Politische Persönlichkeiten – wie etwa Egon Bahr und Dieter S. Lutz – praktizierten diese Methoden, natürlich nicht als »reine Lehre«, sondern im Rahmen ihres politischen Charakters. Interessen sind dort im Denken immer virulent. Aber die Interessen der einzig verbliebenen Großmacht nach dem Kalten Krieg werden, je nach eigener Einschätzung, mit Gewalt gelöst, wie am zweiten Golfkrieg zu besichtigen ist, in den Bürgerkriegen auf dem Balkan oder nach 9/11. Indem Merz und andere Regierungs- und Oppositionspolitiker diese kriegerischen Vorgeschichten der »liberalen Demokratien« ausblenden, leugnen sie nicht nur militärische Interventionen ihres eigenen Lagers, sondern wollen zugleich begründen, warum die 1989/90 gescheiterte Aufrüstungs- und Abschreckungspolitik des Kalten Kriegs heute der gebotene Ausweg sei. Denn schließlich hat die Wende in der Sowjetunion zur Entspannungs- und Abrüstungspolitik Deutschland und zum Aufbau kooperativer Beziehungen zwischen allen Ländern Europas, zur Charta von Paris, geführt. Kohl, Gorbatschow und Schewardnadse überwanden gemeinsam Misstrauen. Vertrauen ermöglichte Verstehen und Einigung. Ohne ein Netzwerk befähigter Politiker und Berater konnte das europäische Werk nicht gelingen!
Der Krieg Putins gegen die Ukraine ist das Ende von Vertrauen, Verstehen und Einigung, zuletzt aber eine Politik großer Versäumnisse, vor allem deutscher Politik und Verantwortung. Viele ineinander wirkende Entwicklungen führten von diesem Pfad ab. Da gab es die Macht- und Militärpolitiker, die nun die Bundeswehr auf den außenpolitischen Kriegspfad, sogenannte Auslandseinsätze der Bundeswehr, drängten und die Nato nach Osten ausdehnen wollten, statt die Friedensordnung auszubauen. Da gab es die Interessen der Vereinigten Staaten. Die Nato-Ausdehnung nach Osten wurde heruntergespielt. Es gab gewichtige Warner. Selbst wenn es keine Verträge gab, verstanden führende Politiker der US-Administration, Deutschlands, etwa des Nato-Generalsekretärs Wörner u. a., Russlands Befürchtungen. Sie sind früh geäußert worden, als der Warschauer Pakt noch bestand (bis 1994). Es gab den damaligen US-Botschafter in Moskau Burns, der dieses russische Sicherheitsempfinden genau einzuschätzen wusste und warnte. Kluge Politik setzt Verstehen voraus. Rücksichtslose Interessenpolitik heißt Expansion. Vertragsbrüche sind Rechtsbrüche. Wenn alle Seiten das geltende Recht brechen, gilt auch das Wort nichts. Es ist das Papier nicht wert, auf dem es steht. Die Bedeutung und die Risiken der Nato-Ausdehnung nach Osten an die russischen Grenzen musste der unipolaren Macht und den europäischen Bündnispartnern bewusst sein. Zumal nach der mit großem Beifall bedachten Rede des russischen Präsidenten Wladimir Putin im Deutschen Bundestag am 25. September 2001. Vertrauensvoll, allen Abgeordneten, Gästen und den Regierenden zugewandt, trug er vor, was Russland, was die russische Regierung in ihren freundschaftlichen Beziehungen zu Deutschland und Europa beschäftigte und bedrückte.
Nach dem islamistischen Anschlag auf das World Trade Center 9/11 besann sich die Welt jedoch nicht auf eine gleichgesinnte Gemeinschaft, sondern drehte sich in eine andere Richtung. George W. Bush ließ sich mit Vollmachten ausstatten, setzte bisher geltendes Recht außer Kraft, verschärfte es und überzog ganze Länder und Staaten mit seinem Krieg gegen den Terror. Russland griff militärisch in Sezessionskriege ein. In Deutschland explodierten die Startups von »Sicherheitsinstituten«; die »islamistische« Gefahr schadete der Entspannungspolitik, sie stärkte jene Kräfte, die militärische und sicherheitspolitische Mobilmachung in den Ländern des Westens und Russlands befürworteten. Im Januar 2006 beschrieb der außen- und sicherheitspolitische Berater Helmut Kohls in einer Denkschrift die Gefährdungen des Friedens für die politische Stabilität Europas. Es müsse eine gemeinsame Strategie entwickelt werden, um »Osteuropa einschließlich Russland« in eine gesamteuropäische Friedens- und Sicherheitsordnung einzubinden. Teltschik, damals Vorsitzender der Münchner Sicherheitskonferenz, hielt fest: Die Erweiterung der EU sei wie die Wiedervereinigung Deutschlands ein »window of opportunity« für politische Stabilität in Europa. »Der wachsende Druck auf die Ukraine, auf Georgien und auch auf Weißrussland« erfordere eine gemeinsame Politik der Europäischen Union. In einem persönlich-vertraulichen Brief an Bundeskanzlerin Merkel teilt Teltschik zahlreiche Bedenken des russischen Präsidenten mit: seine Besorgnis über amerikanische Rüstungsvorhaben (Trident II) und das Drängen der USA, dass die Ukraine Mitglied der Nato werde, wortwörtlich: »Erst müssten die Beziehungen Russlands mit der Nato geklärt sein und weiterentwickelt werden, bevor die Ukraine der Nato beitreten könne und nicht umgekehrt. Sonst sei die Nato für Russland ein Feind.« Teltschiks Brief an Merkel beinhaltet Putins Stellungnahmen zu Georgien, Türkei, die demografische Entwicklung in Russland, eine Kritik an US-Außenminister Cheney, zur Hamas, zum Verhältnis zwischen Russland und EU – und schließt mit dem Wunsch nach verstärkter Zusammenarbeit mit Deutschland und einer stärkeren Einbindung in die Nato, »gewissermaßen als Kompensation für den Nato-Beitritt der Ukraine«.
In einem kürzlich mit Teltschik geführten Interview beklagte der ehemalige Vorsitzende der Münchner Sicherheitskonferenz (1999 bis 2008), dass Merkels Vorschlag, die Beziehungen zu Russland auszubauen, während der Konferenz 2007 ohne Widerhall geblieben sei. Weder die Bundeskanzlerin noch Außenminister Steinmeier und deren Mitarbeiter hätten Putins Rede aufgegriffen, um in einen fruchtbaren Dialog zu kommen. Horst Teltschik kam im Gespräch mehrere Male auf das schwerwiegende Versäumnis zurück, das ihn fast dreißig Jahre danach noch bewegt, weil er sich im Rückblick ob der vertanen Möglichkeit bewusst ist.
Zitate aus: Horst Teltschik: Die 329 Tage zur deutschen Einigung. Das vollständige Tagebuch mit Nachbetrachtungen, Rückblenden und Ausblicken, V&R, Göttingen 2024.
Gespräch mit Horst Teltschik am 3.2.2025 in Rottach-Egern unter: https://youtu.be/nSLN3vGI6EM.