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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Abschied von einem Freund

Tho­mas Kuc­zyn­ski war ein Leben lang mein bester Freund. Er ver­starb am 19. August 2023 im Alter von 79 Jah­ren an einer Krebs­er­kran­kung. Die Trau­er­fei­er und Bei­set­zung fin­det am 12.Oktober, um 13 Uhr, auf dem Fried­hof Pan­kow III statt.

Wir begeg­ne­ten uns mög­li­cher­wei­se schon als Klein­kin­der, als mei­ne Eltern mit mir, von Lei­ce­ster über Lon­don, 1947 aus der Emi­gra­ti­on ins zer­stör­te Ber­lin zurück­kehr­ten, um, wie Fami­lie Kuc­zyn­ski, mit­zu­hel­fen, ein anti­fa­schi­sti­sches und sozia­li­sti­sches Deutsch­land auf­zu­bau­en. Sein Vater Jür­gen Kuc­zyn­ski war bereits in Eng­land einer der Leh­rer mei­ner noch jugend­li­chen Eltern gewe­sen. Wirk­lich befreun­de­ten wir uns Ende der 50er Jah­re, als Tho­mas und ich zufäl­lig in die Par­al­lel­klas­sen der Paul-Oestreich-Ober­schu­le in Ber­lin-Wei­ßen­see gin­gen. Wir saßen hin und wie­der bis spät in der Nacht in der Vil­la sei­ner Eltern, gleich um die Ecke, in der Park­stra­ße, umge­ben von unzäh­li­gen, dunk­len Rega­len, die bis an die Decke mit Büchern gefüllt waren, und tran­ken Rot­wein und ver­spei­sten »Kuc­zyn­ski-Salat«, den sei­ne Mut­ter aus zer­klei­ner­tem Gemü­se und Joghurt köst­lich zube­rei­tet hat­te. Spä­ter, ab den 60er Jah­ren, dis­ku­tier­ten wir stun­den­lang über den schwie­ri­gen Zustand der DDR und den sowje­ti­schen Sozia­lis­mus, nach den Ent­hül­lun­gen Chruscht­schows über Sta­lins Ver­bre­chen, und dach­ten sehr vage über öko­no­mi­sche und poli­ti­sche Refor­men nach. Wir lach­ten über die­sen oder jenen, zumeist jüdi­schen Witz, von denen Tho­mas stets mehr kann­te als ich. Etwa den: »Sag mal David, du bist doch jetzt Par­tei­mit­glied gewor­den. Stimmt es, dass es im Kom­mu­nis­mus kein Geld mehr geben soll?« »Na, ja, einer­seits und ande­rer­seits…« »Na, was denn nun?« »Na ja, die einen wer­den Geld haben und die ande­ren keins…«

Tho­mas stu­dier­te nach dem Abi Sta­ti­stik an der Hoch­schu­le für Öko­no­mie in Karls­horst, wäh­rend sein Vater mir, nach­dem ich ihn, von Tho­mas ver­mit­telt, um Rat frag­te, zum weni­ger wis­sen­schaft­li­chen Kul­tur­wis­sen­schafts­stu­di­um riet und auch dazu verhalf.

Tho­mas Leh­rer waren u. a. die jüdi­schen Remi­gran­ten Hans Mot­tek, einer der füh­ren­den Wirt­schafts­hi­sto­ri­ker der DDR, sowie Nathan Stein­ber­ger, ein muti­ger Wirt­schafts­wis­sen­schaft­ler, Gulag-Über­le­ben­der, der erst 1956 in die DDR zurück­kehr­te. Tho­mas pro­mo­vier­te zur Welt­wirt­schafts­kri­se 1932/​33 und schrieb sei­ne Habi­li­ta­ti­on über mathe­ma­ti­sche Metho­den in der Wirt­schafts­ge­schichts­schrei­bung. Bis 1990 war er Direk­tor des Insti­tuts für Wirt­schafts­ge­schich­te der Aka­de­mie der Wis­sen­schaf­ten der DDR, das sein Vater einst gegrün­det und lan­ge gelei­tet hat­te. Tho­mas pro­te­stier­te ver­geb­lich, wie vie­le inter­na­tio­na­le Wis­sen­schaft­ler, gegen die Auf­lö­sung des Insti­tuts nach 1990, aber es gelang ihm wenig­stens, dass vie­le sei­ner Mit­ar­bei­ter irgend­wie wei­ter beschäf­tigt wur­den. Er hin­ge­gen fand, skan­da­lö­ser Wei­se, kei­nen festen Arbeits­platz mehr und schlug sich bis zum Schluss frei­be­ruf­lich und als Pri­vat­ge­lehr­ter durch. Sei­ne wis­sen­schaft­li­chen Arbei­ten sind beacht­lich und blei­bend, neben unzäh­li­gen Arti­keln etwa die Kri­tik der glo­ba­len Öko­no­mie in sei­nem Buch: »Geschich­ten aus dem Luna­park«. Dann sein Buch »Bro­sa­men vom Her­ren­tisch«, mit Berech­nun­gen der ca. 100 Mil­li­ar­den Reichs­mark-Ein­nah­men der deut­schen Indu­stri­el­len durch die Aus­beu­tung der NS-Zwangs­ar­bei­ter; die Her­aus­ga­be der Edi­ti­ons­ge­schich­te des »Mani­fe­stes der Kom­mu­ni­sti­schen Par­tei«; die Her­aus­ga­be der Geschäfts­bü­cher von Moses Men­dels­sohn und von Karl Marx »Lohn, Preis, Pro­fit«, schließ­lich sein Haupt­werk, nach 20-jäh­ri­ger Arbeit, die Neue (voll­stän­di­ge) Text­aus­ga­be des Kapi­tals Bd. 1. mit einem gewal­ti­gen Anmer­kungs­ap­pa­rat – auf der Basis einer deut­schen und fran­zö­si­schen Aus­ga­be sowie hand­schrift­li­cher Mate­ria­li­en von Marx und Engels, die bis­her nie in einer Aus­ga­be zusam­men­ge­führt wurden.

Tho­mas gehör­te, wie sei­ne gan­ze Fami­lie, zum Kern der links-jüdi­schen Par­tei­in­tel­li­genz der DDR, ohne die die Vor-, Ver­laufs- und Nach­ge­schich­te der DDR – die Poli­tik, Wis­sen­schafts- und Kul­tur­ge­schich­te, mit ihren Licht- und Schat­ten­sei­ten und ihrem wider­sprüch­li­chen Erbe – nicht ver­stan­den und geschrie­ben wer­den kann.

Tho­mas war nicht nur mir stets ein sehr gedul­di­ger, lie­be­vol­ler Freund, Dis­ku­tant und Bera­ter, mit sei­nem unbeug­sa­men, lin­ken poli­ti­schen Her­zen und sei­nem schar­fen Ver­stand, der mir immer feh­len wird. Sei­ne jüdi­sche Her­kunft väter­li­cher­seits the­ma­ti­sier­te er zwie­späl­tig, wie sein Vater, auch weil das wohl kaum ein expli­zi­tes Fami­li­en­the­ma war. Der letz­te jüdi­sche Witz, den Tho­mas mir erzähl­te, als ich mei­ne Lebens­ge­füh­le hier­zu­lan­de, ange­sichts des Ukrai­ne-Krie­ges, beklag­te, lau­te­te: »Ein deut­scher Beam­ter frag­te einen Juden, wohin er denn aus­wan­dern wol­le? Der Jude wuss­te es nicht, und der Beam­te gab ihm einen Glo­bus. Der Jude dreh­te und dreh­te den Glo­bus, schließ­lich wur­de der Beam­te unge­dul­dig. Da frag­te der Aus­rei­se­wil­li­ge: Haben sie nicht einen ande­ren Globus?«