Thomas Kuczynski war ein Leben lang mein bester Freund. Er verstarb am 19. August 2023 im Alter von 79 Jahren an einer Krebserkrankung. Die Trauerfeier und Beisetzung findet am 12.Oktober, um 13 Uhr, auf dem Friedhof Pankow III statt.
Wir begegneten uns möglicherweise schon als Kleinkinder, als meine Eltern mit mir, von Leicester über London, 1947 aus der Emigration ins zerstörte Berlin zurückkehrten, um, wie Familie Kuczynski, mitzuhelfen, ein antifaschistisches und sozialistisches Deutschland aufzubauen. Sein Vater Jürgen Kuczynski war bereits in England einer der Lehrer meiner noch jugendlichen Eltern gewesen. Wirklich befreundeten wir uns Ende der 50er Jahre, als Thomas und ich zufällig in die Parallelklassen der Paul-Oestreich-Oberschule in Berlin-Weißensee gingen. Wir saßen hin und wieder bis spät in der Nacht in der Villa seiner Eltern, gleich um die Ecke, in der Parkstraße, umgeben von unzähligen, dunklen Regalen, die bis an die Decke mit Büchern gefüllt waren, und tranken Rotwein und verspeisten »Kuczynski-Salat«, den seine Mutter aus zerkleinertem Gemüse und Joghurt köstlich zubereitet hatte. Später, ab den 60er Jahren, diskutierten wir stundenlang über den schwierigen Zustand der DDR und den sowjetischen Sozialismus, nach den Enthüllungen Chruschtschows über Stalins Verbrechen, und dachten sehr vage über ökonomische und politische Reformen nach. Wir lachten über diesen oder jenen, zumeist jüdischen Witz, von denen Thomas stets mehr kannte als ich. Etwa den: »Sag mal David, du bist doch jetzt Parteimitglied geworden. Stimmt es, dass es im Kommunismus kein Geld mehr geben soll?« »Na, ja, einerseits und andererseits…« »Na, was denn nun?« »Na ja, die einen werden Geld haben und die anderen keins…«
Thomas studierte nach dem Abi Statistik an der Hochschule für Ökonomie in Karlshorst, während sein Vater mir, nachdem ich ihn, von Thomas vermittelt, um Rat fragte, zum weniger wissenschaftlichen Kulturwissenschaftsstudium riet und auch dazu verhalf.
Thomas Lehrer waren u. a. die jüdischen Remigranten Hans Mottek, einer der führenden Wirtschaftshistoriker der DDR, sowie Nathan Steinberger, ein mutiger Wirtschaftswissenschaftler, Gulag-Überlebender, der erst 1956 in die DDR zurückkehrte. Thomas promovierte zur Weltwirtschaftskrise 1932/33 und schrieb seine Habilitation über mathematische Methoden in der Wirtschaftsgeschichtsschreibung. Bis 1990 war er Direktor des Instituts für Wirtschaftsgeschichte der Akademie der Wissenschaften der DDR, das sein Vater einst gegründet und lange geleitet hatte. Thomas protestierte vergeblich, wie viele internationale Wissenschaftler, gegen die Auflösung des Instituts nach 1990, aber es gelang ihm wenigstens, dass viele seiner Mitarbeiter irgendwie weiter beschäftigt wurden. Er hingegen fand, skandalöser Weise, keinen festen Arbeitsplatz mehr und schlug sich bis zum Schluss freiberuflich und als Privatgelehrter durch. Seine wissenschaftlichen Arbeiten sind beachtlich und bleibend, neben unzähligen Artikeln etwa die Kritik der globalen Ökonomie in seinem Buch: »Geschichten aus dem Lunapark«. Dann sein Buch »Brosamen vom Herrentisch«, mit Berechnungen der ca. 100 Milliarden Reichsmark-Einnahmen der deutschen Industriellen durch die Ausbeutung der NS-Zwangsarbeiter; die Herausgabe der Editionsgeschichte des »Manifestes der Kommunistischen Partei«; die Herausgabe der Geschäftsbücher von Moses Mendelssohn und von Karl Marx »Lohn, Preis, Profit«, schließlich sein Hauptwerk, nach 20-jähriger Arbeit, die Neue (vollständige) Textausgabe des Kapitals Bd. 1. mit einem gewaltigen Anmerkungsapparat – auf der Basis einer deutschen und französischen Ausgabe sowie handschriftlicher Materialien von Marx und Engels, die bisher nie in einer Ausgabe zusammengeführt wurden.
Thomas gehörte, wie seine ganze Familie, zum Kern der links-jüdischen Parteiintelligenz der DDR, ohne die die Vor-, Verlaufs- und Nachgeschichte der DDR – die Politik, Wissenschafts- und Kulturgeschichte, mit ihren Licht- und Schattenseiten und ihrem widersprüchlichen Erbe – nicht verstanden und geschrieben werden kann.
Thomas war nicht nur mir stets ein sehr geduldiger, liebevoller Freund, Diskutant und Berater, mit seinem unbeugsamen, linken politischen Herzen und seinem scharfen Verstand, der mir immer fehlen wird. Seine jüdische Herkunft väterlicherseits thematisierte er zwiespältig, wie sein Vater, auch weil das wohl kaum ein explizites Familienthema war. Der letzte jüdische Witz, den Thomas mir erzählte, als ich meine Lebensgefühle hierzulande, angesichts des Ukraine-Krieges, beklagte, lautete: »Ein deutscher Beamter fragte einen Juden, wohin er denn auswandern wolle? Der Jude wusste es nicht, und der Beamte gab ihm einen Globus. Der Jude drehte und drehte den Globus, schließlich wurde der Beamte ungeduldig. Da fragte der Ausreisewillige: Haben sie nicht einen anderen Globus?«