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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Abschied von Brigitte Rothert

Ende Novem­ber starb die letz­te Ver­wand­te Kurt Tuchol­skys, sei­ne Groß­cou­si­ne Bri­git­te Rothert, in ihrer Hei­mat­stadt Dres­den im Alter von 92 Jah­ren. Mit ihr ver­lie­ren die Freun­de und Bewun­de­rer des viel­sei­ti­gen und krea­ti­ven Autors und Huma­ni­sten eine pro­fun­de Ken­ne­rin sei­ner Lebens­um­stän­de und sei­nes Wer­kes. Bri­git­te Rothert war Patin der Min­de­ner Tuchol­sky-Gesamt­schu­le und unter­stütz­te die Namens­ge­bung der Kurt-Tuchol­sky-Schu­le in der Ber­li­ner Neu­mann­stra­ße. Nicht nur für Leh­rer und für Gene­ra­tio­nen von Schü­lern war sie eine feste und zuver­läs­si­ge Grö­ße, sie för­der­te auch die Tra­di­ti­ons­pfle­ge auf Büh­nen und im Rheins­ber­ger Lite­ra­tur­mu­se­um und hielt sich nicht mit Kri­tik zurück, wenn ihr eine Bewer­tung zu ein­sei­tig oder ver­fehlt erschien.

Als wir Bri­git­te im Jah­re 1993 ken­nen­lern­ten, ver­dank­ten wir das einem puren Zufall. Tuchol­sky stand schon lan­ge im Mit­tel­punkt unse­res Inter­es­ses, und als Päd­ago­gen hat­ten wir uns dar­um bemüht, der Enge sei­ner Behand­lung in den DDR-Lehr­plä­nen – in den Cur­ri­cu­la der BRD sah es nicht bes­ser aus – durch Akti­vi­tä­ten außer­halb des Unter­richts gegen­zu­steu­ern. Dem dien­ten Zusam­men­stel­lun­gen von Kurt-Tuchol­sky-Tex­ten für Auf­füh­run­gen in Ber­li­ner Schu­len, im »Thea­ter im 12. Stock« des Ber­li­ner Leh­rer­en­sem­bles und in Kul­tur­ein­rich­tun­gen unter­schied­lich­ster Cou­leur. Nach einem Auf­tritt in einem Senio­ren­klub in Ber­lin-Prenz­lau­er Berg ver­blüff­te uns eine älte­re Besu­che­rin mit der gesäch­selt dahin­ge­spro­che­nen Bemer­kung: »Was Sie da gera­de über Tuchol­skys Ver­wandt­schaft gesun­gen haben, kann ich Ihnen nur bestä­ti­gen: Ich bin die Ver­wandt­schaft – ich bin sei­ne Groß­cou­si­ne!« Das brach­te uns ins Gespräch und war der Anfang einer bis in die jüng­sten Tage rei­chen­den Freundschaft.

Bri­git­te Jäh­rig, 1928 gebo­ren, ver­brach­te ihre Kin­der- und Jugend­jah­re wäh­rend der Nazi- und Kriegs­zeit in Dres­den und im poli­ti­schen Fami­li­en­zwist. Als Toch­ter einer Jüdin galt sie nach den Ras­se­ge­set­zen der Nazis als »Misch­ling ersten Gra­des« und wur­de von ihrem der NSDAP ange­hö­ri­gen Vater ver­leug­net, der den Stolz auf sei­ne aus der zwei­ten Ehe her­vor­ge­gan­ge­nen »unbe­la­ste­ten« Kin­der gern her­vor­kehr­te. Die Situa­ti­on führ­te zu einer Not-Unter­brin­gung in einem »Juden­haus«, aber auch zur Nach­bar­schaft und zur Freund­schaft mit der dort eben­falls ein­quar­tier­ten Fami­lie Vic­tor Klemperers.

Über­haupt war Bri­git­te durch eine Art Hass­lie­be mit ihrer Hei­mat­stadt Dres­den ver­bun­den. Sie lieb­te das Flair der Kunst­me­tro­po­le und den sich durch das Tal dahin­schlän­geln­den Fluss, muss­te aber auch mit den Umstän­den leben, die ihr der Krieg beschert hat­te. Der Bom­ben­an­griff vom Febru­ar 1945, der Dres­den fast völ­lig aus­lösch­te, ver­hin­der­te ihren und ihrer Mut­ter bereits ver­füg­ten Abtrans­port in ein Lager und ret­te­te bei­der Leben. In ihrem 2007 erschie­ne­nen Buch »Tuchol­skys Groß­cou­si­ne erin­nert sich« setz­te sie sich damit und mit dem wei­te­ren Ver­lauf ihres Lebens auseinander.

Nach der Befrei­ung Deutsch­lands vom Faschis­mus nahm Bri­git­te ein Päd­ago­gik­stu­di­um auf und arbei­te­te als Rus­sisch­leh­re­rin in Dres­den und in Ber­lin. Und sie ent­wickel­te den Ehr­geiz, sich mit dem Schaf­fen und den Lebens­um­stän­den ihres Groß­cou­sins Kurt genau­er ver­traut zu machen und zur Bewah­rung und Popu­la­ri­sie­rung sei­nes Wer­kes beizutragen.

Bri­git­te, die ihrem Groß­cou­sin auf Grund sei­ner schwe­di­schen Emi­gra­ti­on nie per­sön­lich begeg­net war, aber Mut­ter Doris Tuchol­sky noch in den Kriegs­jah­ren bei Besu­chen in Ber­lin ken­nen­ge­lernt hat­te, pfleg­te die Ver­bin­dung zu Kurts spä­ter in Ber­lin leben­der Schwe­ster. Sie unter­hielt den Kon­takt zu den Tuchol­sky-Bio­gra­phen Hel­ga Bem­mann, Klaus-Peter Schulz, Fritz J. Rad­datz, Ger­hard Zwe­renz und Micha­el Hepp sowie zu Autoren, die sich zu spe­zi­el­len Lebens­ab­schnit­ten und Schaf­fens­etap­pen Tuchol­skys geäu­ßert hatten.

Es ist Bri­git­te hoch anzu­rech­nen, dass und wie sie sich nach der Wen­de­zeit für die in Ber­lin bestehen­den Tuchol­sky-Büche­rei­en in Char­lot­ten­burg und am Luxem­burg­platz in Ber­lin-Mit­te ein­setz­te (sie­he Ossietzky 4/​2012, 2/​2018).

Es wäre Bri­git­te Rothert gegen­über unfair, eine Epi­so­de zu ver­schwei­gen, die mit der lang­jäh­rig bestehen­den »Tuchol­sky-Restau­ra­ti­on« in der Tor­stra­ße in Ber­lin-Mit­te ver­bun­den ist. Dort hat­te sich in einem Neu­bau am ehe­ma­li­gen Stand­ort einer Tank­stel­le eine Gast­stät­te eta­bliert, die – wahr­schein­lich wegen ihrer Gegen­über-Lage zur Ein­mün­dung der Tuchol­sky­stra­ße – vom Inha­ber mit dem Namen des Schrift­stel­lers ver­edelt wor­den war. Der Zufall führ­te Bri­git­te in die­se Gegend, und erfreut und erwar­tungs­voll ließ sie sich »auf einen Kaf­fee« nie­der und mit dem Wirt in ein Gespräch ein. Nach­dem sie fest­ge­stellt hat­te, dass der Inha­ber kei­nen blas­sen Schim­mer vom Namens­ge­ber sei­ner Restau­ra­ti­on hat­te, pro­te­stier­te sie beim Bür­ger­mei­ster von Ber­lin-Mit­te und erreich­te, dass Tuchol­skys Name nicht mehr als Fir­men­schild ver­wen­det wer­den durf­te. Nach­dem sich mit Lutz Kel­ler ein neu­er Betrei­ber für das Eta­blis­se­ment gefun­den hat­te, misch­te sie sich in die Neu­ge­stal­tung der Gast­stät­te ein, die zu einem Mini-Muse­um mutier­te und sich zum Treff­punkt von Tuchol­sky-Freun­den ent­wickel­te, bevor die Restau­ra­ti­on wegen der Erkran­kung des Päch­ters auf­ge­ge­ben wer­den musste.

Die letz­te per­sön­li­che Begeg­nung mit Bri­git­te Rothert hat­ten wir 2016, als sich die Jah­res­ta­gung der Kurt Tuchol­sky-Gesell­schaft in Dres­den mit dem Leben und Wir­ken Erich Käst­ners beschäf­tig­te. Sie bestritt einen der Tages­ord­nungs­punk­te, erklär­te den Teil­neh­mern die Dres­de­ner Wohn­stät­ten Käst­ners und führ­te sie am »Wei­ßen Hirsch« zu dem Gebäu­de, in dem Kurt Tuchol­sky einst eine Kur absol­viert hatte.

Bri­git­te wird mit dem Leben und Wir­ken Kurt Tuchol­skys sowie mit der Inter­pre­ta­ti­on sei­ner Auf­fas­sun­gen für unse­re Zeit eng ver­bun­den blei­ben. In die­sem Kon­text ist auch ihre Stel­lung zur Weltbühne her­vor­zu­he­ben, deren Inhalt von zahl­rei­chen Bei­trä­gen ihres Groß­cou­sins geprägt wurde.

Möge sie sich so ver­hal­ten, wie es ihr Groß­cou­sin Kurt einst sei­ner Frau Mary pro­phe­zeit hat­te: »Wenn tot, wer­de ich mich mel­den.«