Ende November starb die letzte Verwandte Kurt Tucholskys, seine Großcousine Brigitte Rothert, in ihrer Heimatstadt Dresden im Alter von 92 Jahren. Mit ihr verlieren die Freunde und Bewunderer des vielseitigen und kreativen Autors und Humanisten eine profunde Kennerin seiner Lebensumstände und seines Werkes. Brigitte Rothert war Patin der Mindener Tucholsky-Gesamtschule und unterstützte die Namensgebung der Kurt-Tucholsky-Schule in der Berliner Neumannstraße. Nicht nur für Lehrer und für Generationen von Schülern war sie eine feste und zuverlässige Größe, sie förderte auch die Traditionspflege auf Bühnen und im Rheinsberger Literaturmuseum und hielt sich nicht mit Kritik zurück, wenn ihr eine Bewertung zu einseitig oder verfehlt erschien.
Als wir Brigitte im Jahre 1993 kennenlernten, verdankten wir das einem puren Zufall. Tucholsky stand schon lange im Mittelpunkt unseres Interesses, und als Pädagogen hatten wir uns darum bemüht, der Enge seiner Behandlung in den DDR-Lehrplänen – in den Curricula der BRD sah es nicht besser aus – durch Aktivitäten außerhalb des Unterrichts gegenzusteuern. Dem dienten Zusammenstellungen von Kurt-Tucholsky-Texten für Aufführungen in Berliner Schulen, im »Theater im 12. Stock« des Berliner Lehrerensembles und in Kultureinrichtungen unterschiedlichster Couleur. Nach einem Auftritt in einem Seniorenklub in Berlin-Prenzlauer Berg verblüffte uns eine ältere Besucherin mit der gesächselt dahingesprochenen Bemerkung: »Was Sie da gerade über Tucholskys Verwandtschaft gesungen haben, kann ich Ihnen nur bestätigen: Ich bin die Verwandtschaft – ich bin seine Großcousine!« Das brachte uns ins Gespräch und war der Anfang einer bis in die jüngsten Tage reichenden Freundschaft.
Brigitte Jährig, 1928 geboren, verbrachte ihre Kinder- und Jugendjahre während der Nazi- und Kriegszeit in Dresden und im politischen Familienzwist. Als Tochter einer Jüdin galt sie nach den Rassegesetzen der Nazis als »Mischling ersten Grades« und wurde von ihrem der NSDAP angehörigen Vater verleugnet, der den Stolz auf seine aus der zweiten Ehe hervorgegangenen »unbelasteten« Kinder gern hervorkehrte. Die Situation führte zu einer Not-Unterbringung in einem »Judenhaus«, aber auch zur Nachbarschaft und zur Freundschaft mit der dort ebenfalls einquartierten Familie Victor Klemperers.
Überhaupt war Brigitte durch eine Art Hassliebe mit ihrer Heimatstadt Dresden verbunden. Sie liebte das Flair der Kunstmetropole und den sich durch das Tal dahinschlängelnden Fluss, musste aber auch mit den Umständen leben, die ihr der Krieg beschert hatte. Der Bombenangriff vom Februar 1945, der Dresden fast völlig auslöschte, verhinderte ihren und ihrer Mutter bereits verfügten Abtransport in ein Lager und rettete beider Leben. In ihrem 2007 erschienenen Buch »Tucholskys Großcousine erinnert sich« setzte sie sich damit und mit dem weiteren Verlauf ihres Lebens auseinander.
Nach der Befreiung Deutschlands vom Faschismus nahm Brigitte ein Pädagogikstudium auf und arbeitete als Russischlehrerin in Dresden und in Berlin. Und sie entwickelte den Ehrgeiz, sich mit dem Schaffen und den Lebensumständen ihres Großcousins Kurt genauer vertraut zu machen und zur Bewahrung und Popularisierung seines Werkes beizutragen.
Brigitte, die ihrem Großcousin auf Grund seiner schwedischen Emigration nie persönlich begegnet war, aber Mutter Doris Tucholsky noch in den Kriegsjahren bei Besuchen in Berlin kennengelernt hatte, pflegte die Verbindung zu Kurts später in Berlin lebender Schwester. Sie unterhielt den Kontakt zu den Tucholsky-Biographen Helga Bemmann, Klaus-Peter Schulz, Fritz J. Raddatz, Gerhard Zwerenz und Michael Hepp sowie zu Autoren, die sich zu speziellen Lebensabschnitten und Schaffensetappen Tucholskys geäußert hatten.
Es ist Brigitte hoch anzurechnen, dass und wie sie sich nach der Wendezeit für die in Berlin bestehenden Tucholsky-Büchereien in Charlottenburg und am Luxemburgplatz in Berlin-Mitte einsetzte (siehe Ossietzky 4/2012, 2/2018).
Es wäre Brigitte Rothert gegenüber unfair, eine Episode zu verschweigen, die mit der langjährig bestehenden »Tucholsky-Restauration« in der Torstraße in Berlin-Mitte verbunden ist. Dort hatte sich in einem Neubau am ehemaligen Standort einer Tankstelle eine Gaststätte etabliert, die – wahrscheinlich wegen ihrer Gegenüber-Lage zur Einmündung der Tucholskystraße – vom Inhaber mit dem Namen des Schriftstellers veredelt worden war. Der Zufall führte Brigitte in diese Gegend, und erfreut und erwartungsvoll ließ sie sich »auf einen Kaffee« nieder und mit dem Wirt in ein Gespräch ein. Nachdem sie festgestellt hatte, dass der Inhaber keinen blassen Schimmer vom Namensgeber seiner Restauration hatte, protestierte sie beim Bürgermeister von Berlin-Mitte und erreichte, dass Tucholskys Name nicht mehr als Firmenschild verwendet werden durfte. Nachdem sich mit Lutz Keller ein neuer Betreiber für das Etablissement gefunden hatte, mischte sie sich in die Neugestaltung der Gaststätte ein, die zu einem Mini-Museum mutierte und sich zum Treffpunkt von Tucholsky-Freunden entwickelte, bevor die Restauration wegen der Erkrankung des Pächters aufgegeben werden musste.
Die letzte persönliche Begegnung mit Brigitte Rothert hatten wir 2016, als sich die Jahrestagung der Kurt Tucholsky-Gesellschaft in Dresden mit dem Leben und Wirken Erich Kästners beschäftigte. Sie bestritt einen der Tagesordnungspunkte, erklärte den Teilnehmern die Dresdener Wohnstätten Kästners und führte sie am »Weißen Hirsch« zu dem Gebäude, in dem Kurt Tucholsky einst eine Kur absolviert hatte.
Brigitte wird mit dem Leben und Wirken Kurt Tucholskys sowie mit der Interpretation seiner Auffassungen für unsere Zeit eng verbunden bleiben. In diesem Kontext ist auch ihre Stellung zur Weltbühne hervorzuheben, deren Inhalt von zahlreichen Beiträgen ihres Großcousins geprägt wurde.
Möge sie sich so verhalten, wie es ihr Großcousin Kurt einst seiner Frau Mary prophezeit hatte: »Wenn tot, werde ich mich melden.«