9/11 gibt es doppelt. Beinahe jeder Mensch weiß, dass am 11. September 2001 zwei von islamistischen Terroristen aus Osama Bin Ladens Al-Kaida-Netzwerk gekaperte Flugzeuge in die Twin-Towers des World Trade Centers in Manhattan flogen, was circa 3000 New Yorkern das Leben kostete. Aber die wenigsten Menschen wissen noch, dass am 11. September 1973 in Chile die demokratisch gewählte Regierung unter dem sozialistischen Präsidenten Salvador Allende durch einen Putsch einiger Generäle gestürzt wurde, die dann eine bis März 1990 dauernde faschistische Diktatur errichteten. Wieviel Tausend Menschen dieser 11. September das Leben kostete, ist nicht genau feststellbar. Allein die Folteropfer werden auf circa 10 bis 20 Tausend beziffert.
Ein Jahrestag steht also an. Die Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung (vom 30.07.2023) schafft es tatsächlich, 50 Jahre nach dem faschistischen Putsch durch die Militärjunta unter Augusto Pinochet und dem nachfolgenden Siegeszug des Neoliberalismus, den sich damals Milton Friedman und seine »Chicago Boys« an der Universität Chicago ausdachten und im faschistischen Chile erstmals ausprobierten, eine ganze Seite darüber zu füllen, ohne mit einer einzigen Silbe die federführende Beteiligung der CIA an diesem »Projekt« zu erwähnen. So entsteht Information, bei der kein einziges Wort gelogen, aber trotzdem alles unwahr ist. Durch bloßes Verschweigen von drei Buchstaben. Vermutlich ist es genau das, was Wirtschaftsliberalismus und Faschismus immer wieder so harmonisch zusammenfinden lässt. Auf Wikipedia hätte der Autor nachlesen können: Dem CIA-Chef Helms »zufolge verlangte Nixon von seinen Beratern die Vorbereitung von Plänen zu dem Zweck, eine chilenische Wirtschaftskrise zu verursachen«. Manche Journalisten und Wirtschaftswissenschaftler wissen nicht, dass man Wirtschaftskrisen inszenieren und herbeiführen kann, wenn man CIA heißt. Auch Erpressung, Folter, Mord, Völkermord, Staatsterrorismus verwendet man gern bei der CIA. Das jedoch ist vielen Verfechtern der so genannten freien Marktwirtschaft relativ egal. Wichtig ist ihnen: »Der Staat zog sich weitgehend aus der Wirtschaft zurück.«
Als Thatcherismus und Reaganomics wurde später die von der britischen Premierministerin und vom amerikanischen Präsidenten betriebene, von Milton Friedman für Pinochet erfundene Wirtschaftspolitik bezeichnet. Der chilenische Foltergeneral wusste: »Die Demokratie muss gelegentlich in Blut gebadet werden, damit sie fortbestehen kann.« Der Sturz der Demokratie in Chile war nicht das erste Experiment dieser Art durch den US-Geheimdienst. Er war z. B. beteiligt am Umsturz und der Einrichtung einer Diktatur in folgenden Staaten: Iran (1953), Guatemala (1954), Kongo (1960), Brasilien (1964), Indonesien (1965), Bolivien (1967), Griechenland (1967), Argentinien (1976), Türkei (1980). Auch an der Ermordung von Patrice Lumumba 1960 in Kongo und an der Festnahme Nelson Mandelas 1962 im Apartheidstaat Südafrika.
Man unterscheidet heutzutage gern sehr simplifizierend zwischen Demokratien und Diktaturen, vergisst dabei allerdings, dass sich die so hoch gelobte Demokratie oft der Diktatur andernorts bedient, wenn es um wirtschaftliche Interessen geht. Pinochet blieb bis 1990 im Amt, war dann noch bis 1998 Oberbefehlshaber des Heeres und genoss als Senator auf Lebenszeit (das Amt hatte er sich mit seiner Verfassung selber geschaffen) Immunität bis 2000, als diese gerichtlich aufgehoben wurde. Ein spanischer Richter namens Baltasar Garzón hatte schon länger gegen ihn wegen Folter und Völkermord ermittelt, und als Pinochet 1998 England besuchte, stellte Spanien einen Auslieferungsantrag, was zur Verhaftung Pinochets und dessen Hausarrest in London bis März 2000 führte. Zwar hatte der britische Außenminister Jack Straw (Labour Party) 1999 die Auslieferung an Spanien verfügt, aber aus »humanitären«, nämlich gesundheitlichen Gründen (auch der Vatikan hatte sich für den Katholiken Pinochet eingesetzt) ließ man ihn schließlich nach Chile zurückreisen, wo er 2006 verstarb.
Der 11. September 1973 ist wichtig, weil er uns mit der erfolgreichen Zusammenarbeit von CIA und chilenischer Militärjunta als Musterbeispiel für die menschenrechtsverachtende Kooperation von Demokratie und Diktatur an die so häufige opportunistische Verlogenheit der Demokratie erinnert. »Sorgen Sie dafür, dass die Freiheit in ihrem Lande, gleichgültig von woher sie bedroht wird, erhalten bleibt«, sagte der CSU-Vorsitzende Franz Josef Strauß 1977 bei seinem Chile-Besuch zu Pinochet.