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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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9/​11: nicht 2001, sondern 1973

9/​11 gibt es dop­pelt. Bei­na­he jeder Mensch weiß, dass am 11. Sep­tem­ber 2001 zwei von isla­mi­sti­schen Ter­ro­ri­sten aus Osa­ma Bin Ladens Al-Kai­da-Netz­werk geka­per­te Flug­zeu­ge in die Twin-Towers des World Trade Cen­ters in Man­hat­tan flo­gen, was cir­ca 3000 New Yor­kern das Leben koste­te. Aber die wenig­sten Men­schen wis­sen noch, dass am 11. Sep­tem­ber 1973 in Chi­le die demo­kra­tisch gewähl­te Regie­rung unter dem sozia­li­sti­schen Prä­si­den­ten Sal­va­dor Allen­de durch einen Putsch eini­ger Gene­rä­le gestürzt wur­de, die dann eine bis März 1990 dau­ern­de faschi­sti­sche Dik­ta­tur errich­te­ten. Wie­viel Tau­send Men­schen die­ser 11. Sep­tem­ber das Leben koste­te, ist nicht genau fest­stell­bar. Allein die Fol­ter­op­fer wer­den auf cir­ca 10 bis 20 Tau­send beziffert.

Ein Jah­res­tag steht also an. Die Frank­fur­ter All­ge­mei­nen Sonn­tags­zei­tung (vom 30.07.2023) schafft es tat­säch­lich, 50 Jah­re nach dem faschi­sti­schen Putsch durch die Mili­tär­jun­ta unter Augu­sto Pino­chet und dem nach­fol­gen­den Sie­ges­zug des Neo­li­be­ra­lis­mus, den sich damals Mil­ton Fried­man und sei­ne »Chi­ca­go Boys« an der Uni­ver­si­tät Chi­ca­go aus­dach­ten und im faschi­sti­schen Chi­le erst­mals aus­pro­bier­ten, eine gan­ze Sei­te dar­über zu fül­len, ohne mit einer ein­zi­gen Sil­be die feder­füh­ren­de Betei­li­gung der CIA an die­sem »Pro­jekt« zu erwäh­nen. So ent­steht Infor­ma­ti­on, bei der kein ein­zi­ges Wort gelo­gen, aber trotz­dem alles unwahr ist. Durch blo­ßes Ver­schwei­gen von drei Buch­sta­ben. Ver­mut­lich ist es genau das, was Wirt­schafts­li­be­ra­lis­mus und Faschis­mus immer wie­der so har­mo­nisch zusam­men­fin­den lässt. Auf Wiki­pe­dia hät­te der Autor nach­le­sen kön­nen: Dem CIA-Chef Helms »zufol­ge ver­lang­te Nixon von sei­nen Bera­tern die Vor­be­rei­tung von Plä­nen zu dem Zweck, eine chi­le­ni­sche Wirt­schafts­kri­se zu ver­ur­sa­chen«. Man­che Jour­na­li­sten und Wirt­schafts­wis­sen­schaft­ler wis­sen nicht, dass man Wirt­schafts­kri­sen insze­nie­ren und her­bei­füh­ren kann, wenn man CIA heißt. Auch Erpres­sung, Fol­ter, Mord, Völ­ker­mord, Staats­ter­ro­ris­mus ver­wen­det man gern bei der CIA. Das jedoch ist vie­len Ver­fech­tern der so genann­ten frei­en Markt­wirt­schaft rela­tiv egal. Wich­tig ist ihnen: »Der Staat zog sich weit­ge­hend aus der Wirt­schaft zurück.«

Als That­che­ris­mus und Rea­gano­mics wur­de spä­ter die von der bri­ti­schen Pre­mier­mi­ni­ste­rin und vom ame­ri­ka­ni­schen Prä­si­den­ten betrie­be­ne, von Mil­ton Fried­man für Pino­chet erfun­de­ne Wirt­schafts­po­li­tik bezeich­net. Der chi­le­ni­sche Fol­ter­ge­ne­ral wuss­te: »Die Demo­kra­tie muss gele­gent­lich in Blut geba­det wer­den, damit sie fort­be­stehen kann.« Der Sturz der Demo­kra­tie in Chi­le war nicht das erste Expe­ri­ment die­ser Art durch den US-Geheim­dienst. Er war z. B. betei­ligt am Umsturz und der Ein­rich­tung einer Dik­ta­tur in fol­gen­den Staa­ten: Iran (1953), Gua­te­ma­la (1954), Kon­go (1960), Bra­si­li­en (1964), Indo­ne­si­en (1965), Boli­vi­en (1967), Grie­chen­land (1967), Argen­ti­ni­en (1976), Tür­kei (1980). Auch an der Ermor­dung von Patri­ce Lumum­ba 1960 in Kon­go und an der Fest­nah­me Nel­son Man­de­las 1962 im Apart­heid­staat Südafrika.

Man unter­schei­det heut­zu­ta­ge gern sehr sim­pli­fi­zie­rend zwi­schen Demo­kra­tien und Dik­ta­tu­ren, ver­gisst dabei aller­dings, dass sich die so hoch gelob­te Demo­kra­tie oft der Dik­ta­tur andern­orts bedient, wenn es um wirt­schaft­li­che Inter­es­sen geht. Pino­chet blieb bis 1990 im Amt, war dann noch bis 1998 Ober­be­fehls­ha­ber des Hee­res und genoss als Sena­tor auf Lebens­zeit (das Amt hat­te er sich mit sei­ner Ver­fas­sung sel­ber geschaf­fen) Immu­ni­tät bis 2000, als die­se gericht­lich auf­ge­ho­ben wur­de. Ein spa­ni­scher Rich­ter namens Bal­ta­sar Gar­zón hat­te schon län­ger gegen ihn wegen Fol­ter und Völ­ker­mord ermit­telt, und als Pino­chet 1998 Eng­land besuch­te, stell­te Spa­ni­en einen Aus­lie­fe­rungs­an­trag, was zur Ver­haf­tung Pino­chets und des­sen Haus­ar­rest in Lon­don bis März 2000 führ­te. Zwar hat­te der bri­ti­sche Außen­mi­ni­ster Jack Straw (Labour Par­ty) 1999 die Aus­lie­fe­rung an Spa­ni­en ver­fügt, aber aus »huma­ni­tä­ren«, näm­lich gesund­heit­li­chen Grün­den (auch der Vati­kan hat­te sich für den Katho­li­ken Pino­chet ein­ge­setzt) ließ man ihn schließ­lich nach Chi­le zurück­rei­sen, wo er 2006 verstarb.

Der 11. Sep­tem­ber 1973 ist wich­tig, weil er uns mit der erfolg­rei­chen Zusam­men­ar­beit von CIA und chi­le­ni­scher Mili­tär­jun­ta als Muster­bei­spiel für die men­schen­rechts­ver­ach­ten­de Koope­ra­ti­on von Demo­kra­tie und Dik­ta­tur an die so häu­fi­ge oppor­tu­ni­sti­sche Ver­lo­gen­heit der Demo­kra­tie erin­nert. »Sor­gen Sie dafür, dass die Frei­heit in ihrem Lan­de, gleich­gül­tig von woher sie bedroht wird, erhal­ten bleibt«, sag­te der CSU-Vor­sit­zen­de Franz Josef Strauß 1977 bei sei­nem Chi­le-Besuch zu Pinochet.