In der Schau im Deutschen Historischen Museum vom 8. April bis 11. September 2022 wird Richard Wagner zur »welthistorischen Figur« erhoben, mithin als »eine der wichtigsten Gestalten der modernen Welt« gewürdigt (Kurator M. Steinberg). Diese Nobilitierung erstaunt einerseits deswegen, weil es an Wagner immer wieder dies und das zu kritisieren gibt, vor allem zwei Probleme, seine Judenablehnung und die Erfindung des deutschen Gefühls. In den beiden Züricher Aufsätzen »Das Judentum in der Musik« von 1850 und 1869 charakterisiert der Komponist die hebräische Synodalmusik in hässlichster Weise, außerdem bemängelt er – ebenfalls unfein – den »kosmopolitischen Musikstyl« von Giacomo Meyerbeer, der, eine Generation älter als Wagner, mit seiner Grand Opéra in Paris Welterfolge errang, um die ihn der dort erfolglose Wagner beneidete. Ursachen und Wirkungen Wagnerscher Angriffe auf die jüdische Musikszene werden in der Exposition nicht analysiert. Hingegen spielt die Herausbringung des deutschen Gefühls in der Musik eine zentrale Rolle. Andererseits ist es beruhigend, den Dichter, Dramatiker, Librettisten, Komponisten und Erfinder des Musikdramas als Gesamtkunstwerk unwiderruflich in den Rang eines Genies gehoben zu sehen. Jedenfalls kann der vielseitige Wagner nicht mehr nur Thema der Einzelwissenschaften Musik- und Theatergeschichte bleiben, sondern wird damit viel umfassender zum Thema der Allgemeinen Geschichte. Diese Blick-Erweiterung auf Wagner drängte den Veranstaltern die Frage auf, wie sich nun diesem Genie nähern? Die erste Setzung hat Raphael Gross, Ideenfinder und Veranstalter, vorgenommen. Wie Karl Marx – in der Parallel-Ausstellung im DHM – wird auch Wagner historisch-kritisch aus den Bedingungen seiner eigenen Zeit erklärt.
Die kuratierten Zugänge richten sich intensiv auf ein bisher weniger interpretiertes Gebiet des Wagnerschen Oeuvres: seine Gefühlswelt. Aus ihr werden nur vier – paarweise entgegengesetzte – Befindlichkeiten erörtert, Wagners eigenen Worten zufolge: Entfremdung und Eros sowie Zugehörigkeit und Ekel. Entfremdung führte Wagner zur Revolution in der Kunst. Der Kapellmeister in Dresden, im Dienst des Sächsischen Königs, mit einem in Europa einzigartigen Gehalt, kann den Provinzgeist nicht mehr ertragen, das Opernprogramm nicht modernisieren. Für ihn bedeutet Revolution, wörtlich revolvere, alles wieder zurück-zu-wälzen in den ursprünglichen Zustand, in die Vergangenheit, um daraus Erneuerung zu ziehen.
In historische Stoffe wie das Nibelungenlied, Tristan von Gottfried von Straßburg und Parzival von Wolfram von Eschenbach legt er sein Gefühlsrepertoire hinein. Im Ring des Nibelungen, Tristan und Isolde, Parsifal und Tannhäuser treten sie anverwandelt und mit dem deutschen Gefühl ausgestattet wieder hervor. So konnte alles gesagt und gespielt werden, was in der Gegenwartssprache vollkommen unmöglich gewesen wäre.
- Entfremdung: Nach 1830 überfällt auch in den deutschen Ländern Künstler eine neue Befindlichkeit. Sie erleben ihre Entfremdung zur Gesellschaft besonders quälend durch Verluste von Kirche und Hof als Auftraggeber, ungesicherte Existenz, geringe Möglichkeit kontinuierlich künstlerisch zu produzieren, Zwang zum Exil, Kredite, Bankrott, Bettelei. Entfremdung bei Wagner wird hier zu sehr aus dessen Biografie entwickelt. Ist es nicht so, dass der Komponist – versteckt – eine entwaffnende Selbstanalyse seines Künstlerstandes gibt, wenn sich Siegfried in der »Götterdämmerung« am Hof König Gunther so vorstellt:
Nicht Land noch Leute biet’ ich,
noch Vaters Haus und Hof:
einzig erbt’ ich
den eigenen Leib;
lebend zehr’ ich den auf.
Hat sich Wagner gegenüber seinem Mäzen König Ludwig II. von Bayern nicht genauso gefühlt?
- Eros: Wiewohl Wagner das Wort Eros nur vier Mal verwendet, ist es klar, dass sein Opernschaffen das Spektrum der Liebe nach allen Seiten ausschreitet. Kühne Gefühle, einzigartige Turbulenzen der Liebesbeziehungen, Eifersuchtsszenen zwischen Wotan und Freia, Ehebrüche, Inzest von Siegmund und Sieglinde, Hass, Intrigen, Mord und Totschlag, Sünde und Buße, noch einmal verborgen in Wagners Erfindung eines quasi mittelhochdeutschen Sprachstils. Beweise, wie sehr Wagner bezüglich der Liebe von sich selbst spricht, zeigen die ausgewählten Exponate. Hierzu legt Melanie Unseld einen wunderbaren Katalogtext vor.
- Ekel: Das Kapitel ist kurz genommen und wohl auch schwierig darzustellen. Es bezieht sich auf Ausdrucksweisen, die Wagner in seiner Schrift »Das Judentum in der Musik« verwendet. Ein Nachweis, dass antisemitische Merkmale in Wagners Musik festzustellen sind, wird dadurch aber nicht erbracht. Die Argumentation bezieht sich des Weiteren auf einige Erkenntnisse aus der medizinischen Naturwissenschaft, die das Thema Ekel berühren, wobei der Zusammenhang mit Wagner völlig unklar bleibt. Auch wird ein Backenzahn von Wagner, der 4. Milchzahn, mit Karies im Ekelzusammenhang gezeigt. Ein überflüssiges Exponat.
- Zugehörigkeit: Von 1839 bis 1842 lebte Wagner in Paris, zwar elend, doch lernte er die Höhen der Grand Opéra kennen. Auber und Meyerbeer hatten beide das italienische Belcanto und den éclat trionphale miteinander vereint, süßeste Melodik und spannende Historie nach Art von Walter Scott. Der Enthusiasmus legte sich bei Wagner bald, u. a. weil diese Opernform in den deutschen Kleinstaaten nicht zu reproduzieren war. In den deutschen Ländern blieb das Publikum am Belcanto hängen. Für die Große Oper suchte Wagner eine neue Zugehörigkeit, eine Oper für deutsche Verhältnisse, für deutsche Befindlichkeiten und für das deutsche Gefühl. Er war davon überzeugt, dass aus dem provinziellen höfischen Geist in Musik und Kunst noch nie ein großes, umfassendes Gefühl für alle Deutschen erwachsen sei. Zugleich lehnt er die kosmopolitische Oper ab. Er will das Musikdrama, als ein deutsches »Kunstwerk der Zukunft« für Deutsche schaffen. In Libretti, Musik und Theatralik hob Wagner immer wieder ab auf eine einzigartige Befindlichkeit: das deutsche Gefühl. Nachdrücklich bezeichnet er sich als dessen Hervorbringer.
Dieser Gedanke überzeugt, wenn man die Aussichtslosigkeit eines vereinten Deutschlands von 1848 bis 1871 sieht. Insofern fungiert die deutsche Seele als Einigungs- und Erlebnisband, wie es auch in der Literatur der Zeit entsteht. Hier wird klar, dass Wagners Modell eben nur aus der Entstehungszeit heraus verständlich ist und nicht aus Rezeptionsrückblicken des 20. Jahrhunderts.