Auch in einhundert Jahren wird die dann in politischer Verantwortung stehende Generation an diesem Datum nicht vorbeigehen können. An diesem Tag endete das schlimmste Verbrechen, das von Deutschen jemals dem eigenen Volk und anderen Völkern angetan worden ist: 50 Millionen Tote und gewaltige Verwüstungen der Lebensbedingungen von Menschen waren das Ergebnis des vom Hitlerfaschismus verursachten 2. Weltkrieges.
Dieser 8. Mai 1945 hat in Europa – wie auch in Asien nach dem Sieg über den fanatischen japanischen Militarismus – trotz aller von seinen befreiten Völkern ertragenen Tragödien mehrheitlich Optimismus ausgestrahlt. Kriege schienen vermeidbar, weil die zwei damals machtgierigsten Eroberer besiegt waren. Worauf gründete sich der Optimismus?
Nach dem Überfall der Naziwehrmacht auf die Sowjetunion 1941 hatten mit der UdSSR wenig brüderlich verbundene Staaten nach anfänglichem Zögern doch zu einer Antihitlerkoalition zusammengefunden. Der Aggressor wurde schließlich von der Sowjetarmee in seine Hochburg zurückgetrieben und zur Kapitulation gezwungen. Der Sieg der Alliierten lehrte, wenn die Völker unabhängig von ihrer sozialpolitischen Ordnung ihre Kräfte bündeln, können Kriege aus Macht- und Profitgier verhindert werden. Der Gründung der Organisation der Vereinten Nationen – UNO – ging die Antihitlerkoalition voraus. Die UNO ist die ins Völkerrecht gehobene Politik der friedlichen Koexistenz – sie sollte es sein!
Von den mit dem 8. Mai 1945 verknüpften Hoffnungen der Völker auf Frieden ist nicht viel geblieben. Im Gegenteil: Heute sind es die imperialistische Großmacht USA und ihre Verbündeten in der Nato, der größten Militärmacht der Weltgeschichte – Deutschland führend mittendrin –, die gemeinschaftlich oder mit verteilten Rollen all jene Staaten mit Krieg überziehen, die eigene sozialpolitische Entwicklungen anstreben und US-amerikanische Vormundschaft ablehnen. Die Mehrzahl dieser ab 2000/2001 überfallenen Staaten in Afrika, Arabien, Asien und Lateinamerika haben noch abschreckende Erinnerungen an ihre im antiimperialistischen Aufwind von 1945 gestürzten Kolonialherren durch erstarkte nationale Befreiungsbewegungen. Von ihnen ist kaum noch die Rede – ein Mangel in der Geschichtsgerechtigkeit gegenüber antiimperialistischen Bewegungen.
Warum aber schlugen die guten Vorsätze beim relativ ausgeglichenen Kräfteverhältnis zwischen den Siegermächten in einen Kalten Krieg um? Danach werden auch spätere Generationen fragen. Zum Beispiel: Warum werden gesellschaftspolitische Alternativen zum deutschen Imperialismus von Historikern und Politikwissenschaftlern nach 1990 kaum noch diskutiert. Wurde nach dem 8. Mai 1945 in Deutschland etwas verpasst oder verspielt?
Das Potsdamer Abkommen der Siegermächte – es war Völkerrecht im Kontext der UN-Charta – hatte bestimmt, das einheitliche ungeteilte Nachkriegsdeutschland sollte von antifaschistischen Kräften regiert werden. Das hatten die Signatarmächte des Abkommens in einer begrenzten Zeit der Besetzung Deutschlands politisch-organisatorisch zu regeln. Wo aber sollten sie in einem Volk, das massenhaft von Antisowjetismus, Antikommunismus, Antisemitismus und germanisch-deutschem Größenwahn verbildet war, wo und wie sollten die politischen Funktionäre der Militärregierungen in den Besatzungszonen antifaschistische Kräfte finden? Und wenn man welche gefunden hatte, waren sie bereit, auf Befehle der Sieger zu handeln?
In der nazideutschen Ideologie galten Russen als Untermenschen, und Afrikaner gehörten nicht zu den zivilisierten Völkern, sondern in die Kategorie Dienstpersonal für Weiße. Die Rassenlügen der Nazis steckten 1945 mehrheitlich noch in deutschen Köpfen. Ich bin in Nazideutschland in einem Realgymnasium zur Schule gegangen, ich weiß, wie Jugendliche antikommunistisch und rassistisch indoktriniert worden sind. Wo also waren antifaschistische Frauen und Männer, denen die Sieger vertrauen konnten? Die Organisationen der Arbeiterbewegung waren zerschlagen worden, der größte Teil der bürgerlichen Schichten stand vor dem Scherbenhaufen seiner Gläubigkeit an den »Führer«. Viele von ihnen hielten sich aus Scham zurück, andere mit Schuldgefühlen verkrochen sich.
Überall in Deutschland fanden zuerst überlebende Kommunisten, Sozialdemokraten und Gewerkschafter zu neuen Organisationsformen. Hier prallten oft noch die alten Parteivorurteile von vor 1933 aufeinander. Sehr bald dominierte der breite Volkswille: Nie wieder Faschismus, Militarismus und Krieg. Von den emigrierten Vorständen der KPD, SPD und der Gewerkschaften kehrten die KPD-Führer Wilhelm Pieck und Walter Ulbricht zuerst nach Berlin zurück. Von der SPD ergriffen die ehemaligen Reichstagsabgeordneten Otto Grotewohl in Berlin und Dr. Kurt Schumacher in Hannover politische Initiativen zum Wiederaufbau der SPD. Der Exilvorstand der SPD erhielt zunächst keine Ausreise aus London. Die sowjetische Militäradministration erlaubte für ihre Zone bereits am 11. Juni 1945 die Gründung politischer Parteien. Die Arbeiterbewegung hatte eine reale politische Basis, um auf eine demokratische Entwicklung Nachkriegsdeutschlands direkten Einfluss zu nehmen. Die Herrschaft der Arbeiterklasse war eine reale und legale Alternative zur bisherigen Macht der bürgerlichen Klasse, die den Zweiten Weltkrieg mitzuverantworten hatte. Eine solche Entwicklung entsprach auch den Interessen der Sowjetunion.
In ganz Deutschland forderten Arbeiter und breite Volksschichten die Beendigung des Bruderkampfes von Kommunisten und Sozialdemokraten. Darin sahen sie eine Ursache für Hitlers Aufstieg zur Macht. Wie viele innere Widersprüche bei Mitgliedern beider Parteien zu überwinden waren, ist beispielhaft am Denken und Handeln von Otto Grotewohl zwischen Juni 1945 und Februar 1946 nachvollziehbar. Im letzten Treffen zwischen Grotewohl und Schumacher in Wennigsen bei Hannover lehnte Schumacher eine gesamtdeutsche SPD-Konferenz ab. Grotewohl entschied sich nun für eine Einheitspartei aus KPD und SPD in der sowjetischen Zone, um die dortigen Chancen für eine Arbeiterpartei nicht zu verschenken. Dafür wurde er zum Verräter gestempelt. Genau an einer solchen Alternative schieden sich die Geister der Siegermächte.
Die Gründung der SED in der sowjetischen Zone im April 1946 scheuchte imperialistische Ideologen auf. In den kapitalistischen Staaten des Westens hatten die unerwarteten Leistungen der Roten Armee bei der Vernichtung der Naziwehrmacht das Ansehen der Sowjetunion stark erhöht. Eine Einheitspartei aus Kommunisten und Sozialdemokraten sowie die einsetzende Bewunderung der Sowjetarmee wurden zu Gefahren westlicher Freiheit erklärt. Nicht mehr Ausrottung des Faschismus mit Stumpf und Stiel, sondern die Systemauseinandersetzung hatte Priorität. Alle altbekannten Vorurteile gegen die UdSSR und die Kommunisten anderswo – »Lakaien Moskaus« – blühten auf. Dem ideologischen Klassenkampf folgte die Gründung der Nato, vermeintlich zur Abwehr sowjetischer Übergriffe auf Westeuropa. Die Nato war die militärische Untermalung der antisowjetischen und antikommunistischen politischen Staatsdoktrin. Beides zusammen delegitimierte jede volksdemokratische oder sozialistische Alternative zum Kapitalismus – und das seit 1945.
Auf diesen Gegensatz gründete der Aufstieg der bürgerlich-kapitalistischen Führungskräfte aus der zweiten und dritten Reihe des geschlagenen faschistischen Systems – mit oder trotz ihrer bisherigen Denkungsart.
Angesichts von Not und Elend in der heutigen Welt durch Kriege, Hochrüstung und Zerstörung von Existenzbedingungen für Menschen, des Missbrauches von Ressourcen der Natur und der Missachtung von Klimaveränderungen sowie der immer rücksichtsloseren Ausbeutung von Millionen Menschen durch eine Handvoll Milliardäre – angesichts dieser Tatsachen ist 76 Jahre nach dem 8. Mai 1945 eine sachgerechte deutsche Nachkriegsgeschichte notwendig. In ihr darf das Nebeneinander beider deutscher Staaten nicht als illegitimer Bruderkrieg diffamiert werden – und das auch noch im Nachhinein –, den Kommunisten zu verantworten hätten, sondern als zwei alternative, aber legale Wege. Beide deutsche Staaten handelten 1945 in der politischen Logik der bisherigen gesamtdeutschen Klassengeschichte. Die Einhaltung der Verpflichtungen der Besatzungsmächte aus dem Potsdamer Abkommen lassen sich heute leichter bewerten. Der Wiederaufbau des Landes wurde in der DDR und in der BRD auf unterschiedliche Weise angepackt – mit anderen politisch-ökonomischen Ergebnissen. Mit »richtig« und »falsch«, hier die Guten, dort die Bösen, ist nichts zu beantworten. Politisch-ideologische Kampfbegriffe und überholte Feindbilder gehören in den Papierkorb des Kalten Krieges. Respekt vor den Lebensleistungen der Menschen in Ost und West: Damit beginnt Geschichtsgerechtigkeit. Mit der Antwort auf die Fragen, wo kommen wir her, was ist aus den zwei legitimen Wegen in Deutschland-Ost und Deutschland-West nach 1945 geworden, was ist erhaltenswert, was ist zu überwinden, und wo wollen wir eigentlich hin.