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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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4074 Tage – Tatorte der NSU-Morde

Im Bil­dungs­zen­trum der IG Metall in Sprock­hö­vel wur­de Ende Janu­ar die Aus­stel­lung »4074 Tage – Tat­or­te der NSU-Mor­de« eröff­net. Im Begleit­heft zur Aus­stel­lung heißt es unter ande­rem: »Mit ihrer Aus­stel­lung macht die Foto­gra­fin Gabrie­le Reck­hard die zehn Tat­or­te sicht­bar, an denen rechts­ra­di­ka­le Täter des soge­nann­ten Natio­nal­so­zia­li­sti­schen Unter­grunds (NSU) zehn Men­schen ermor­de­ten. Neun der Opfer waren Män­ner mit migran­ti­scher Wur­zel, das zehn­te Opfer war eine Poli­zi­stin. Sie alle wur­den an ihren Arbeits­plät­zen hingerichtet.

Seit dem ersten Mord im Sep­tem­ber 2000 bis zur Auf­deckung des NSU im Novem­ber 2011 muss­te die Fami­lie Şimşek 4074 qual­vol­le Tage nicht nur mit dem gewalt­sa­men Tod ihres Ange­hö­ri­gen leben – sie war zudem Ver­un­glimp­fun­gen und Kri­mi­na­li­sie­rung durch Ermitt­lungs­be­hör­den und Medi­en aus­ge­setzt.« Die Toch­ter Semi­ya Şimşek sag­te bei der zen­tra­len Trau­er­fei­er im Jahr 2012: »Elf Jah­re lang durf­ten wir nicht ein­mal rei­nen Gewis­sens Opfer sein. Elf Jah­re hat­te ich als Kind eines Dro­gen­dea­lers gegol­ten«. Bei der Eröff­nung der Aus­stel­lung am 28. Janu­ar schil­dert die Foto­gra­fin ihre Moti­ve: »Für mich und vie­le ande­re brach­te die­ser Tag Scham und eini­ge schockie­ren­de Erkennt­nis­se: Es war unse­rem Staat nicht nur nicht gelun­gen, sei­ne Bür­ger zu schüt­zen, die Ermitt­lungs­be­hör­den hat­ten zudem über elf Jah­re lang nur in eine ein­zi­ge Rich­tung gesucht: in die Fami­li­en und deren angeb­lich – so die feste Über­zeu­gung der Ermitt­ler – kri­mi­nel­les Umfeld. Zeu­gen­aus­sa­gen, Hin­wei­se der Ange­hö­ri­gen und auch aus der tür­ki­schen Com­mu­ni­ty auf ein rechts­extre­mes Täter-Milieu waren bei allen Mord­ta­ten und auch bei den Spreng­stoff­at­ten­ta­ten abge­tan und gänz­lich unbe­ach­tet geblie­ben.« Die Erfah­rung der Ver­un­glimp­fun­gen und Kri­mi­na­li­sie­rung durch Ermitt­lungs­be­hör­den und Medi­en muss­ten alle Ange­hö­ri­gen der neun Opfer erlei­den, die aus ras­si­sti­schen Grün­den umge­bracht wor­den waren. Der von der Poli­zei erfun­de­ne Begriff der Döner­mor­de wur­de zum »Unwort der Jah­res 2011« erklärt. Trau­ri­ge Aktua­li­tät hat die Ver­strickung der Poli­zei in rech­te Netz­wer­ke durch zwei Mord­dro­hun­gen gegen die Anwäl­tin und Neben­kla­ge­ver­tre­te­rin Seda Basay-Yil­diz; unter­schrie­ben sind die Dro­hun­gen mit »NSU 2.0«.

Mit ihrer Kame­ra hat die Foto­gra­fin genau hin­ge­se­hen auf das, was für die Fami­li­en die ein­zi­ge Gewiss­heit war: die Orte, an denen ihre Ange­hö­ri­gen ermor­det wur­den – am hell­lich­ten Tag und immer mit genau der­sel­ben Waf­fe. Gabrie­le Reck­hard hat – neben dem künst­le­ri­schen und foto­äs­the­ti­schen Anspruch – das inhalt­lich anspruchs­vol­le The­ma so umge­setzt, dass die Bil­der nüch­tern, aber auch emo­tio­nal gele­sen wer­den kön­nen. Die ver­meint­lich objek­ti­ven Bil­der sind sehr hell belich­tet, blass und farb-ent­sät­tigt und so ver­frem­det. Über den Fotos scheint ein Grau-Schlei­er zu lie­gen, und sie wir­ken zunächst ver­schwom­men – ein Hin­weis auf Ver­ges­sen und Ver­ber­gen? Details sind aus der Ent­fer­nung daher schwer erkenn­bar: Der Betrach­ter ist auf­ge­for­dert, nahe an die Tafeln her­an­zu­tre­ten und genau hin­zu­schau­en, um ein­zel­ne Bild­ele­men­te erken­nen zu kön­nen und viel­leicht noch Zeug­nis­se der Ver­bre­chen zu fin­den. Die Foto­gra­fien erzeu­gen beim Betrach­ten ein Unbe­ha­gen – etwas scheint hier fremd und unwirk­lich: Schat­ten­lo­se und glei­ßend hel­le Orte, men­schen­leer, starr und ver­schlos­sen, der Him­mel grau und ver­han­gen, ohne Wol­ken­bil­dung – alles scheint trist und tot. Und doch ist auch erkenn­bar, dass alle Tat­or­te (meist Laden­ge­schäf­te) in einem urba­nen Umfeld lie­gen, für uns alle sicht­bar, in Wohn­ge­bie­ten oder an viel befah­re­nen Straßen.

Die gewähl­te Form des Tri­pty­chons (also eine drei­tei­li­ge Ansicht) mag dar­auf ver­wei­sen, dass das The­ma NSU-Kom­plex ein viel­schich­ti­ges ist und aus vie­len Puz­zle­tei­len zusam­men­ge­setzt wer­den muss. Zeigt das lin­ke, grö­ße­re Bild jeweils eine fron­ta­le Sicht auf die Tat­or­te, ver­deut­licht das zwei­te Foto die Sicht­wei­se eines Men­schen, der wie acht­los vor­bei­geht, den Ort des Ver­bre­chens nur aus dem Augen­win­kel wahr­neh­mend, den Blick bereits in die Fer­ne gerich­tet. Und doch führt die­se Per­spek­ti­ve optisch immer auf den Text­teil in der Mit­te zurück, der dadurch auch visu­ell im Fokus steht. Ihm soll man sich nicht ent­zie­hen können!

In die Bil­der inte­griert sind kur­ze Begleit­tex­te: die Namen und das Alter der Ermor­de­ten, Ort und Datum des Mor­des und die ergrei­fen­de per­sön­li­che Bemer­kung einer Ange­hö­ri­gen, mit der die Trau­er über den Ver­lust, die Empö­rung über die Ver­un­glimp­fung, Igno­ranz und Ver­däch­ti­gun­gen durch Ermitt­lungs­be­hör­den und das Leid über zer­bro­che­nes Ver­trau­en zum Aus­druck kommen.

Die Künst­le­rin mahn­te in ihrer Eröff­nungs­an­spra­che: »Auch nach dem Ende des fünf Jah­re dau­ern­den Straf­pro­zes­ses dür­fen wir nicht zulas­sen, dass ein Schluss­strich gezo­gen wird. Noch immer sind zu vie­le zen­tra­le Fra­gen offen, deren Klä­rung ins­be­son­de­re für die Fami­li­en wich­tig ist. Fra­gen, die aber auch uns alle inter­es­sie­ren müs­sen, unse­re Gesell­schaft, die auf den Grund­sät­zen von Frei­heit, Gleich­heit, Tole­ranz und Mensch­lich­keit auf­ge­baut ist. Üben wir also Solidarität!«

Die Wit­we Yvonne Boul­ga­ri­des for­der­te in ihrem Schluss­wort vor dem Ober­lan­des­ge­richt in Mün­chen: »Wir alle soll­ten auch nach die­sem Pro­zess nicht auf­hö­ren, nach Ant­wor­ten zu suchen. Viel­leicht wer­den wir nie alles erfah­ren, aber wir wer­den die unzäh­li­gen Puz­zle­tei­le sam­meln und zusam­men­fü­gen, bis das Bild der Wahr­heit vor unse­ren Augen zu erken­nen ist.«

Auf dem Deck­blatt zur Aus­stel­lungs­bro­schü­re sind zer­schnit­te­ne und wie­der zusam­men­ge­setz­te Fotos von Ermor­de­ten zu sehen als Sym­bol für die im Reiß­wolf gelan­de­ten Akten von Poli­zei und Ver­fas­sungs­schutz – die unauf­ge­klär­ten Fra­gen nach staat­li­cher Ver­strickung! Über­schrie­ben ist die Aus­stel­lung, die bis zum 23. Mai im Bil­dungs­zen­trum der IG Metall in Sprock­hö­vel zu sehen ist, mit dem pro­gram­ma­ti­schen Satz: »Unse­re Alter­na­ti­ve heißt Soli­da­ri­tät!« Die Ver­an­stal­ter schrei­ben dazu: »Was bleibt, ist unse­re Ver­ant­wor­tung, genau­er hin­zu­se­hen, um die poli­ti­schen Hin­ter­grün­de der Mor­de auf­zu­klä­ren und die Ursa­chen für Ras­sis­mus und Rechts­extre­mis­mus, Natio­na­lis­men und Hass in unse­rer Gesell­schaft zu bekämp­fen. Hier­zu wer­den und wol­len wir auch als Metaller*innen und gewerk­schaft­li­che Bil­dungs­ar­beit aktiv blei­ben« Die Aus­stel­lung, die auf Anfra­ge (https://www.igmetall-sprockhoevel.de) auf Wan­der­schaft gehen kann, bie­tet und for­dert den genau­en Blick.

Die Foto­gra­fin Gabrie­le Reck­hard ist seit 1992 selbst im IG Metall-Bil­dungs­zen­trum als Biblio­the­ka­rin beschäf­tigt. Von 2012 bis 2016 stu­dier­te sie berufs­be­glei­tend Foto­de­sign in Bochum; an ihrer Diplom­ar­beit zum The­ma »NSU-Mor­de« arbei­te­te sie von 2016 bis 2018. Für die­se Arbeit und für die Initia­ti­ve zu der Foto­aus­stel­lung ist der Lei­te­rin der Biblio­thek im Bil­dungs­zen­trum Sprock­hö­vel sehr zu dan­ken – am besten mit einem Besuch der Ausstellung.