Mit der Festnahme der angeblichen Ex-Terroristin Daniela Klette nimmt eine lange Fortsetzungsgeschichte ihren Faden wieder auf. Nach den als ihre RAF-Komplizen bezeichneten Ernst Volker Staub und Burkhard Garweg wird weiter gefahndet. 25 Jahre nach dem letzten Bekennerschreiben – die RAF bekannte sich zu ihrer Selbstauflösung – gab es Neues: Der Fahndungserfolg gelang per Künstlicher Intelligenz. Und Altes: Isolationshaft, Zelle ohne Tageslicht, ständige Beobachtung des Häftlings, keinerlei Unschuldsvermutung.
Zuletzt erfolgte eine sogenannte RAF-Festnahme im Juni 1993 in Bad Kleinen. Birgitt Hogefeld wurde verhaftet, ihr Partner Wolfgang Grams überlebte auf dem Kleinstadtbahnhof nicht. Er habe Selbstmord begangen, behauptete der nicht gerade zuständige Bundeskanzler Helmut Kohl, während es Zeugen gab, die sahen, wie Grams mit einem Schuss in den Hinterkopf getötet wurde, was er kaum selbst bewerkstelligen konnte.
Nun also eine unblutige RAF-Verhaftung. Aber wie immer in dieser endlosen Geschichte bleiben unzählige Fragezeichen. Die Ruhrnachrichten berichteten am 18. März 2024: »Das Versagen der Ermittler rückt wieder in den Vordergrund; viele Taten der ›Rote Armee Fraktion‹ sind bis heute nicht aufgeklärt.« Viele? Bis auf eine sind alle unaufgeklärt! Im Laufe ihrer fast drei Jahrzehnte währenden Existenz habe die RAF 34 Menschen umgebracht. Nur ein Fall, der Mord an dem Bankier Jürgen Ponto im Jahr 1977, wurde aufgeklärt. Ansonsten halfen sich die Gerichte mit der Behauptung aus, es läge Mittäterschaft vor, weil die Angeklagten »dabei« gewesen seien. Die unterstellte Mitgliedschaft wurde als Tatbeteiligung ausgegeben. So etwas gab es nur gegen vermeintlich linke Täter. Die beweisbar zum Mordkollektiv von Auschwitz gehörenden Täter wurden im Auschwitzprozess bekanntlich nur dann verurteilt, wenn es Augenzeugen für konkrete Verbrechen gab. Die bloße Anwesenheit an der Rampe reichte nicht.
Ein Mittäter an der Ermordung des Deutsche-Bank-Chefs Herrhausen hat sich 1989 sowohl vor als auch nach dem Mord beim hessischen Verfassungsschutz gemeldet und über die Untat informiert, die später als RAF-Tat ausgegeben wurde. Der Mann war ein früherer V-Mann der bundesdeutschen Geheimdienste. Hatten diese Geheimdienste ihre Finger bei den RAF-Morden im Spiel? Wurden deshalb die Aussagen bestimmter Zeugen unbearbeitet liegengelassen? Die Fahndungspannen des Verfassungsschutzes und der Bundesanwaltschaft nach dem Herrhausen-Mord haben seinerzeit Fragen nach der Vorgeschichte der Serie von Terroranschlägen ausgelöst.
Es begann einst mit der Baader-Meinhof-Gruppe, die sich selbst Rote Armee Fraktion nannte und mit terroristischen Methoden als »Sozialrevolutionäre« den Kampf gegen die kapitalistische Gesellschaftsordnung der BRD voranzutreiben suchte. Ihre führenden Mitglieder wurden 1972 verhaftet. Ulrike Meinhof wurde 1976 erhängt in der Zelle gefunden. Andreas Baader und Gudrun Ensslin sowie Jan-Carl Raspe wurden 1977 zu lebenslanger Freiheitsstrafe verurteilt und kamen per »Selbstmord« auf nie ganz geklärte Weise ums Leben.
Mehrere Nachfolge- und Parallelgruppen, die sich z. T. ebenfalls als RAF bezeichneten, verübten weitere terroristische Anschläge und erklärten sie mit antiimperialistischen Texten. Die Linke in der BRD hat die RAF-Aktionen stets als individuellen Terror abgelehnt, der in seinen Wirkungen nur den Rechten diente.
Am 11. Mai 1981 wird der 61-jährige hessische Wirtschaftsminister und Parteischatzmeister Heinz-Herbert Karry (FDP) in seinem Haus in Frankfurt am Main von bislang unbekannten Tätern erschossen. Karry wusste gut über die Spenden der Großindustrie für die CDU und FDP Bescheid. Sein Name wird dann im Prozess gegen den späteren FDP-Vorsitzenden Graf Lambsdorff genannt, der wegen der Schmiergeldaffäre um die Zuwendungen des Flick-Konzerns rechtskräftig verurteilt wurde. Ex-Verfassungsschutzchef Gerhard Boeden lokalisierte Anfang der 90er Jahre die unbekannten Mörder als Leute von den »Revolutionären Zellen«, die keine Morde verübten; die Tötung Karrys »war offenbar nicht beabsichtigt«.
Mit der Tötung Karrys begann eine Serie von Morden, nach denen zumeist sogenannte »RAF-Bekennerschreiben« auftauchten. Weitere Stationen in der Chronik von Terror, Gewalt und V-Mann-Aktionen (unvollständig):
- Der Rüstungsmanager und Chef der Motoren- und Turbinen-Union (MTU), Ernst Zimmermann, wird am 1. Februar 1985 in Gauting bei München erschossen. Wenig später wird bekannt, dass der Bundesnachrichtendienst 1980 für die Auffindung der RAF finanzielle Unterstützung aus der Privatwirtschaft erhalten hat.
- Drei US-Soldaten werden am 8. August 1985 bei einem Anschlag mit einer Autobombe auf einer US-Luftwaffenbasis auf dem Frankfurter Flughafen getötet. Sowohl RAF als auch die französische Action Directe bekennen sich dazu, diese »Drehscheibe für Kriege in der Dritten Welt« abgegriffen zu haben.
- Am 9. Juli 1986 wird das mit Rüstungsprogrammen betraute Vorstandsmitglied von Siemens, Karl Heinz Beckurts, zusammen mit seinem Chauffeur umgebracht. Siemens war in scharfe Rivalität zu US-amerikanischen Konzernen geraten, weil die Deutschen beim SDI-Rüstungsprogramm zu kurz kamen. Verantwortlich für den Doppelmord wird ein nach einem italienischen Rote-Brigaden-Mitglied benanntes RAF-Kommando gemacht.
- November 1987: Bei einer Demonstration gegen den auch durch die US-Army militärisch nutzbaren Ausbau des Frankfurter Flughafens (Startbahn West) werden zwei Polizisten erschossen.
- Ein Anschlag auf den Staatssekretär im Bundesfinanzministerium, Hans Tietmeyer (CDU), schlägt am 20. September 1988 fehl. Er hatte kurz zuvor die Tagung des Weltwährungsfonds in Berlin/West organisiert.
- In scharfem Widerspruch zu den Banken in den USA und in Japan forderte 1987/88 der Vorstandsvorsitzende der Deutschen Bank, Alfred Herrhausen, den hochverschuldeten Entwicklungsländern einen Teil ihrer Schulden zu erlassen. Der 1989 ermordete Herrhausen schmiedete aus Daimler Benz und MBB einen der größten Rüstungskonzerne.
- Am 27. Juli 1990 schlägt ein Anschlag auf den für innere Sicherheit zuständigen Staatssekretär Hans Neusel (CDU) fehl.
- Bei einem Feuerüberfall auf die US-amerikanische Botschaft in Bonn entsteht am 13. Februar 1991 Sachschaden. Am 1. April 1991 wird der Präsident der Treuhandanstalt zur Verwaltung des DDR-Volkseigentums, Detlev Karsten Rohwedder, in Düsseldorf ermordet. Es ist die letzte der RAF zugeschriebenen Tötungen.
Auf Beschluss der Innenministerkonferenz von Bund und Ländern wird im Mai 1991 eine Koordinierungsgruppe aus Mitgliedern des Bundeskriminalamtes, des Bundesamtes für Verfassungsschutz und der Bundesanwaltschaft gebildet. Offensichtlich befasst sich diese Gruppe mehr mit der Beeinflussung der Medien als mit der Fahndung nach den Tätern. Die Koordinierungsgruppe verbreitet die Erkenntnis, dass ein harter Kern der RAF moderne nachrichtendienstliche Mittel wie Computer und codierte Nachrichten verwendet und keine Spuren hinterlasse. Ein Mythos von einer neuen Generation RAF-Terroristen wird begründet.
Im Verlauf der Terror-Ermittlungen der letzten achtziger Jahre wurden immer wieder Skandale um den Einsatz von V-Leuten in der terroristischen Szene bekannt. Sie ließen Zweifel aufkommen, ob der Terror wirklich immer von denjenigen ausging, denen die Taten zugeschrieben wurden.
Im Dezember 1986 wurde der V-Mann des bayerischen Verfassungsschutzes Manfred Scheffer wegen schwerer Brandstiftung zu rund drei Jahren Gefängnis verurteilt. Durch die Taten sollte der V-Mann in die linke Szene eindringen, so das Ansinnen der Verfassungsschützer. Schon im Sommer 1986 hatte das »Celler Loch« die Gemüter erregt. Es wurde bekannt, dass acht Jahre zuvor der niedersächsische Verfassungsschutz zwei Kriminelle als V-Leute in die Terrorszene einzuschleusen versuchte, indem sie den mutmaßlichen RAF-Mann Sigurd Debus aus der Haft befreien wollten, was misslang. Zu diesem Zweck wurde von Beamten des Innenministeriums ein Loch in das Celler Gefängnis gesprengt. Der einsitzende mutmaßliche Terrorist Ronald Augustin wurde im Zusammenhang damit für 40 Minuten aus seiner Zelle geholt, und in dieser Zeit schrieb ein »Unbekannter« einen Text auf Augustins Schreibmaschine. Im selben Jahr und ebenfalls in Niedersachsen ließ der Verfassungsschutz seinen V-Mann Lepzien innerhalb der neonazistischen Szene gewähren und einen Sprengstoffanschlag gegen links verüben. Der spätere Ossietzky-Begründer Eckart Spoo hat diese niedersächsischen Fälle gründlich recherchiert.
Das »Jahrzehnt der Scharfmacher« seit Beginn der achtziger Jahre (so der Titel eines Lamuv-Taschenbuches über den »Legalen Terror«) war auch immer voll von Diskussionen über die Behandlung von Aussteigern und Kronzeugen und über vorzeitige Entlassungen. Und wenn mal jemand ausstieg oder auspackte, dann war die Strafe kaum milder. Rechtsanwalt Heinrich Hannover sagte zu dieser Praxis des unbedingten »Lebenslänglich« schon 1987 in einem Interview, »dass man den Terrorismus aus politischen Gründen braucht, und entgegen dem, was man an schönen Worten auf der Zunge führt, eine Rückkehr in die Menschlichkeit (wie es ein Aussteiger genannt hatte) nicht wünscht«.
Niemand bestreitet, dass der Staat tatsächlich nach den »gemeinen Verbrechern«, den RAF-Leuten, suchte. Aber waren es wirklich RAF-Leute, die gesucht, aber nie gefunden wurden? Haben nicht ganz andere Leute Interesse an den Morden gehabt – von der Ausschaltung der Konkurrenz im Rüstungsgeschäft durch den Mord an Zimmermann und Beckurts bis zum Zurückdrängen der starken Deutschen in der Weltwirtschaft durch Anschläge auf Herrhausen, Rohwedder und Tietmeyer? Und war es nicht bezeichnend, wie nach dem Rohwedder-Mord sämtliche Montagsdemonstrationen der Gewerkschaften gegen die Treuhand vom Tisch waren – aus »Pietät«?
Nur die Linken, in deren Namen der Terror angeblich gemacht wurde, wie immer wieder diffamierend behauptet wird, sie hatten nie etwas davon, im Gegenteil. Der Experte und Buchautor Anton Kovacic kam seinerzeit zu dem Schluss: »Als Nebenprodukt werden dabei ganze Bevölkerungsschichten in den Datenverarbeitungsanlagen erfasst, überwacht und überprüft, gleichgültig, ob sie mit den ›gemeinen Verbrechern‹ etwas zu tun haben oder nicht.«
Es wurde gesucht und gesucht – nur es durfte nichts gefunden werden. In ihrer Not verbreiteten die Koordinierungsgruppe und das BKA am 16. Februar 1992 die Meldung, Mitarbeiter der Stasi (wer sonst in jener Zeit?!) hätten sich als tüchtige Scharfschützen am Mord an Rohwedder beteiligt. Erinnert wurde an die Unterbringung ehemaliger RAF-Leute durch die Stasi in der DDR. Doch diese gehörten einer nachweislich abgetretenen RAF-Generation an (siehe Neues Deutschland, 23./24. Juni 1990).
Einer hat weitergesucht und gesucht und auch gefunden. Das war Michael Buback, Sohn des RAF-Opfers – oder doch VS-Opfers? – Siegfried Buback, Generalbundesanwalt, der zusammen mit seinem Kraftfahrer und einem Justizwachtmeister am 7. April 1977 in Karlsruhe ums Leben kam. Buback junior hat jahrelang recherchiert und herausbekommen: Peter-Jürgen Boock, ein ehemaliges RAF-Mitglied habe mitgeteilt, die Verurteilten Christian Klar, Knut Folkerts und Brigitte Mohnhaupt seien samt und sonders nicht am Tatort gewesen. Stattdessen rückte Verena Becker ins Blickfeld. Der Spiegel konnte nachweisen, dass Becker geheime Informantin des Verfassungsschutzes gewesen ist. Sie wurde 2010 wegen Beihilfe zum Mord verurteilt und nicht wegen Mord, obwohl sie vom Rücksitz eines Motorrades geschossen hatte. Die V-Frau genoss offenbar Schutzzusagen der Behörden. (Die Buchveröffentlichungen von Michael Buback jr wurden in den Ruhrnachrichten vom 18. März 2024 zitiert.)
Da noch nach den angeblichen Partnern von Daniela Klette gefahndet wird, dürften wir bald mit einer Fortsetzung der unendlichen RAF-Geschichte rechnen. In Zeiten, da zu Recht vor dem rechten Terrorismus gewarnt wird, kann es für manche Leute sinnvoll sein, wieder den »linken Terror« zu beschwören.