Der Blick geht weit. Bis hinüber nach Polen. Wir stehen auf dem Krugberg bei Werbig. Hinter uns rauschen die Blätter im Friedenswald, durch den der frühe Herbstwind weht. Davor steht eine wuchtige Bank. Das Holz ist erkennbar frisch, blank wie die Messingtafel an der Rücklehne. »Erinnern Mahnen Widerstand«, lautet die erste Zeile. »Gestiftet zum Weltfriedenstag am 01.09.2020«.
Einige Kilometer von hier erhebt sich ein mehrere Meter großer Bronzesoldat, dessen linke Hand auf einem zerstörten Panzer ruht. Dort steht er seit 75 Jahren, weil es Shukow befahl. Der Befehl zur Errichtung des Ehrenmals erging im Mai 1945, zeitgleich mit jenem für das in Berlin-Tiergarten. Beide Anlagen wurden ein halbes Jahr später eingeweiht. Das Ehrenmal in Berlin mit einer Parade aller vier Alliierten.
Den Friedenswald bei Werbig hat der lokale Krugbergverein initiiert, protegiert wurde er von Ministerpräsident Manfred Stolpe und dem seinerzeitigen Bürgermeister Gernot Schmidt. Der ist inzwischen seit fast anderthalb Jahrzehnten Landrat von Märkisch-Oderland und ebenfalls erschienen. Er erklärt den Umstehenden, Einheimischen wie aus Berlin Angereisten, mit ausgreifenden Gesten die Lage und die Historie. Hier kennt er sich aus. Der gelernte Agrotechniker, nach dem Dienst in der NVA im Forst und in der Melioration tätig, stammt zwar aus Anklam, lebt aber die längste Zeit seines Lebens im Oderbruch. Schmidt geht auf die sechzig zu. Also dort lagen die sowjetischen Einheiten, hier die deutschen. Er spricht auch später, bei der Podiumsdiskussion im Seelower Kulturhaus, nur von Rotarmisten und Sowjetsoldaten und erwähnt die Abwehr ukrainischer Bestrebungen, die Gräber in Seelow nach ethnischen Kriterien zu trennen. Die Soldaten trugen die gleiche Uniform, sie kämpften zusammen gegen Nazideutschland, sie starben gemeinsam vor den Seelower Höhen und liegen nun hier zu Zehntausenden in deutscher Erde. Hier kämpfte halb Europa, sagt Schmidt.
Er steht mit beiden Beinen fest auf der Erde und in der Geschichte. Da lässt er sich, wie er erklärt, weder von der Tagespolitik noch von nationalen und irrationalen Verrenkungen in Berlin und Brüssel, Moskau oder Kiew beeinflussen. Er sagt: Das ist ein lokaler Gedenkort. Wir haben mit den Russen bis zu ihrem Abzug zusammengelebt, wir haben meist sympathische, warmherzige Menschen kennengelernt. Sie sind wie wir. Auf dieser Ebene fand in Jahrzehnten Aussöhnung und Versöhnung statt.
Deshalb gibt es auch den Friedenswald bei Werbig seit 1991, keinen Hektar groß, mit inzwischen fast vierhundert Bäumen. Er war der Auftakt für eine Kette von Friedenswäldern, die über Polen bis nach Russland reicht: Górzyca (1993), Brest (1994), Moskau (1995). In jedem Jahr wird zum 8. Mai ein neuer Baum gesetzt, in diesem Jahr eine Esskastanie. Gingko, Eschen, Birken et cetera stehen nebeneinander. Sie sind verschieden und bilden doch gemeinsam einen Wald. Um der vielen Menschen zu gedenken, die damals starben. Sinnlos, wie es heute gedankenlos heißt. Diese Vokabel macht den Anlass unkenntlich. Nazideutschland führte gegen die Sowjetunion einen geplanten Raub- und Vernichtungskrieg: Es ging um Raum und Ressourcen und um die Vernichtung der Slawen, vor allem der Bolschewisten. Die Ostvölker setzten sich gemeinsam zur Wehr. Der Vielvölkerstaat Sowjetunion schickte seine Armeen bis nach Berlin, um die Urheber des Völkermords militärisch zu schlagen. Das tat die Rote Armee nicht allein – sie war bekanntlich Teil einer Vielvölkerallianz, der Antihitlerkoalition. Aber sie trug die Hauptlast: an Menschen und Material, an Verlusten und Opfern. Das wird mit Vorsatz unterschlagen und verdrängt, wenn man etwa die kriegsentscheidenden Schlachten in die Normandie verlegt, als dort im Sommer 1944 die Zweite Front von den Westalliierten errichtet worden war.
In Werbig, vorm Krugberg, trug sich ein Teil der Berliner Operation der Roten Armee zu. Der Ort liegt abseits des Weges und erkennbar im Schatten von Seelow, weshalb auch der Tross dorthin weiterzieht, um Kränze und Blumen am Weltfriedenstag auf den Gräbern niederzulegen. Danach besichtigen alle die Ausstellung im Museum. Das kleine Gebäude aus den siebziger Jahren ist dem seinerzeitigen Befehlsstand von Shukow auf dem Reitweiner Sporn nachempfunden. Das Empfangsgebäude daneben ist jüngeren Datums und besitzt ein einzigartiges Kunstwerk. Harald Metzkes hat in Wegendorf um die Ecke sein Atelier, man kenne sich gut und schätze sich sehr, erzählt Schmidt. Vor einigen Jahren sei er zu Metzkes gefahren und habe ihn um ein Antikriegsbild für die Gedenkstätte gebeten. Dafür hatte er, wie der Landrat launig berichtet, dem Kreistag einen fünfstelligen Betrag abgetrotzt. Der fast neunzigjährige Metzkes sagte, er habe nur ein einziges Antikriegsbild gemalt, das könne er haben. Nun also hängt das Ölbild »Selbst, 16.4.1945, Nähe Seelow« dort an der Wand. Es zeigt eine Gruppe Soldaten von hinten, der eine – Schmidt weist auf den Kleinsten im Trupp – ist Metzkes selbst. Das Bild wird gefüllt von einer gewaltigen weißen Rauchsäule, einem Geysir gleich, die in den blauen Frühlingshimmel schießt. Was denn aus dem bereitgestellten Geld geworden sei, fragt einer, wenn denn Metzkes das Bild geschenkt habe. Der Landrat lächelt, damit habe man andere Künstler finanzieren können. Der stämmige Graukopf zeigt das Lächeln eines selbstbewussten Pragmatikers, der weiß, wie man Pointen setzt.
Am Abend trifft man sich im Saal des Kulturhauses an der Erich-Weinert-Straße. Die Stühle stehen weit auseinander, am Eingang muss man coronabedingt seine Adresse hinterlegen, im Saal sammelt man zum zweiten Mal Namen und Anschriften ein. Es handelt sich um eine Veranstaltung, zu der die Rosa-Luxemburg-Stiftung, die Modrow-Stiftung und der Verein »alternativen denken« eingeladen haben, da braucht man Belege fürs öffentliche Interesse. Das ist erkennbar groß, und das Spektrum ist so weit wie das des Podiums, auch ein Militärdekan der Bundeswehr ist dabei. Der, das erstaunt manchen im Saal, von der Mehrheit nicht unbedingt erwartete Überzeugungen äußert. Sie werden mit Beifall bedacht. Der Afghanistanveteran spricht von Friedens- und Versöhnungsarbeit, von Begegnungsarbeit mit den Russen als Alternative zu der politischen Entfremdung und Konfrontation. »Arbeit« kommt ihm oft von den Lippen, nichts geschieht von allein, soll das heißen, und wenn man sich nur auf die »da oben« verlasse, sei man mitunter verlassen. Der Seelsorger Otto Adomat sagt auch, dass Seelow mit Verdun zu vergleichen sei, womit er auf die bundesweite Bedeutung des Ortes verweist, was er im gesamtdeutschen Bewusstsein verankert wissen möchte.
Da bremst der sozialdemokratische Lokalpatriot aus dem Landratsamt ein wenig, er hat die letzten dreißig Jahre bewusst erlebt. Wenn sich die Menschen hier nicht ihrer eigenen Kraft und Geschichte bewusst gewesen wären und nicht diesen Gedenkort nicht nur bewahrt, sondern auch in eigener Verantwortung besorgt hätten – wer weiß, wie er heute aussähe … Und Schmidt widerspricht dem Bedürfnis, den Umgang mit der Gedenkstätte und dessen Nutzung durch die DDR auf reine Propaganda zu reduzieren. Auch das sei Ausdruck des Ringens um die Schuldfrage gewesen. Eine Gedenkstätte wie diese sei für ihn kein Ort zur Erklärung von Diktaturen.
Dann bricht auch die akademische Seite des Disputs durch. Die einen sind der Meinung, die Rezeptionsgeschichte der Gedenkstätte müsse stärker deutlich gemacht werden, vornehmlich die Benutzung des Ortes durch das »SED-Regime« für politische Zwecke. Die anderen wollen »entzerren«, schließlich handele es sich um ein sowjetisches – vulgo stalinistisches – Denkmal, um einen Soldatenfriedhof und drittens um ein Museum. Das gehe gar nicht zusammen. Und man müsse entrümpeln und modernisieren, der Dreitage-Bart-Mann mit der modischen Schlaghose spricht von »Professionalisierung«, um für junge Leute attraktiv zu werden. Diese wollten nicht wissen, was sich hier im Nachgang ereignete, sondern was 1945 war. Das sagt der Mann nicht, aber vielleicht schwebt ihm das vor: Disney-Land auf dem einstigen Schlacht- und Totenfeld. Es sehe aus wie schon immer, würden die Leute angeblich klagen. Mit Verlaub: Die Pyramiden sehen schon seit mehr als viertausend Jahren so aus, und niemand nahm bislang daran Anstoß. Man müsse weg vom »stalinistischen Heldenpathos« und der »Überformung durch kommunistische Propaganda«, wozu der Redner zum Beispiel den Kriegsschrott auf dem Vorplatz zählt, und dergleichen zeitgeistiges Geschwurbel zieht durch den Saal. Es folgt Widerspruch.
So geht denn die lebhafte Debatte hin und her, es melden sich viele zu Wort, die irgendeine Beziehung zu der Gedenkstätte haben, darunter auch deren kompetenter langjährige Leiter sowie Lehrer, Abgeordnete und Geschichtsinteressierte. Eine ältere Dame erklärt am Mikrofon, sie sei vor sechs Jahren aus dem Westen nach Seelow gezogen und habe noch nie eine so qualifizierte und sachliche Debatte erlebt. Sie begreife langsam, warum die hier lebenden Menschen ein anderes Bild von den Russen haben als die meisten ihrer Landsleute in der Gegend, in der sie früher lebte.
»Zukunft der Erinnerung« hatte man die Diskussion überschrieben. Dabei zeigte sich, dass es vor allem um die Gegenwart ging. Denn da ist noch vieles zu klären. Warum, so fragte der 93-jährige Modrow, der als 17-Jähriger in den Kriegs musste, nannte nicht einer der führenden Politiker der Bundesrepublik am 8. Mai in diesem Jahr die Sowjetunion und die Rote Armee beim Namen? Da war der 1985 amtierende Bundespräsident schon einmal weiter gewesen. Der Rückfall hinter einst sicher geglaubte und im öffentlichen Bewusstsein vermeintlich etablierte Erkenntnisse sei nicht zu übersehen.