»Nicht weinen. Eine politische Gefangene weint nicht.« In ihrer ersten Nacht im Knast wiederholt Ingrid Strobl diese Sätze wie ein Mantra. Hinter ihr liegt da die Verhaftung in ihrer Kölner Wohnung durch bis unter die Zähne bewaffnete SEK-Leute, eine Nacht in einer Polizeiwache, ein Hubschrauberflug nach Karlsruhe, eine halsbrecherische Autofahrt im Konvoi – und vor ihr jetzt Isolationshaft im Keller der Justizvollzugsanstalt München-Neudeck. Alles nach Paragraf 129a des Strafgesetzbuches. Es ist der 21. Dezember 1987, und Ingrid Strobl wird vorgeworfen, einen Wecker gekauft zu haben.
Laut Bundeskriminalamt (BKA) wurde dieser bei einem Sprengstoffanschlag auf das Verwaltungsgebäude der Lufthansa in Köln genutzt, der erfolgte nachts, es entstand geringer Sachschaden, Menschen wurden nicht verletzt.
Strobl wird festgenommen unter dem Verdacht der Mitgliedschaft in der terroristischen Vereinigung Revolutionäre Zellen, RZ, und Beihilfe zu deren Sprengstoffanschlag. Der eigens für die Bekämpfung der Roten Armee Fraktion geschaffene Paragraf 129a kommt zur Anwendung – und damit greifen alle Sonderbefugnisse der Bundesanwaltschaft, die mit 129a-Ermittlungen automatisch betraut wird, und all das, was sich ein Staat ausdenkt, um Menschen im Knast endgültig zu brechen: Unterbringung von Untersuchungsgefangenen in isolierten Einzelzellen, Zensur/Einbehalten der Post, reduzierte Besuchszeiten auf zwei Stunden pro Monat, Besuche nur unter strengen Sicherheitsauflagen und im Beisein von Beamten des BKA und vieles mehr.
Am 9. Juni 1989, nach 17 Monaten Untersuchungshaft, wird Ingrid Strobl zu fünf Jahren Haft verurteilt, am 8. Mai 1990 hebt der Bundesgerichtshof in einem Revisionsverfahren das Urteil auf, das Oberlandesgericht Düsseldorf befindet schließlich auf drei Jahre Haft, die bis dahin nicht verbüßte Strafe wird zur Bewährung ausgesetzt. Es ist die erste überhaupt zugelassene Revision zu einem 129a-Verfahren.
Dreißig Jahre nach ihrer Haftentlassung legt Ingrid Strobl mit »Vermessene Zeit: Der Wecker, der Knast und ich« eine sehr reflektierte Erinnerung an ihre Knastzeit vor.
Selbstverständlich hat sie gewusst, wofür der Wecker gedacht war, den sie gekauft und einem Bekannten übergeben hat. Ein Anschlag auf die Lufthansa, die einerseits Menschen in das Elend zurückfliegt, aus dem sie geflohen sind, und andererseits in den »Bumsbombern« deutsche Männer zum Ficken nach Thailand bringt. Zutiefst nachvollziehbar schildert Strobl, wie es ihr nicht mehr ausreichte, gegen all dies einfach nur anzuschreiben. »Nicht mehr nur eine Frau des Wortes sein, sondern eine der Tat.« Heute ist ihr klar: »Gebracht hat der Anschlag nichts. Es wurde danach kein Flüchtling weniger abgeschoben.«
Im Knast ist Strobl mit Armut und Leid konfrontiert: Junkies, (Zwangs-)Prostituierte, eine Mitgefangene hat sich gegen ihren gewalttätigen Mann erst gewehrt, als die Tochter ihr anvertraute, dass er sie missbrauche. Da hat sie ihn umgebracht.
Strobl versucht im Knast vor allem eins: nicht wahnsinnig zu werden. Das 23-Stunden-am-Tag-allein-Sein, der Lärm, der Dreck, das Fehlen von Intimsphäre – das alles macht ihr zu schaffen, schnell merkt sie, dass ihr bei den seltenen Besuchen die Worte fehlen. Durch die Isolation ist Sprechen schwer geworden.
Ihr helfen Bücher. Sie setzt sich intensiv mit Peter Weiss‘ »Ästhetik des Widerstands« auseinander, verschlingt Elsa Morantes »La Storia« und entflieht der Knast-Tristesse mit Doris Gerckes wunderbarer Bella Block.
Geholfen hat ihr auch die Solidarität. Da spielt eine Kapelle vor dem Knast ein Weihnachtskonzert für sie, von dem sie sogar ein wenig hören kann; wildfremde Frauen schicken ihr Decken (die sie allerdings nicht ausgehändigt bekommt), und Menschen schreiben ihr. Einfach so. Aus Solidarität. Unter ihnen beeindruckt sie besonders ein Kommunist. Hätte sie, die »Undogmatische«, ihm in den Knast geschrieben? Damals sicher nicht. Heute sähe das womöglich anders aus.
Vor allem aber hat Ingrid Strobl die Arbeit geholfen. Die ehemalige Redakteurin der Emma hatte bereits vor ihrer Verhaftung ein Buch über Frauen im Widerstand begonnen. »Sag nie, du gehst den letzten Weg. Frauen im Widerstand gegen Faschismus und deutsche Besatzung« erscheint im November 1989 und wird ein Erfolg. Über die Arbeit an dem Buch und seinem Nachfolgeband erfährt man viel in »Vermessene Zeit«. Über die starken Frauen, mit denen Strobl Interviews führte, und deren Motivation, in den Widerstand zu gehen. Als sie aus der Haft entlassen wird, führt sie die Arbeit an dem Thema weiter.
Auch wenn Ingrid Strobl in der Rückschau den Sinn der militanten Aktionen anzweifelt, so stellt sie doch niemals deren Zweck in Frage. Sie ist immer noch wütend, findet die Verhältnisse so unerträglich wie damals. Davon zeugt ihr Buch. Und davon, was für eine Schweinerei der Paragraf 129a ist.
Ingrid Strobl: »Vermessene Zeit. Der Wecker, der Knast und ich«, Edition Nautilus, 192 Seiten, 18 €. Melina Deymann ist Redakteurin bei der sozialistischen Wochenzeitung Unsere Zeit.