Jesus überlebte, weil seine Eltern unmittelbar nach seiner Geburt im Stall, in dem sie Unterschlupf gefunden hatten, mit ihm vor der Gewalt des Königs gegen alle Neugeborenen seines Reiches Zuflucht fanden. Flucht ist ein Weihnachtsthema.
Malek ist zwar in Duisburg zuhause, aber er weiß nicht, wo auf der Erde er Boden unter die Füße bekommen wird. Er ist als Kurde mit afghanischer Staatsangehörigkeit in Deutschland geduldet. Maleks Eltern waren kurz vor seiner Geburt aus dem Kriegsgebiet geflohen, nachdem Warlords seine Oma, die er nie kennenlernen konnte, mit einem Schuss erledigt hatten. Seine Mutter weint ihr heute noch nach. Mit Erreichen der Volljährigkeit erhielt Malek Post vom Amt: Nun, da er kein Minderjähriger mehr sei, stehe seiner Abschiebung ins Land seiner Vorfahren nichts mehr im Wege. Malek kann Kurdisch sprechen, aber seine Aussprache verrät ihn sofort als deutschstämmig. Seine Eltern wurden in Deutschland, wie er, immer nur geduldet, da er sie brauchte, solange er unter dem Schutz der Kinderrechtskonvention stand. Duldung ist ein anderes Wort für »Aufschiebung der Abschiebung«.
Kurdisch versteht er, doch mit Deutsch ist er aufgewachsen; seine Eltern fanden es wichtig, dass er Deutsch möglichst perfekt beherrscht. Es sei schlimm genug, dass ihm sein Name, seine dunkle Hautfarbe, seine Duldungspapiere, die Adresse, wo sie wohnen, Steine in den Weg in die Gesellschaft legen werden, bei der Jobsuche, der Wohnungssuche, im Alltag. Das alles interessiert die Vollzugsbeamten keinen Deut, sie kennen nur Paragraphen. Die Familie hätte lang genug Geduld genossen. Gesetz ist Gesetz.
Malek hat Angst vor Kabul, vor der Zukunft, vor Gewalt, vor dem Unbekannten und vor der Trennung von seiner Duisburger Heimat, von seinem Lieblingslehrer, von allem, was er kennt, auch wenn es immer Probleme gab. Seine zerrissene Seele treibt ihm immer wieder Tränen in die Augen. Er will das nicht. Er will stark sein. Wenn er einem Polizisten seine Identitätsbescheinigung zeigen soll, wenn er im Land, das so viel Wert auf die Menschenrechte legt, in der Schlange an der Supermarktkasse feindlich angesehen wird, wenn ihn Jungen mit Springerstiefeln im Bus bedrohen, Post vom Amt, Fußnoten mit Gesetzesverweisen, immer will er stark und besonnen sein. Als Klassensprecher mögen ihn viele, weil er immer wieder in Konflikten hilft. Er hilft auch, und zwar gern, wenn jemand in Mathe oder Deutsch Probleme hat, denn diese Fächer liebt er besonders. Er liebt Zahlen und Gedichte. Fontanes Zeile aus seinem Gedicht über Afghanistan begleitet ihn, wo auch immer er gerade ist: »Sie irren wie Blinde und sind uns so nah.« Er ärgert sich darüber, dass er sich einmal zu einer Prügelei mit einem muskulösen Deutschen hinreißen ließ. Der Kerl nannte ihn Schmarotzer und Terroristen. Dann aber nannte er seine Mutter eine Hure. Das war zu viel. Er hat auch schon den Unterricht geschwänzt, wenn ihm etwas anderes wichtiger war.
Das Amt kennt viele seiner Fehltritte. Sein Vater bestraft ihn oft hart, denn gerade wir, sagt er, müssen uns besonders zügeln, sonst geht es uns hier an den Kragen. Malek will Sozialarbeit studieren oder Mathelehrer werden.
Eines Morgens stand Polizei noch vor Tagesanbruch im Schlafzimmer, er habe nicht viel Zeit, nur das Nötigste, und dann ab in den Bus zum Flieger nach Kabul. Im Bus warten schon dutzende anderen, die die Post vom Amt verdrängt hatten, so wie er und seine Eltern. Kein Abschiedskuss mehr, keine Mathearbeit nachher in der dritten Stunde, keine Sitzung der Schülervertretung in der Mittagspause, kein Fußballspiel am Nachmittag. Nur Angst, Ungewissheit und diese unbändige Wut im Hals, Wut auf die Polizei, das Amt, die Eltern, die Schule, Jesus, Mohammed und das Amt. Die Welt hat sich gegen ihn verschworen. Warum haben ihn alle guten Geister verlassen? Der Bus, der Flughafen, der Airbus, der Start, unten das geliebte Land. Das Flugzeug kehrte über dem Balkan um, es erhielt für den Zielflughafen keine Landeerlaubnis. So kam Malek wieder zurück nach Marxloh, Duisburg-Nord. Der Bus brachte ihn zum Rathaus. Voller Angst und Hoffnung auf dünnem Eis kurz vor Anbruch eines neuen Jahres, kurz nach Weihnachten. Die Zeit nach Jesus’ Geburt, in der er vor Herodes fliehen musste, um leben zu können. Er liebte auch seine Feinde, sagt seine deutsche Freundin Inge immer, wenn sie seine Angst tröstet. Malek ist den Tränen nahe, und er weiß nicht, wie es weitergeht.
In jener Gegend lagerten Hirten auf freiem Feld und hielten Nachtwache bei ihrer Herde. Da trat ein Engel des Herrn / der Herrin zu ihnen und sein Glanz umstrahlte sie. Sie fürchteten sich sehr, der Engel aber sagte zu ihnen: Fürchtet euch nicht, denn ich verkünde euch eine große Freude, die dem ganzen Volk zuteilwerden soll: Heute ist euch in der Stadt Davids der Retter geboren; er ist der Messias. Und das soll euch als Zeichen dienen: Ihr werdet ein Kind finden, das, in Windeln gewickelt, in einer Krippe liegt. Und plötzlich war bei dem Engel ein großes himmlisches Heer, das Gott und Göttin lobte und sprach: Verherrlicht sind Gott und Göttin in der Höhe, und auf Erden ist Friede bei den Menschen.
Als die Engel sie verlassen hatten und in den Himmel zurückgekehrt waren, sagten die Hirten zueinander: Kommt, wir gehen nach Bethlehem, um das Ereignis zu sehen. So eilten sie hin und fanden Maria und Josef und das Kind, das in der Krippe lag. Als sie es sahen, erzählten sie, was ihnen über dieses Kind gesagt worden war. Und alle, die es hörten, staunten …