Der Fernsehmoderator kündigt die nächste Sendung an, ein Interview über die beiden »Vollkraftnahrungsmittel Soylent Rot und Soylent Gelb«, vor allem aber über »das neue köstliche Soylent Green, die Wunderkost aus energiereichem Plankton, gewonnen aus den Ozeanen unserer Erde«. Die Nachfrage nach diesem neuen Nahrungsmittel sei so groß, dass infolge Verknappung ab sofort nur noch der Dienstag ein »Soylent-Green-Tag« sei. Der Name ist eine Kombination aus Soy (Soja) und Lent(il) Linse.
Der Science-Fiction-Film »Soylent Green« des Regisseurs Richard Fleischer kam 1973 in die Kinos, hierzulande unter dem Titel »… Jahr 2022 … die überleben wollen«. Im Herbst desselben Jahres wurde in der Frankfurter Paulskirche der Club of Rome mit dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels für seinen 1972 unter dem Titel »Die Grenzen des Wachstums« erschienenen »Bericht zur Lage der Menschheit» ausgezeichnet. Ebenfalls 1972 fand im Juni in Stockholm die erste Konferenz der Vereinten Nationen zum Thema Umwelt statt. Diese Weltumweltkonferenz (UNCHE) gilt als Beginn der internationalen, globalen Umweltpolitik. 1200 Vertreterinnen und Vertreter aus 113 Staaten erarbeiteten die Abschlusserklärung, einen Aktionsplan mit 109 Empfehlungen.
Ich war damals verantwortlicher Redakteur einer Wirtschaftszeitung und veröffentlichte am 16. Dezember 1972 in der Jahresschlussausgabe unter der Überschrift »Wachsen wir uns zu Tode?« einen ganzseitigen Text zum Bericht des Club of Rome. Dessen Kernthese: Die Menschheit werde sich irgendwann im 21. Jahrhundert ohne grundlegende Veränderungen in ihrem ökologischen Denken und Handeln zu Tode wachsen, als Folge von Überbevölkerung, Nahrungsbedarf und Unterernährung, Industrialisierung, Ausbeutung von Rohstoffreserven, Umweltverschmutzung und Zerstörung von Lebensraum. Alle endlichen Ressourcen würden in einem exponentiellen Wachstum ihren Grenzen entgegenstreben. Das »aktuelle individuelle lokale Handeln aller habe globale Auswirkungen, die jedoch nicht dem Zeithorizont und Handlungsraum der Einzelnen« entsprächen.
Mein Artikel fand wenig Gnade vor den Augen eines Teils der Herausgeberschaft. Umweltschutz war damals für so manchen Zeitgenossen nur ein Synonym für antiunternehmerischen Aktionismus.
Aber nicht alle politisch Verantwortlichen waren taub oder blind für die Umweltprobleme, auch schon vor Gründung der Grünen. Von den Sozialdemokraten sei beispielhaft Erhard Eppler genannt, von der CDU Herbert Gruhl, seit 1969 Bundestagsabgeordneter und Vorsitzender der CDU/CSU-Arbeitsgruppe für Umweltvorsorge. Er veröffentlichte 1975 sein »Unseren Kindern« gewidmetes Buch »Ein Planet wird geplündert», Unterzeile: »Die Schreckensbilanz unserer Politik«. Das Thema war in Politik und Gesellschaft angekommen und ließ sich nicht mehr aussitzen oder von der Agenda wegdiskutieren.
Science-Fiction-Autoren sind weder Hellseher noch Propheten. Sie sind Seismografen, Deuter von Zukunftslinien. Sie haben häufig dank ihres Gespürs den Finger früher als andere am Puls der Zeit, kurz gesagt: Sie sind »woke« im Kopf und gut informiert in vielen Feldern. Das gilt zum Beispiel für den US-amerikanischen Science-Fiction-Schriftsteller Harry Harrison. Auf seiner 1966 erschienenen düsteren Zukunftsvision »Make room! Make room!« (auf Deutsch: »New York 1999«), der die Kurzgeschichte »Roommates« (auf Deutsch: »Wohngemeinschaft«) vorausging, basiert Fleischers Film.
Der US-amerikanische Biologe Paul R. Ehrlich, bekannt geworden als Forscher im Themenbereich Überbevölkerung (»The Population Bomb«, 1968; auf Deutsch: »Die Bevölkerungsbombe«) schrieb dazu: »Als ich den Roman im letzten Jahr gelesen hatte, war ich davon überzeugt, dass ›Make room! Make room!‹ die beste Auseinandersetzung mit dem Thema ›Bevölkerungsexplosion und ihre Folgen‹ im fiktionalen Bereich war, die ich bis dahin gelesen hatte.« Ein anderer Schriftsteller nannte 1973 Harrisons Buch »ein unschlagbares Beispiel für Wie es schlimmer kommen könnte«. Er kenne »keine überzeugendere Analyse des unvermeidlichen Untergangs der amerikanischen Gesellschaft als direkte Konsequenz der Überbevölkerung«.
Roman, Erzählung, Film haben ähnliche Handlungsstränge; Namen wurden verändert, und Regisseur Fleischer nahm sich die Freiheit, den Film nicht im New York des Jahres 1999 anzusiedeln, sondern im New York des Jahres 2022, dem Jahr, in dem die Menschheit jetzt lebt. Und er führte das titelgebende »Soylent Green« ein, was nicht allen SF-Puristen gefiel, da dadurch der Schwerpunkt der Vorlagen von Überbevölkerung und Wohnungsnot zur Versorgung mit Nahrung verschoben wurde.
Das New York des Jahres 2022 ist ein riesiger Slum mit 40 000 000 Einwohnern, 8 Milliarden zählt die Erdbevölkerung. Die Menschen schlafen auf Treppen, in Autos, die überall herumstehen und nicht mehr fahren, leben von rationiertem Wasser und öffentlicher Nahrungszuteilung, bei der es regelmäßig zu Revolten kommt, die von der Polizei gewaltsam niedergeschlagen werden, auch unter Einsatz von Schaufelbaggern. In der Stadt ist es heiß wie in einem Backofen. Die Polizei versucht in dem Chaos das Schlimmste zu verhindern, ist oft machtlos, bereichert sich oft selbst.
Charlton Heston spielt solch einen Polizisten, den Detective Thorn, der 89-jährige Edward G. Robinson ist sein Zimmergenosse und Gehilfe Sol Roth, der noch die frühere Welt kannte: »Sie war wunderschön.« Es war die letzte Rolle dieses großen Schauspielers, er starb in Hollywood noch vor der Uraufführung des Films. Als Heston zu einem Mordfall gerufen wird, dem ein Unternehmer zum Opfer fiel, der für die Firma Soylent gearbeitet hat, kommt er mit der Welt der Reichen in Kontakt, in der es fließendes Wasser im Bad, frisches Gemüse, ein Stück Rinderfilet und Bourbon-Whisky gibt, für Hunderte von Dollars in nur den Wohlhabenden zugänglichen Läden zu kaufen. Dusche und ein Waschbecken mit fließendem Wasser: 20 Sekunden lang genießt der Polizist den bisher unbekannten Genuss, zum ersten Mal mit Seife die Hände zu waschen. Bei dem Versuch, den Mord aufzuklären, gerät Thorn in Lebensgefahr, denn er kommt nach und nach hinter das schreckliche Geheimnis der Soylent Company, die die halbe Welt mit Lebensmitteln versorgt: Es gibt kein Plankton mehr in den leergefischten, verschmutzten Ozeanen. Die einzige Ressource in Überfülle ist der Mensch. Soylent Green ist Menschenfleisch!
Eine zu düstere Dystopie? 1974 meinte ein Kritiker der Süddeutschen Zeitung: »So wird es uns ergehen, sagt ganz nüchtern [Fleischers] Film, wenn wir nicht aufhören, Schindluder mit dem zu treiben, was wir zum Leben brauchen.« Oder, um es mit den Worten von ALF, dem Zotteltier vom Planeten Melnac, zu sagen: »Womit hat so ein hübscher Planet wie die Erde bloß eure Rasse verdient?« Eine gute Frage, auch für uns im Jahr 2022.
Harry Harrison: »New York 1999« ist bei Heyne erschienen. Die Kurzgeschichte »Wohngemeinschaft« wurde in dem Sammelband mit »grünen« Science-Fiction-Stories »Die letzten Blumen« 1973 im Verlag Bastei-Lübbe veröffentlicht, Hrsg. Thomas Dische. Den Film »Soylent Green«/»… Jahr 2022« gibt es im Streaming-Angebot von Amazon.