Wie ein Solitär ragt das Jahr 1848 zu uns herüber in die Gegenwart. Endlich schien die Zeit gekommen, um mit dem Flickenteppich aus 34 deutschen Kleinstaaten und ihrer »großen Douanenkette«, wie Heinrich Heine die omnipräsenten Zollschranken nannte, Schluss zu machen. Die Zeit schien reif, um aufzustehen für einen Nationalstaat unter einheitlicher Führung, für Pressefreiheit, ein zentrales deutsches Parlament, für die Aufhebung der Feudalrechte, für Reformen in der Rechtsprechung, für ein allgemeines und direktes Wahlrecht, für eine liberale Verfassungsordnung, kurz gesagt: für Menschen- und Bürgerrechte.
Im Februar war es in Frankreich zur dritten Revolution seit 1789 gekommen, und endlich war der Funke über den Rhein gesprungen. Im »Vormärz«, wie diese Februar-März-Phase der Revolution genannt wird, versammelten sich in ganz Deutschland Arbeiter, Bauern, Handwerker, Studenten, aber auch Angehörige des wirtschaftlich erstarkten Bürgertums, um für diese Forderungen zu demonstrieren. Der heutige Platz des 18. März vor dem Brandenburger Tor in Berlin erinnert an die Demonstranten, die sich dort und in den Straßen der Stadt der Armee entgegenstellten und getötet wurden.
Vor 50 Jahren, als sich die Ereignisse jener Zeit zum 125. Mal jährten, wurde in der Bundesrepublik in den Lehrplänen der Schulen das Verständnis deutscher Freiheitsbewegungen gepflegt und der Wettbewerb »Deutsche Revolution 1848/49« ausgerufen.
Die mehrfach ausgezeichneten Volkssänger und Liedermacher Hein und Oss aus dem rheinland-pfälzischen Pirmasens – einem Städtchen nicht allzu weit entfernt vom Hambacher Schloss, das neben der Frankfurter Paulskirche zum Symbol der damaligen Demokratiebewegung wurde – veröffentlichten damals mit Bezug auf den Schul-Wettbewerb ihre LP »Deutsche Lieder 1848/49« mit Texten u. a. von Heinrich Hoffmann von Fallersleben, Ferdinand Freiligrath und Georg Herwegh. Das Geleitwort schrieb der damalige Bundespräsident Gustav Heinemann.
Für Heinemann war, wie es auf der aktuellen Homepage der Bundespräsidenten zu lesen steht, auch 30 Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg immer noch die »Überwindung der Untertänigkeit und die Erziehung der Deutschen zu mündigen Menschen mit bürgerlichem Handeln und Verhalten, die sich aktiv für die freiheitliche Demokratie, die Rechtstaatlichkeit und soziale Gerechtigkeit einsetzen sollten«, eines der dringlichsten Anliegen.
Es ist erschreckend, wie wenig diese Forderung auch 50 Jahre später an Aktualität eingebüßt hat. Zwei Lehrjahre Corona-Pandemie haben uns vor Augen geführt, wie wichtig und notwendig es ist, weiterhin für Grundrechte und parlamentarische Demokratie offensiv einzutreten. Und sie haben uns vermittelt, dass sich die Demokratie stärker als bisher gegen ihre Gegner, gegen ihre Feinde wehren muss.
In zwei Wochen schreiben wir das Jahr 2023, und dann werden sich zum 175. Mal die Ereignisse von 1848/49 jähren. Aber wer kennt oder singt heute noch das »Hecker-Lied«, so wie wir damals in den 1970er Jahren? Das »Bürgerlied«? »Die freie Republik«? Das »Trotz alledem«?
Immerhin, als im vergangenen Monat uns der 9. November wie alljährlich als »deutscher Schicksalstag« in Erinnerung gerufen wurde, beendete die Bundeszentrale für politische Bildung ihre Aufzählung der bedeutendsten historischen Ereignisse zu diesem Datum nach der Erwähnung der Jahre 1989 (Tag des Mauerfalls), 1938 (»Reichspogromnacht«), 1923 (Putschversuch Hitler-Ludendorff) nicht wie sonst üblich mit der Novemberrevolution 1918 und der Ausrufung der Weimarer Republik, sondern erwähnte auch »das Scheitern der demokratischen Märzrevolution von 1848« unter diesem Datum. Am 9. November 1848 war der in Köln geborene Abgeordnete der Frankfurter Nationalversammlung und Schriftsteller Robert Blum in Wien unter Missachtung seiner Immunität standrechtlich erschossen worden. Und einen Tag später war der preußische Generalfeldmarschall Friedrich von Wrangel mit seinen Truppen ins revolutionäre Berlin einmarschiert und hatte die Revolution beendet.
Zur 175. Wiederkehr der deutschen Revolution von 1848/49 hat der Schriftsteller und Literaturwissenschaftler Jörg Bong, bis 2019 Verleger des S. Fischer Verlags, die Ereignisse der Jahre 1848/49 aus ihrem Schattendasein herausgeholt, um sie ganz im Sinne Gustav Heinemanns »ins Bewusstsein unseres Volkes« zu heben und so deutlich zu machen, »wie schon damals für unsere heutigen Grundrechte gekämpft« worden ist. Der Anlass für das Buch sei Wut gewesen, schreibt der Rezensent der Zeit nach seinem Gespräch mit dem Autor. »Wut darüber, dass das politische Vermächtnis dieser Zeit, allen voran der Wille zur Demokratie, so gut wie vergessen sei.«
Das Buch »Die Flamme der Freiheit« ist Anfang Oktober erschienen. Das leidenschaftliche Engagement des Verfassers für die dargestellte Thematik, seine Sympathie für die frühen Demokratinnen und Demokraten von 1848/49, ist von Kapitel zu Kapitel spürbar. Ihnen hat er das Buch gewidmet, 15 Frauen und 38 Männer führt er – »stellvertretend« – im Anhang namentlich auf.
Dass dieses Geschichtsbuch so gut lesbar daherkommt, fast wie ein Roman, verdankt sich auch der schriftstellerischen Fähigkeit des Verfassers, der nicht nur in Frankfurt am Main, sondern auch in der Bretagne zu Hause ist, auf einem anderen Gebiet. Unter dem Pseudonym Jean-Luc Bannalec hat Bong zahlreiche im bretonischen Finistère angesiedelte Kriminalromane mit »Kommissar Dupin« in der Hauptrolle geschrieben, von denen neun im Auftrage der ARD verfilmt wurden.
Bong beginnt seinen Bericht über die 1848er Ereignisse in Paris, mit der am 24. Februar erzwungenen Abdankung des französischen Königs und der Flucht des Königspaars über den Ärmelkanal ins englische Exil. Missernten, extreme Ungleichheit und Ungerechtigkeit – ein Prozent der Franzosen war im Besitz der gesellschaftlichen Macht und des Reichtums – hatten eine explosive revolutionäre Mischung ergeben. Jetzt hieß es für die Monarchie: Rien ne va plus.
Die deutsche Revolution begann schon zwei Tage später, am 26. Februar, sinnigerweise im Pariser Hof, einem Gasthaus in der badischen Residenzstadt Karlsruhe, wo die Nachricht vom Aufstand in Paris in eine Zusammenkunft revolutionär gesinnter Aktivisten platzte. In der Folge entwirft Bong das »Panorama einer Zeit im Umbruch: Von den ersten revolutionären Versammlungen Ende Februar bis hin zu den Schlachten einer demokratischen Armee der Freiheit gegen die Truppen des Bundes«.
Ist die 1848er/49er Revolution gescheitert? Dieses Etikett haftet ihr an. Sicherlich ist sie gescheitert in dem Sinne, dass so manche Forderung unerfüllt blieb, dass weder »Einigkeit und Recht und Freiheit« noch der einheitliche Nationalstaat erreicht wurden. Aber: Im Dezember 1848 wurden in der Paulskirche immerhin die »Grundrechte« verabschiedet, die unsere heutige Verfassung in weiten Teilen vorwegnahmen.
Der englische Historiker Christopher Clark hat vor Jahren an der Goethe-Universität in Frankfurt am Main in einem Vortrag »das Bild von der gescheiterten Revolution» revidiert und die von ihr inspirierten Veränderungen über den nationalen Rahmen hinaus in einen europäischen Kontext gestellt: »Das Entstehen neuer technokratisch-orientierter Koalitionen der politischen Mitte, die Einbindung zivilgesellschaftlicher Organe in den politischen Prozess und fundamentale Neuerungen im Informationsmanagement der Regierungen gegenüber der Öffentlichkeit« hätten ihre Wurzeln in der 1848er Revolution.
Die Antwort Jörg Bongs auf die Frage nach dem Scheitern der Revolution müssen wir abwarten. Der vorliegende Band ist der erste einer Trilogie. Band 2, »Tage der Entscheidung«, ist für den 5. Oktober 2023 angekündigt. Er soll die dramatischen Debatten im ersten deutschen Parlament um eine demokratische Verfassung und die historischen Kämpfe für Volkssouveränität und gegen Fürstenwillkür in Frankfurt, Wien und Berlin in der zweiten Hälfte des Jahres 1848 beinhalten. Band 3, »Freiheit oder Tod«, ist für den 2. Oktober 2024 angekündigt. Er soll den Zeitraum von Januar bis Juli 1849 umfassen mit der berühmten »Verfassungskampagne« für die Anerkennung der Paulskirchenverfassung durch die deutschen Fürsten und die endgültige Niederschlagung der Demokratiebewegung überall in Deutschland.
Vielleicht aber kommt ein literarisches Werk der Antwort auf die Frage nach dem historischen Stellenwert der Revolution von 1848/49 nahe, für die 1928 nach Brecht, Barlach, Frank, von Unruh, Zuckmayer und Hasenclever die bis dato unbekannte Schriftstellerin Anna Seghers den Kleistpreis erhielt? Schon im ersten Abschnitt ihrer Erzählung »Aufstand der Fischer von St. Barbara« hat sie Scheitern und Aufbruch untrennbar miteinander verbunden: »Aber längst, nachdem die Soldaten zurückgezogen, die Fischer auf See waren, saß der Aufstand noch auf dem leeren, weißen, sommerlich kahlen Marktplatz und dachte ruhig an die Seinigen, die er geboren, aufgezogen, gepflegt und behütet hatte für das, was für sie am besten war.«
Die Flamme der Freiheit ist 1848/49 nicht erloschen. Ihre Geschichte hat Jörg Bong aufgeschrieben. Sein Buch sollte im kommenden Jubiläumsjahr Eingang in den Geschichtsunterricht an den Schulen finden.
Jörg Bong: Die Flamme der Freiheit – Die deutsche Revolution 1848/49, Kiepenheuer & Witsch, Köln 2022, 555 S., 29 €.
»Hein und Oss: Deutsche Lieder 1848/49« ist noch als CD erhältlich, ebenso wie die 1973 erschienenen »Lieder der deutschen Revolution – 1848« von Dieter Süverkrüp.
In meinem Hamburger Stadtbezirk gibt es eine Robert-Blum-Straße und, einige Kilometer entfernt, im sogenannten »Generalsviertel« neben anderen noch immer nach preußischen Generälen benannten Straßen auch eine Wrangelstraße.