Skip to content

Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

Menu
Menu

1848: Eine halbe Revolution

Die Erin­ne­rung an poli­ti­sche Ereig­nis­se ist in Deutsch­land immer schwie­rig. Was gehört zum kol­lek­ti­ven Gedächt­nis? Was lässt sich fei­ern? Die Daten und Ereig­nis­se, an die man unwill­kür­lich dabei denkt, sind zwar meist erin­nerns­wert, aber kaum fei­erns­wert. Tage wie der 14.7. in Frank­reich (Sturm auf die Bastil­le 1789) oder der 4.7. in den USA (Rati­fi­zie­rung der Unab­hän­gig­keits­er­klä­rung 1776) haben in Deutsch­land kein Gegen­stück. Die­ser Tat­be­stand hängt natür­lich mit der deut­schen Geschich­te zusam­men, die von gro­ßen Kata­stro­phen durch­zo­gen ist. Dies beginnt mit dem (stets ver­nach­läs­sig­ten) Bau­ern­krieg im 16. Jahr­hun­dert, setzt sich im Drei­ßig­jäh­ri­gen Krieg des 17. Jahr­hun­dert fort und zieht sich hin bis zur Macht­über­ga­be an die Nazi-Faschi­sten und dem kata­stro­pha­len Ende der von ihnen ange­zet­tel­ten Krie­ge. Revo­lu­tio­nen, die posi­ti­ve Ent­wick­lun­gen hät­ten ein­lei­ten kön­nen, sind nicht über Ansät­ze hin­aus­ge­kom­men und mach­ten immer wie­der Kon­ter­re­vo­lu­tio­nen Platz. Man kann sich fra­gen, ob es ange­sichts die­ser pro­ble­ma­ti­schen Geschich­te so etwas wie ein kol­lek­ti­ves Gedächt­nis über­haupt gibt. Es wird sich eher an exi­sten­ti­el­len Erfah­run­gen wie dem Hun­ger­win­ter von 1917, der Infla­ti­on von 1923 oder den Trüm­mer­land­schaf­ten von 1945 fest­ma­chen lassen.

Wie schwer die Erin­ne­rung an mar­kan­te Daten fällt, lässt sich immer wie­der fest­stel­len, etwa an den Fest­re­den poli­ti­scher Repräsentant/​inn/​en der letz­ten Jah­re, ob man nun an 1914 oder die abge­würg­te Revo­lu­ti­on von 1918/​1919 denkt. Auch hun­dert Jah­re spä­ter sind es vor allem die auf­ge­ris­se­nen Grä­ben, die unter­schwel­lig nach­wir­ken. Dies führt regel­mä­ßig zu Ver­tu­schun­gen und Beschö­ni­gun­gen und lässt Raum für diver­se Revi­sio­nis­mus­ver­su­che. Den 8. Mai 1945 hat man in die­sem Jahr von offi­zi­el­ler Sei­te nicht (oder kaum) fei­ern wol­len. Hat­te man in den letz­ten Jah­ren ver­sucht, die durch die Nie­der­la­ge bewirk­te Befrei­ung vom Faschis­mus zu fei­ern, so ist die­se Pra­xis plötz­lich – und wohl nicht zufäl­lig – obso­let oder inop­por­tun gewor­den. Der Grund ist offen­sicht­lich der rus­si­sche Krieg in der Ukraine.

Ist die Revo­lu­ti­on von 1848 eine Aus­nah­me? Lässt sich hier im Sin­ne einer (wenn auch höchst) zer­klüf­te­ten Demo­kra­tie­ge­schich­te posi­tiv anknüp­fen? Liegt die­ses Ereig­nis nicht doch zu weit zurück? Denkt man in die­sem Fall nicht vor allem an das Schei­tern die­ser Revo­lu­ti­on? Einer Revo­lu­ti­on, die über­dies vie­le Jahr­zehn­te in den Hin­ter­grund gedrängt wur­de? Die poli­ti­sche Pra­xis war in die­sem Zeit­raum von einem »star­ken« auto­kra­ti­schen Staat geprägt, der sich auf Mili­tär und auto­ri­tä­re Struk­tu­ren stütz­te. »1848« galt bis zum Ende des ersten Welt­kriegs allen­falls als idea­li­sti­sche Ver­ir­rung aus einer längst ver­sun­ke­nen Zeit. Hier­an ließ sich auch nach 1945 nur bedingt anknüp­fen, sieht man vom Bezug auf die bür­ger­li­chen Grund­rech­te ab, der im west­deut­schen Grund­ge­setz von 1948 eine Rol­le spiel­te, wäh­rend in der ost­deut­schen SBZ der Ver­such einer sozia­li­sti­schen Demo­kra­tie unter­nom­men wurde.

Bun­des­prä­si­dent Frank-Wal­ter Stein­mei­er hat nun in die­sem Jahr zwei Reden auf die März­re­vo­lu­ti­on von 1848 gehal­ten: am 17.3.2023 und am 18.5.2023 zur Eröff­nung des Pauls­kir­chen­par­la­ments. Han­delt es sich um den Ver­such einer Tra­di­ti­ons­stif­tung? Eine histo­ri­sche Rekon­struk­ti­on oder gar kri­ti­sche Refle­xi­on? Am 17.3. soll­te der Rah­men eines »Repu­bli­ka­ni­schen Ban­ketts« an die vor­re­vo­lu­tio­nä­ren Ban­ket­te in Frank­reich erin­nern, wel­che die ver­bo­te­nen poli­ti­schen Ver­samm­lun­gen ersetz­ten. Wor­in die vor­re­vo­lu­tio­nä­re Situa­ti­on in Frank­reich (wie in den Staa­ten des Deut­schen Bun­des) bestand, wird über­gan­gen. Dabei war das Kri­sen­be­wusst­sein ange­sichts wie­der­hol­ter Miss­ern­ten, mas­si­ver Arbeits­lo­sig­keit und kras­ser sozia­ler Ungleich­heit weit ver­brei­tet. Gleich­zei­tig wur­de die Fähig­keit der herr­schen­den Klas­sen, die anste­hen­den Pro­ble­me zu lösen, von Grund auf in Fra­ge gestellt.

In Preu­ßen berief sich 1848 ein auto­kra­ti­scher König immer noch auf das Got­tes­gna­den­tum und zöger­te nicht, das Mili­tär gegen die auf­müp­fi­ge Bevöl­ke­rung ein­zu­set­zen. In Stein­mei­ers Rede ist von dem bru­ta­len Mas­sa­ker, das am 18.3. 1848 in Ber­lin statt­fand, nicht die Rede. Der König habe das »über­mäch­ti­ge« Mili­tär zurück­ru­fen las­sen, heißt es statt­des­sen. Die eigent­li­che März­re­vo­lu­ti­on gerät damit in den Hin­ter­grund. Dass sich wei­te Bevöl­ke­rungs­schich­ten von einer unfä­hi­gen, mili­tär­süch­ti­gen Herr­schaft befrei­en woll­ten, kommt nicht zum Aus­druck. Dabei ging es zunächst um bestimm­te Grund­rech­te, doch sehr bald schon auch um die Abschaf­fung der Mon­ar­chie und vor allem des in ihren Dien­sten ste­hen­den repres­si­ven Mili­tärs. Stein­mei­er hin­ge­gen fei­ert in sei­ner Rede eine vage »Frei­heits­sehn­sucht«, wel­che die Men­schen beseelt habe. Die kon­kre­ten Ver­hält­nis­se wer­den aus­ge­blen­det, eben­so wie das Schei­tern der Revo­lu­ti­on. Statt­des­sen wird unver­mit­telt am Ende der Rede der Bogen zum Ukrai­ne­krieg geschla­gen, um so die »Wehr­haf­tig­keit« der eige­nen Demo­kra­tie zu beschwö­ren. Auf­ge­ru­fen wird nun der »Bür­ger­mut« von damals, der selbst den Bar­ri­ka­den­kampf nicht scheu­te. 1848 wird somit offen instru­men­ta­li­siert, die kom­ple­xe Dyna­mik der dama­li­gen Ent­wick­lun­gen und deren Fol­gen für die deut­sche Geschich­te blei­ben auf der Strecke.

Ähn­lich unhi­sto­risch und ver­ein­sei­ti­gend ist Stein­mei­ers zwei­te, am 18.5. in Frank­furt gehal­te­ne Rede, die mit kli­schee­haf­ten Wet­ter­me­ta­phern einen auf­blü­hen­den »Völ­ker­früh­ling« in wei­ten Tei­len Euro­pas her­bei­zi­tiert. Die revo­lu­tio­nä­ren Ereig­nis­se (in Ber­lin, Wien und anders­wo) hat­ten die Vor­aus­set­zung für das Frank­fur­ter Vor­par­la­ment, die danach statt­fin­den­den Wah­len und die Eröff­nung des Pauls­kir­chen­par­la­ments geschaf­fen. Die Pro­ble­ma­tik die­ses Pro­zes­ses, der auf eine Kana­li­sie­rung revo­lu­tio­nä­rer Posi­tio­nen hin­aus­lief, wird aus­ge­blen­det. Statt­des­sen wird die Insti­tu­ti­on des Par­la­ments als über­zeit­li­che Errun­gen­schaft betrach­tet. Dass sich früh Par­tei­en bil­de­ten, die den revo­lu­tio­nä­ren Pro­zess brem­sen und in »geord­ne­te Bah­nen« len­ken woll­ten, dass die Libe­ra­len und die »Kon­sti­tu­tio­nel­len«, die den Aus­gleich mit den Für­sten such­ten, die Mehr­heit hat­ten und die Grup­pe der ent­schie­de­nen Demo­kra­ten in den Hin­ter­grund dräng­ten, erwähnt Stein­mei­er nicht. Das Histo­ri­sche der dama­li­gen Situa­ti­on, der Kon­kur­renz­kampf der Posi­tio­nen, wird ver­kannt, wenn Stein­mei­er davon spricht, dass »eine Demo­kra­tie auch Libe­ra­lis­mus und Libe­ra­li­tät« brau­che. Auf die­se Wei­se lässt sich nicht erklä­ren, war­um die 48-Revo­lu­ti­on geschei­tert ist, schei­tern musste.

Die libe­ra­le Mehr­heit woll­te schon früh den Kom­pro­miss, die kon­sti­tu­tio­nel­le Mon­ar­chie, die Demo­kra­ten dage­gen erhoff­ten sich die natio­na­le Ein­heit auf der Basis einer demo­kra­ti­schen Repu­blik. Das Abrücken von Revo­lu­ti­on und Demo­kra­tie berei­te­te letzt­lich den Weg zur kon­ter­re­vo­lu­tio­nä­ren Inter­ven­ti­on der »alten Mäch­te«. All dies fin­det bei Stein­mei­er nicht statt. Da die kon­kre­ten Ent­wick­lun­gen der bei­den Revo­lu­ti­ons­jah­re nicht rekon­stru­iert wer­den, ist auch ein adäqua­tes Ver­ständ­nis der histo­ri­schen Pro­zes­se nicht mög­lich. Die Demo­kra­tie besteht nicht im For­ma­len. Gera­de der Auf­bruch in den ersten Mona­ten von 1848 zeigt das Poten­ti­al einer Demo­kra­tie, deren Ziel in der »Selbst­er­mäch­ti­gung« der Men­schen bestand. Das Ziel war eine Poli­tik, die sich für die Inter­es­sen der gro­ßen Mehr­zahl der Men­schen ein­setzt: »Alles für das Volk, alles durch das Volk«, wie es damals in der in Ber­lin erschei­nen­den Zei­tungs-Hal­le hieß – für die auch der jun­ge Fon­ta­ne glü­hen­de demo­kra­ti­sche Arti­kel schrieb. Die Demo­kra­tie soll­te in die­sem Sinn als Pro­zess gese­hen wer­den, der in bestimm­ten Situa­tio­nen einen Schub erhal­ten und an Dyna­mik gewin­nen – oder ver­lie­ren – kann.

Einen Ansatz zu einer pro­duk­ti­ve­ren Beer­bung von 1848 bie­tet der jüngst erschie­ne­ne erste Band einer drei­bän­di­gen Geschich­te der Revo­lu­ti­on des Autors Jörg Bong. Der erste Band (»Die Flam­me der Frei­heit«) beginnt mit der Vor­ge­schich­te in Frank­reich sowie in den zumeist ver­nach­läs­sig­ten Län­dern des Süd­we­stens, nament­lich Badens, und zeigt, wie in den Wochen vor der Eröff­nung des Pauls­kir­chen­par­la­ments der revo­lu­tio­nä­re Schwung trotz aller Bemü­hun­gen ver­lo­ren­ging. Die Stra­te­gien und Zie­le der demo­kra­ti­schen Akti­vi­sten – vor allem Fried­rich Heckers, Gustav Stru­ves, Georg Her­weghs und Emma Her­weghs – wer­den in den kon­kre­ten gesell­schaft­li­chen Zusam­men­hang gestellt. Die Geschich­te wird so ver­ge­gen­wär­tigt. Man gewinnt einen Blick für die kon­kre­te Lage in den ver­schie­de­nen Län­dern. Bong rückt vor allem Fried­rich Hecker in den Vor­der­grund, eine im Süd­we­sten Deutsch­lands auch heu­te noch legen­dä­re Figur. Hecker trat für eine demo­kra­ti­sche Repu­blik Deutsch­land ein und warn­te früh vor den fata­len Fol­gen eines Kom­pro­mis­ses mit den alten Feu­dal­mäch­ten. Sei­ne wich­ti­gen Auf­sät­ze kann man jetzt in der 16-bän­di­gen »Edi­ti­on Pauls­kir­che« nach­le­sen, die den demo­kra­ti­schen Akteu­ren und den Akti­vi­stin­nen der frü­hen Frau­en­be­we­gung gewid­met ist. Auch ein Autor wie Theo­dor Fon­ta­ne ist hier mit einer ein­gän­gi­gen Dar­stel­lung der März­er­eig­nis­se ver­tre­ten, die sich vor­züg­lich als Ein­stieg eig­net. Fon­ta­ne ver­stand früh, dass es galt, ech­te Ver­tre­ter des Volks, also der unter­drück­ten Klas­sen, ins Par­la­ment zu wäh­len, um für den Erfolg der Revo­lu­ti­on zu kämpfen.

Tat­säch­lich saßen nur weni­ge Hand­wer­ker und kein ein­zi­ger Arbei­ter im Pauls­kir­chen­par­la­ment. Eine adäqua­te Wür­di­gung des demo­kra­ti­schen Auf­bruchs von 1848 hät­te zu berück­sich­ti­gen, wel­che sozia­len Grup­pen wel­che Zie­le ver­folg­ten. Dar­auf zu pochen, dass eini­ge der lega­len Zie­le – etwa die bür­ger­li­chen Grund­rech­te – in der Ver­fas­sung von Wei­mar und im Grund­ge­setz der Bun­des­re­pu­blik fest­ge­schrie­ben sind, reicht dabei nicht aus. Dies war zwar ein Haupt­ziel der dama­li­gen Akteu­re, auch der Libe­ra­len, doch für die 48-Demo­kra­tin­nen und Demo­kra­ten war es nur ein Etap­pen­ziel. Ihnen ging es dar­um, sich von den unzu­mut­ba­ren Zwän­gen der alten, noch vom Feu­da­lis­mus bestimm­ten Gesell­schaf­ten mit ihren unpro­duk­ti­ven oder kor­rup­ten Ober­schich­ten zu befrei­en. Die ins Auge gefass­te Demo­kra­tie soll­te die Eman­zi­pa­ti­on der bis­her Unter­drück­ten bewir­ken – ein Ziel, das bis heu­te nicht erreicht ist. So bleibt die­se Hoff­nung das wich­tig­ste Ver­mächt­nis von 1848.