Die Erinnerung an politische Ereignisse ist in Deutschland immer schwierig. Was gehört zum kollektiven Gedächtnis? Was lässt sich feiern? Die Daten und Ereignisse, an die man unwillkürlich dabei denkt, sind zwar meist erinnernswert, aber kaum feiernswert. Tage wie der 14.7. in Frankreich (Sturm auf die Bastille 1789) oder der 4.7. in den USA (Ratifizierung der Unabhängigkeitserklärung 1776) haben in Deutschland kein Gegenstück. Dieser Tatbestand hängt natürlich mit der deutschen Geschichte zusammen, die von großen Katastrophen durchzogen ist. Dies beginnt mit dem (stets vernachlässigten) Bauernkrieg im 16. Jahrhundert, setzt sich im Dreißigjährigen Krieg des 17. Jahrhundert fort und zieht sich hin bis zur Machtübergabe an die Nazi-Faschisten und dem katastrophalen Ende der von ihnen angezettelten Kriege. Revolutionen, die positive Entwicklungen hätten einleiten können, sind nicht über Ansätze hinausgekommen und machten immer wieder Konterrevolutionen Platz. Man kann sich fragen, ob es angesichts dieser problematischen Geschichte so etwas wie ein kollektives Gedächtnis überhaupt gibt. Es wird sich eher an existentiellen Erfahrungen wie dem Hungerwinter von 1917, der Inflation von 1923 oder den Trümmerlandschaften von 1945 festmachen lassen.
Wie schwer die Erinnerung an markante Daten fällt, lässt sich immer wieder feststellen, etwa an den Festreden politischer Repräsentant/inn/en der letzten Jahre, ob man nun an 1914 oder die abgewürgte Revolution von 1918/1919 denkt. Auch hundert Jahre später sind es vor allem die aufgerissenen Gräben, die unterschwellig nachwirken. Dies führt regelmäßig zu Vertuschungen und Beschönigungen und lässt Raum für diverse Revisionismusversuche. Den 8. Mai 1945 hat man in diesem Jahr von offizieller Seite nicht (oder kaum) feiern wollen. Hatte man in den letzten Jahren versucht, die durch die Niederlage bewirkte Befreiung vom Faschismus zu feiern, so ist diese Praxis plötzlich – und wohl nicht zufällig – obsolet oder inopportun geworden. Der Grund ist offensichtlich der russische Krieg in der Ukraine.
Ist die Revolution von 1848 eine Ausnahme? Lässt sich hier im Sinne einer (wenn auch höchst) zerklüfteten Demokratiegeschichte positiv anknüpfen? Liegt dieses Ereignis nicht doch zu weit zurück? Denkt man in diesem Fall nicht vor allem an das Scheitern dieser Revolution? Einer Revolution, die überdies viele Jahrzehnte in den Hintergrund gedrängt wurde? Die politische Praxis war in diesem Zeitraum von einem »starken« autokratischen Staat geprägt, der sich auf Militär und autoritäre Strukturen stützte. »1848« galt bis zum Ende des ersten Weltkriegs allenfalls als idealistische Verirrung aus einer längst versunkenen Zeit. Hieran ließ sich auch nach 1945 nur bedingt anknüpfen, sieht man vom Bezug auf die bürgerlichen Grundrechte ab, der im westdeutschen Grundgesetz von 1948 eine Rolle spielte, während in der ostdeutschen SBZ der Versuch einer sozialistischen Demokratie unternommen wurde.
Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hat nun in diesem Jahr zwei Reden auf die Märzrevolution von 1848 gehalten: am 17.3.2023 und am 18.5.2023 zur Eröffnung des Paulskirchenparlaments. Handelt es sich um den Versuch einer Traditionsstiftung? Eine historische Rekonstruktion oder gar kritische Reflexion? Am 17.3. sollte der Rahmen eines »Republikanischen Banketts« an die vorrevolutionären Bankette in Frankreich erinnern, welche die verbotenen politischen Versammlungen ersetzten. Worin die vorrevolutionäre Situation in Frankreich (wie in den Staaten des Deutschen Bundes) bestand, wird übergangen. Dabei war das Krisenbewusstsein angesichts wiederholter Missernten, massiver Arbeitslosigkeit und krasser sozialer Ungleichheit weit verbreitet. Gleichzeitig wurde die Fähigkeit der herrschenden Klassen, die anstehenden Probleme zu lösen, von Grund auf in Frage gestellt.
In Preußen berief sich 1848 ein autokratischer König immer noch auf das Gottesgnadentum und zögerte nicht, das Militär gegen die aufmüpfige Bevölkerung einzusetzen. In Steinmeiers Rede ist von dem brutalen Massaker, das am 18.3. 1848 in Berlin stattfand, nicht die Rede. Der König habe das »übermächtige« Militär zurückrufen lassen, heißt es stattdessen. Die eigentliche Märzrevolution gerät damit in den Hintergrund. Dass sich weite Bevölkerungsschichten von einer unfähigen, militärsüchtigen Herrschaft befreien wollten, kommt nicht zum Ausdruck. Dabei ging es zunächst um bestimmte Grundrechte, doch sehr bald schon auch um die Abschaffung der Monarchie und vor allem des in ihren Diensten stehenden repressiven Militärs. Steinmeier hingegen feiert in seiner Rede eine vage »Freiheitssehnsucht«, welche die Menschen beseelt habe. Die konkreten Verhältnisse werden ausgeblendet, ebenso wie das Scheitern der Revolution. Stattdessen wird unvermittelt am Ende der Rede der Bogen zum Ukrainekrieg geschlagen, um so die »Wehrhaftigkeit« der eigenen Demokratie zu beschwören. Aufgerufen wird nun der »Bürgermut« von damals, der selbst den Barrikadenkampf nicht scheute. 1848 wird somit offen instrumentalisiert, die komplexe Dynamik der damaligen Entwicklungen und deren Folgen für die deutsche Geschichte bleiben auf der Strecke.
Ähnlich unhistorisch und vereinseitigend ist Steinmeiers zweite, am 18.5. in Frankfurt gehaltene Rede, die mit klischeehaften Wettermetaphern einen aufblühenden »Völkerfrühling« in weiten Teilen Europas herbeizitiert. Die revolutionären Ereignisse (in Berlin, Wien und anderswo) hatten die Voraussetzung für das Frankfurter Vorparlament, die danach stattfindenden Wahlen und die Eröffnung des Paulskirchenparlaments geschaffen. Die Problematik dieses Prozesses, der auf eine Kanalisierung revolutionärer Positionen hinauslief, wird ausgeblendet. Stattdessen wird die Institution des Parlaments als überzeitliche Errungenschaft betrachtet. Dass sich früh Parteien bildeten, die den revolutionären Prozess bremsen und in »geordnete Bahnen« lenken wollten, dass die Liberalen und die »Konstitutionellen«, die den Ausgleich mit den Fürsten suchten, die Mehrheit hatten und die Gruppe der entschiedenen Demokraten in den Hintergrund drängten, erwähnt Steinmeier nicht. Das Historische der damaligen Situation, der Konkurrenzkampf der Positionen, wird verkannt, wenn Steinmeier davon spricht, dass »eine Demokratie auch Liberalismus und Liberalität« brauche. Auf diese Weise lässt sich nicht erklären, warum die 48-Revolution gescheitert ist, scheitern musste.
Die liberale Mehrheit wollte schon früh den Kompromiss, die konstitutionelle Monarchie, die Demokraten dagegen erhofften sich die nationale Einheit auf der Basis einer demokratischen Republik. Das Abrücken von Revolution und Demokratie bereitete letztlich den Weg zur konterrevolutionären Intervention der »alten Mächte«. All dies findet bei Steinmeier nicht statt. Da die konkreten Entwicklungen der beiden Revolutionsjahre nicht rekonstruiert werden, ist auch ein adäquates Verständnis der historischen Prozesse nicht möglich. Die Demokratie besteht nicht im Formalen. Gerade der Aufbruch in den ersten Monaten von 1848 zeigt das Potential einer Demokratie, deren Ziel in der »Selbstermächtigung« der Menschen bestand. Das Ziel war eine Politik, die sich für die Interessen der großen Mehrzahl der Menschen einsetzt: »Alles für das Volk, alles durch das Volk«, wie es damals in der in Berlin erscheinenden Zeitungs-Halle hieß – für die auch der junge Fontane glühende demokratische Artikel schrieb. Die Demokratie sollte in diesem Sinn als Prozess gesehen werden, der in bestimmten Situationen einen Schub erhalten und an Dynamik gewinnen – oder verlieren – kann.
Einen Ansatz zu einer produktiveren Beerbung von 1848 bietet der jüngst erschienene erste Band einer dreibändigen Geschichte der Revolution des Autors Jörg Bong. Der erste Band (»Die Flamme der Freiheit«) beginnt mit der Vorgeschichte in Frankreich sowie in den zumeist vernachlässigten Ländern des Südwestens, namentlich Badens, und zeigt, wie in den Wochen vor der Eröffnung des Paulskirchenparlaments der revolutionäre Schwung trotz aller Bemühungen verlorenging. Die Strategien und Ziele der demokratischen Aktivisten – vor allem Friedrich Heckers, Gustav Struves, Georg Herweghs und Emma Herweghs – werden in den konkreten gesellschaftlichen Zusammenhang gestellt. Die Geschichte wird so vergegenwärtigt. Man gewinnt einen Blick für die konkrete Lage in den verschiedenen Ländern. Bong rückt vor allem Friedrich Hecker in den Vordergrund, eine im Südwesten Deutschlands auch heute noch legendäre Figur. Hecker trat für eine demokratische Republik Deutschland ein und warnte früh vor den fatalen Folgen eines Kompromisses mit den alten Feudalmächten. Seine wichtigen Aufsätze kann man jetzt in der 16-bändigen »Edition Paulskirche« nachlesen, die den demokratischen Akteuren und den Aktivistinnen der frühen Frauenbewegung gewidmet ist. Auch ein Autor wie Theodor Fontane ist hier mit einer eingängigen Darstellung der Märzereignisse vertreten, die sich vorzüglich als Einstieg eignet. Fontane verstand früh, dass es galt, echte Vertreter des Volks, also der unterdrückten Klassen, ins Parlament zu wählen, um für den Erfolg der Revolution zu kämpfen.
Tatsächlich saßen nur wenige Handwerker und kein einziger Arbeiter im Paulskirchenparlament. Eine adäquate Würdigung des demokratischen Aufbruchs von 1848 hätte zu berücksichtigen, welche sozialen Gruppen welche Ziele verfolgten. Darauf zu pochen, dass einige der legalen Ziele – etwa die bürgerlichen Grundrechte – in der Verfassung von Weimar und im Grundgesetz der Bundesrepublik festgeschrieben sind, reicht dabei nicht aus. Dies war zwar ein Hauptziel der damaligen Akteure, auch der Liberalen, doch für die 48-Demokratinnen und Demokraten war es nur ein Etappenziel. Ihnen ging es darum, sich von den unzumutbaren Zwängen der alten, noch vom Feudalismus bestimmten Gesellschaften mit ihren unproduktiven oder korrupten Oberschichten zu befreien. Die ins Auge gefasste Demokratie sollte die Emanzipation der bisher Unterdrückten bewirken – ein Ziel, das bis heute nicht erreicht ist. So bleibt diese Hoffnung das wichtigste Vermächtnis von 1848.