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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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150 Jahre »Internationale«

Im Mai 1871, nach der blu­ti­gen Nie­der­schla­gung der »Pari­ser Kom­mu­ne«, der
1. sozia­li­sti­schen Räte­re­pu­blik, auch mit Hil­fe deut­scher Trup­pen, schrieb Eugè­ne Pot­tier wie zum Trotz »Die Inter­na­tio­na­le«. Es wur­de das wohl meist­ge­sun­ge­ne Lied lin­ker Bewe­gun­gen auf der gan­zen Welt. Doch wird es nach dem geschei­ter­ten Staats­so­zia­lis­mus sowje­ti­scher Prä­gung und dem restau­ra­ti­ven Umbruch nach 1989 kaum mehr gesun­gen und scheint wie ver­brannt und ziem­lich in Ver­ges­sen­heit geraten.

Es ist zugleich, im Hin­blick auf die Nazi-Herr­schaft, von eini­ger histo­ri­scher Sym­bo­lik, dass die Grün­dung des deut­schen Natio­nal­staa­tes, nach dem impe­ria­len deutsch-fran­zö­si­schen Krieg, auch mit dem Blut­zoll der Kom­mu­nar­den ein­her­ging. Wer erin­nert sich noch dar­an, dass die Sie­ges­säu­le in Ber­lin-Mit­te ein tri­um­pha­les Denk­mal die­ses impe­ria­len, deut­schen Sie­ges auch über die Kom­mu­nar­den war?

In Erin­ne­rung an die Ent­ste­hung der »Inter­na­tio­na­le« will ich, trotz alle­dem, eini­ge aktu­ell geblie­be­ne Zei­len dar­aus zitie­ren und kurz reflektieren.

In der 1. Stro­phe heißt es: »Wacht auf, Ver­damm­te die­ser Erde, die stets man noch zum Hun­ger zwingt!« Hun­ger gibt es bekannt­lich welt­weit immer noch. Ver­dammt sind immer noch Mil­li­ar­den von Men­schen, die unter den pre­kä­ren Bedin­gun­gen feu­da­ler und kapi­ta­li­sti­scher Aus­beu­tung zu lei­den haben, aber dies oft, wie in einem ohn­mäch­ti­gen Schlaf, wei­ter­hin hinnehmen.

»Ein Nichts zu sein, tragt es nicht län­ger, alles zu wer­den, strömt zuhauf!« Das ist eine blei­ben­de, fast exi­sten­zia­li­stisch anmu­ten­de Auf­for­de­rung, denn in den aktu­el­len gesell­schaft­li­chen Ver­hält­nis­sen fühlt sich die Mehr­heit der Men­schen immer noch als ein »Nichts«, und sie erfah­ren kaum Auf­merk­sam­keit in der domi­nan­ten, media­len und poli­ti­schen Welt, weil sie nicht zur herr­schen­den poli­ti­schen Klas­se gehö­ren. Es bleibt nach wie vor nur das soli­da­ri­sche Han­deln, um die eige­nen Lebens­chan­cen und damit mehr uni­ver­sel­le Teil­ha­be für alle Men­schen zu errin­gen. Gewalt­sa­me Umstür­ze wer­den in dem Maße abneh­men, umso mehr Men­schen sich zivil­ge­sell­schaft­lich in den poli­ti­schen Wan­del ein­brin­gen, je stär­ker dadurch sozia­le Bewe­gun­gen werden.

In der 2. Stro­phe heißt es: »Es ret­tet uns kein höhe­res Wesen, kein Gott, kein Kai­ser, noch Tri­bun. Uns aus dem Elend zu erlö­sen, kön­nen wir nur sel­ber tun!« Die­se Zei­len, die auch Brecht vari­ier­te, wenn es im Ein­heits­front­lied heißt: »Es kann die Befrei­ung der Arbei­ter nur das Werk der Arbei­ter sein« – die­se Zei­len sind auch des­halb aktu­ell geblie­ben, weil Schick­sals­er­ge­ben­heit, poli­ti­sche Pas­si­vi­tät und Auto­ri­täts­gläu­big­keit, wel­cher Art auch immer, nach wie vor die größ­ten Illu­sio­nen der Unter­drück­ten geblie­ben sind.

»Lee­res Wort: des Armen Rech­te! Lee­res Wort: des Rei­chen Pflicht! Unmün­dig nennt man uns und Knech­te, dul­det die Schmach nun län­ger nicht!« Immer noch besteht die größ­te Gesell­schafts­lü­ge dar­in, dass alle Men­schen die glei­chen Rech­te hät­ten und die Rei­chen ihrer Pflicht zum Gemein­wohl tat­säch­lich nach­kom­men. Die sozia­le Spal­tung ist natio­nal und glo­bal nach wie vor die größ­te Schmach und das Gewalt aus­lö­sen­de Grund­übel unse­res Zeit­al­ters geblie­ben. Das Heils­ver­spre­chen einer neo­li­be­ra­len Glo­ba­li­sie­rung des Kapi­ta­lis­mus ist weit­ge­hend eine Vater­mor­ga­na, ange­sichts der welt­wei­ten Kri­sen, und die Leid­tra­gen­den kom­men immer noch viel zu wenig öffent­lich zu Wort.

In der 3. Stro­phe heißt es: »In Stadt und Land, ihr Arbeits­leu­te, wir sind die stärk­ste der Par­tei­en. Die Müßig­gän­ger schiebt bei­sei­te! Die­se Welt muss unser sein!« Obwohl kör­per­li­che und gei­sti­ge »Arbeits­leu­te« die über­wäl­ti­gen­de Mehr­heit der Men­schen aus­ma­chen, regie­ren welt­weit nach wie vor die Wohl­ha­ben­den, die sich des­halb auch unver­gleich­lich mehr an Muße und Lebens­ge­nüs­sen lei­sten kön­nen. Sie ein­fach nur »bei­sei­te­zu­schie­ben«, hat sich bis­her als nai­ves Wunsch­den­ken herausgestellt.

»Unser Blut sei nicht mehr der Raben und der mäch­ti­gen Gei­er Fraß! Erst wenn wir sie ver­trie­ben haben, dann scheint die Sonn’ ohn’ Unter­lass!« In welt­wei­ten innen- und außen­po­li­ti­schen Mili­tär­ein­sät­zen und Krie­gen, in denen das west­li­che Bünd­nis einen ille­gi­ti­men Füh­rungs­an­spruch gel­tend macht, wer­den immer noch Mil­lio­nen Men­schen ins Elend gestürzt, getö­tet und ver­trie­ben. Aber die Ver­trei­bung der krie­ge­ri­schen Gewalt­tä­ter bleibt eine Lang­zeit­auf­ga­be, und die Hoff­nung auf einen bal­di­gen »ewi­gen Frie­den« war eine lin­ke Illusion.

Im dem berühm­ten Refrain der Inter­na­tio­na­le heißt es schließ­lich immer wie­der: »Völ­ker hört die Signa­le! Auf zum letz­ten Gefecht! Die Inter­na­tio­na­le erkämpft das Men­schen­recht!« Auch hier lehrt die Geschich­te, dass es ein »letz­tes Gefecht« nicht gibt. Bes­ser hie­ße es wohl: »Auf zum näch­sten Gefecht!« Aber es ist und bleibt eine unum­stöß­li­che histo­ri­sche Wahr­heit, dass nur die inter­na­tio­na­le Soli­da­ri­tät in der Lage wäre, die Vor­herr­schaft uni­ver­sel­ler Men­schen­rech­te, statt, wie bis­her, die uni­ver­sel­le Pro­fit­ma­xi­mie­rung für Wohl­ha­ben­de welt­weit durch­zu­set­zen. Die Gül­tig­keit einer Visi­on uni­ver­sel­ler Men­schen­rech­te ist immer­hin Bestand­teil des Völ­ker­rechts in einer von allen Staa­ten aner­kann­ten UN-Kon­ven­ti­on gewor­den. Die »Inter­na­tio­na­le«, obgleich kaum noch gesun­gen und von man­chen ver­lacht, ist daher in Wahr­heit so aktu­ell wie zu Zei­ten ihrer Entstehung.