Im Mai 1871, nach der blutigen Niederschlagung der »Pariser Kommune«, der
1. sozialistischen Räterepublik, auch mit Hilfe deutscher Truppen, schrieb Eugène Pottier wie zum Trotz »Die Internationale«. Es wurde das wohl meistgesungene Lied linker Bewegungen auf der ganzen Welt. Doch wird es nach dem gescheiterten Staatssozialismus sowjetischer Prägung und dem restaurativen Umbruch nach 1989 kaum mehr gesungen und scheint wie verbrannt und ziemlich in Vergessenheit geraten.
Es ist zugleich, im Hinblick auf die Nazi-Herrschaft, von einiger historischer Symbolik, dass die Gründung des deutschen Nationalstaates, nach dem imperialen deutsch-französischen Krieg, auch mit dem Blutzoll der Kommunarden einherging. Wer erinnert sich noch daran, dass die Siegessäule in Berlin-Mitte ein triumphales Denkmal dieses imperialen, deutschen Sieges auch über die Kommunarden war?
In Erinnerung an die Entstehung der »Internationale« will ich, trotz alledem, einige aktuell gebliebene Zeilen daraus zitieren und kurz reflektieren.
In der 1. Strophe heißt es: »Wacht auf, Verdammte dieser Erde, die stets man noch zum Hunger zwingt!« Hunger gibt es bekanntlich weltweit immer noch. Verdammt sind immer noch Milliarden von Menschen, die unter den prekären Bedingungen feudaler und kapitalistischer Ausbeutung zu leiden haben, aber dies oft, wie in einem ohnmächtigen Schlaf, weiterhin hinnehmen.
»Ein Nichts zu sein, tragt es nicht länger, alles zu werden, strömt zuhauf!« Das ist eine bleibende, fast existenzialistisch anmutende Aufforderung, denn in den aktuellen gesellschaftlichen Verhältnissen fühlt sich die Mehrheit der Menschen immer noch als ein »Nichts«, und sie erfahren kaum Aufmerksamkeit in der dominanten, medialen und politischen Welt, weil sie nicht zur herrschenden politischen Klasse gehören. Es bleibt nach wie vor nur das solidarische Handeln, um die eigenen Lebenschancen und damit mehr universelle Teilhabe für alle Menschen zu erringen. Gewaltsame Umstürze werden in dem Maße abnehmen, umso mehr Menschen sich zivilgesellschaftlich in den politischen Wandel einbringen, je stärker dadurch soziale Bewegungen werden.
In der 2. Strophe heißt es: »Es rettet uns kein höheres Wesen, kein Gott, kein Kaiser, noch Tribun. Uns aus dem Elend zu erlösen, können wir nur selber tun!« Diese Zeilen, die auch Brecht variierte, wenn es im Einheitsfrontlied heißt: »Es kann die Befreiung der Arbeiter nur das Werk der Arbeiter sein« – diese Zeilen sind auch deshalb aktuell geblieben, weil Schicksalsergebenheit, politische Passivität und Autoritätsgläubigkeit, welcher Art auch immer, nach wie vor die größten Illusionen der Unterdrückten geblieben sind.
»Leeres Wort: des Armen Rechte! Leeres Wort: des Reichen Pflicht! Unmündig nennt man uns und Knechte, duldet die Schmach nun länger nicht!« Immer noch besteht die größte Gesellschaftslüge darin, dass alle Menschen die gleichen Rechte hätten und die Reichen ihrer Pflicht zum Gemeinwohl tatsächlich nachkommen. Die soziale Spaltung ist national und global nach wie vor die größte Schmach und das Gewalt auslösende Grundübel unseres Zeitalters geblieben. Das Heilsversprechen einer neoliberalen Globalisierung des Kapitalismus ist weitgehend eine Vatermorgana, angesichts der weltweiten Krisen, und die Leidtragenden kommen immer noch viel zu wenig öffentlich zu Wort.
In der 3. Strophe heißt es: »In Stadt und Land, ihr Arbeitsleute, wir sind die stärkste der Parteien. Die Müßiggänger schiebt beiseite! Diese Welt muss unser sein!« Obwohl körperliche und geistige »Arbeitsleute« die überwältigende Mehrheit der Menschen ausmachen, regieren weltweit nach wie vor die Wohlhabenden, die sich deshalb auch unvergleichlich mehr an Muße und Lebensgenüssen leisten können. Sie einfach nur »beiseitezuschieben«, hat sich bisher als naives Wunschdenken herausgestellt.
»Unser Blut sei nicht mehr der Raben und der mächtigen Geier Fraß! Erst wenn wir sie vertrieben haben, dann scheint die Sonn’ ohn’ Unterlass!« In weltweiten innen- und außenpolitischen Militäreinsätzen und Kriegen, in denen das westliche Bündnis einen illegitimen Führungsanspruch geltend macht, werden immer noch Millionen Menschen ins Elend gestürzt, getötet und vertrieben. Aber die Vertreibung der kriegerischen Gewalttäter bleibt eine Langzeitaufgabe, und die Hoffnung auf einen baldigen »ewigen Frieden« war eine linke Illusion.
Im dem berühmten Refrain der Internationale heißt es schließlich immer wieder: »Völker hört die Signale! Auf zum letzten Gefecht! Die Internationale erkämpft das Menschenrecht!« Auch hier lehrt die Geschichte, dass es ein »letztes Gefecht« nicht gibt. Besser hieße es wohl: »Auf zum nächsten Gefecht!« Aber es ist und bleibt eine unumstößliche historische Wahrheit, dass nur die internationale Solidarität in der Lage wäre, die Vorherrschaft universeller Menschenrechte, statt, wie bisher, die universelle Profitmaximierung für Wohlhabende weltweit durchzusetzen. Die Gültigkeit einer Vision universeller Menschenrechte ist immerhin Bestandteil des Völkerrechts in einer von allen Staaten anerkannten UN-Konvention geworden. Die »Internationale«, obgleich kaum noch gesungen und von manchen verlacht, ist daher in Wahrheit so aktuell wie zu Zeiten ihrer Entstehung.