Übersteuerte Musik begrüßte am 27. November 22 die erwartungsvollen Besucher der seit rund 15 Jahren im Kulturhaus laufenden Reihe »Karlshorster im Gespräch«. Noch freie Stühle wurden gerückt und Bekannten zugeschoben, verspätete Gäste jonglierten gefüllte Gläser und Pappteller mit Berliner Bouletten und Bautzner Senf quer durch die Reihen zu ihren Plätzen und entschuldigten sich für fehlgelandete Kleckereien. Die Ton- und Lichtanlagen wurden nochmals zum Heulen und Leuchten gebracht, und eine bekannte linke Lichtenberger Persönlichkeit des Bundestages wurde zu ihrem Ehrenplatz komplimentiert. Gegen 17.00 Uhr sollte es losgehen, erwarteten doch die Teams von Spanien und der BRD noch am späten Abend ihre jeweiligen Fußball-Spielerfolge bei der WM, und das war wohl auch der Grund dafür, dass der Moderator Klaus Borde mehrmals nervös auf seine VEB Glashütter Uhr schielte.
Ein älterer ergrauter und bei erster Wahrnehmung eher unauffälliger Herr betrat schließlich wie bei einem herbstlichen Abendspaziergang gelassen die Bühne und sang einen offensichtlich bekannten Titel ins interessierte Publikum. Beifall brandete auf, denn der mit Spannung erwartete Gast und Gesprächspartner war kein geringerer als der inzwischen über 80jährige DDR-Indianer und vielseitige Schauspieler Gojko Mitic, der den zumeist älteren Teilnehmern gut bekannte Darsteller und eingewanderte serbische Sportsmann aus Kultfilmen und von Freilichtbühnen aus Ost und West. Und Veranstalter des Abends waren das Kulturhaus und der Bürgerverein Karlshorst, die die Reihe pflegen, nachdem das ehemalige »ZK«, das Zimmertheater Karlshorst, nach dem Abriss der alten und dem Neuaufbau der neuen Kulturstätte dem angestammten Platz am S-Bahnhof weichen musste und die entstandene Lücke durch neue Angebote zu ersetzen war. Und dieser Versuch gelang, startete im November 2013 mit dem in Friedrichsfelde beheimateten Generalmusikdirektor Manfred Rosenberg, ehemaliger Babelsberger Chefdirigent und u. a. Bearbeiter der Paul-und-Paula-Musik, und führte eine breite Palette von Fachleuten unterschiedlichster Genres, Zeitzeugen und Persönlichkeiten vor, bis die Corona-Pandemie die Kette fast drei Jahre lang unterbrach.
Viele Veranstalter und ein vielgestaltiges Publikum lernten sich persönlich kennen und schätzen und kamen sich im Kulturhaus näher. Man begegnete beispielsweise der Karlshorster Arztfamilie Waldeyer und den Nachfahren der adligen Familie v. Treskow und erfuhr, dass selbige in inoffizieller Zusammenarbeit mit DDR-Tierparkdirektor Prof. Dathe den Erhalt des Schlosses Friedrichsfelde betreiben und den Abriss des Hauses verhindern konnte. Man konnte Fragen an die ortsverbundenen Künstler, Ärzte und Zahnärzte richten, sich von Schriftstellern wie Jan Eik über regionale Kriminalfälle informieren und sich mit Zeitzeugen des Kriegsendes über ihre aufrüttelnden Erlebnisse aus dem Jahre 1945 unterhalten. Dazu hatten die Moderatoren Helfritsch und Borde manche betagten Alt-KarlshorsterInnen in der häuslichen Umgebung oder in Seniorenheimen individuelle Besuche abgestattet und vertrauliche Gespräche miteinander geführt, für die sie ihnen zu großem Dank verpflichtet bleiben. Dispute mit dem Lichtenberger Bürgermeister Grunst, mit dem Karlshorster Chronisten Fauck und den aufgrund der aktuellen Lage in Bedrängnis geratenen Museumsdirektor Morre sowie mit der Karlshorster Geistlichkeit belebten und vertieften das Wissen um komplizierte Problemlagen wie die Historie des Ortsteils, die gewandelte Ausstattung des Museums, die örtliche Wohnraumsituation, den umstrittenen regionalen Vorstadtverkehr und die einmalige Geschichte der Pferderennbahn.
Die künstlerische Umrahmung der Gespräche gab Schülern und jungen Künstlern aus Karlshorster und benachbarten Schulen die Chance, sich und ihre Entwicklungsfortschritte darzustellen. Dafür war der Pädagoge und Chorleiter Lothar Bösel, der im Rahmen eines Karlshorster Gesprächs zwei Jahre zuvor in den musikalischen Unruhestand versetzt worden war, ein beredtes Beispiel.
Aber zurück zu Gojko Mitic, der sich gesprächs- und reitgewandt und nicht weniger körpergestylt erwies und sich mit seinen vom Publikum mit Beifall quittierten Ansichten zur inneren und äußeren politischen Lage wie auch seinen wiederholten Mahnungen zur menschlichen Vernunft keine Zurückhaltung auferlegte. Wie sollte er das auch – 1940 als Kriegskind geboren und später mit antifaschistischen Künstlern wie Inge Borde und Eduard Klein und ihrem Sohn und späteren Moderator Klaus Borde befreundet! Letzterer konnte sich – wie sein ebenfalls anwesender Ex-Klassenleiter Wolfgang Helfritsch – in den Nachkriegsjahren an der Humboldt-Universität noch gut an die Dozentin Dr. Liselotte Welskopf-Henrich erinnern, die beide einst als Studenten in die griechische Geschichte eingeführt hatte und – gewissermaßen im schriftstellerischen Nebenberuf – die »Söhne der großen Bärin« herausgebracht hatte!
Dass es auch nach der »Wende« auf anderer Strecke zu einer Zusammenarbeit kommen sollte, sei der Vielseitigkeit Gojkos wegen auch erwähnt: Im Jubiläumsjahr Friedrichshagens spielte er auf dem Marktplatz des Ortsteils den »alten Fritzen«, Friedrich II., der auf einem flotten Schimmel über die Bühne galoppierte und der Entwicklung des literarischen, maulbeer- und naturverbundenen Geländes an der Ostberliner Wasserkante an der Mündung des leider fast vergessenen süffigen »Bürgerbräus« seinen Segen gab. Das Spielbuch schrieb Wolfgang Helfritsch, mit von der Partie waren Mitglieder des Köpenicker Stadttheaters wie der häufig als Köpenicker Hauptmann agierende Uwe Hilbrecht, und Regie führte Otto Dierichs.
Dass der Abend auch nach dem offiziellen Abschluss kein Ende nehmen wollte, lag am Interesse vieler Gäste, noch ein paar persönliche Worte mit Gojko Mitic zu wechseln, Ansichten auszutauschen und sich mit ihm ablichten zu lassen. Möge er uns noch ein paar Jahre erhalten bleiben, um Kraft für weitere Auftritte und die Fortsetzung der Debatten zu gewinnen und sich noch lange indianisch oder vegan gesund zu erhalten!