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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Eine Welt, die alle umfasst 

Wer die jün­ge­ren Wahl­er­geb­nis­se in west­li­chen Demo­kra­tien als Zeit­zeug­nis­se liest, fin­det dar­in wenig von dem, was Alei­da und Jan Ass­mann in letz­ter Zeit beschäf­tigt hat. Gemein­sinn. Der sech­ste, sozia­le Sinn – so der Titel ihres neu­en Buchs – lockt kaum noch Wäh­ler an die Urne. »Ame­ri­ca first« steht bei­spiel­haft für eine Ten­denz, Eigen­in­ter­es­sen zum Maß­stab des Han­delns zu machen. Soli­da­ri­tät mit Hil­fe­be­dürf­ti­gen muss sich recht­fer­ti­gen, ihre Ver­wei­ge­rung nicht. In genau die­se Situa­ti­on spricht das Buch hin­ein und behaup­tet: Das kann und muss ver­än­dert werden.

Aus­gangs­punkt der Betrach­tung sind die unter­schied­li­chen Men­schen­bil­der, aus denen poli­ti­sche Hand­lungs­an­wei­sun­gen abge­lei­tet wer­den, häu­fig, ohne dass der Zusam­men­hang offen­liegt. Im Fokus ste­hen Carl Schmitt und sei­ne Freund-Feind-Dok­trin, für Schmitt die Grund­la­ge alles Poli­ti­schen, für die Ass­manns ein defi­zi­tä­res Kon­zept mensch­li­cher Bin­dungs- und Bezie­hungs­fä­hig­keit, gegrün­det auf die Hob­bes­sche Annah­me einer inva­ri­an­ten »Wolfs­na­tur« des Men­schen. Das Autoren­paar schil­dert Bemü­hun­gen in der Neu­en Rech­ten, Schmitts Staats­leh­re von des­sen Anti­se­mi­tis­mus und Natio­nal­so­zia­lis­mus zu schei­den, und wen­den ein, dass aus die­sen Wur­zeln das Theo­rie­ge­bäu­de sowohl ent­stand als auch sei­ne inne­re Begrün­dung bezieht. Dass Schmitt sein Freund-Feind-Den­ken über den Krieg hin­aus wei­ter­ent­wickeln und radi­ka­li­sie­ren woll­te, dar­in zeigt sich sei­ne gei­sti­ge Ver­haf­tung im Zeit­ge­sche­hen, im Zivi­li­sa­ti­ons­bruch 1914-1918.

Umge­kehrt habe der Idea­lis­mus Kants mit dem Postu­lat der Men­schen­wür­de eine Auf­wer­tung der mensch­li­chen Natur unter­nom­men, sie aus den Fest­le­gun­gen früh­neu­zeit­li­cher Ver­dik­te befreit und ihr die Mög­lich­keit einer Wei­ter­ent­wick­lung in Den­ken, Han­deln und Urtei­len zuge­spro­chen. Ange­lehnt an den israe­li­schen Phi­lo­so­phen Omri Boehm befas­sen die Ass­manns sich mit Kants »Gemeinsinn«-Begriff, stau­nen über des­sen Ver­or­tung in der Kri­tik der Urteils­kraft, also im ästhe­ti­schen und nicht im prak­ti­schen Teil von Kants Phi­lo­so­phie, und voll­zie­hen nach, dass Kant mit dem Begriff ein Grund­be­dürf­nis des Men­schen nach Abgleich und Ver­ge­mein­schaf­tung von indi­vi­du­ell Gedach­tem behaup­tet. Uni­ver­sa­lis­mus erfährt da gera­de­zu eine Zweit­be­grün­dung, neben dem Anspruch des kri­ti­schen Den­kens auf Gel­tung sei­ner Ergeb­nis­se. Weit ist es von Kants Ästhe­tik nicht mehr zu Ari­sto­te­les, der den sen­sus com­mu­nis als einen die fünf Sin­ne des Kör­pers koor­di­nie­ren­den sech­sten Sinn betrach­te­te, den jeder Mensch hat und ohne den der Ver­stand nicht arbei­ten könnte.

Aus­ge­hend von Ari­sto­te­les beschäf­tigt sich das Buch detail­liert mit der Begriffs­ge­schich­te, ent­wickelt gera­de­zu eine eige­ne Ord­nung der Ver­ständ­nis­se und Miss­ver­ständ­nis­se, um dann zu bemer­ken: »Das Wort ›Gemein­sinn‹ kennt kei­ne Endung auf ›-ismus‹.« Dar­in zei­ge sich sei­ne Ver­an­ke­rung im Indi­vi­du­um. Wenn an der Stel­le der »Kom­mu­nis­mus« auf eher pein­li­che Art über­se­hen wird, gilt Ähn­li­ches für die Unter­su­chun­gen zur Soli­da­ri­tät, die zwar über­zeu­gend in eine »Soli­da­ri­tät mit« und eine »Soli­da­ri­tät gegen« geschie­den, aber nicht auf ihren histo­ri­schen Wer­de­gang als Begriff und als Kon­zept befragt wird. Andern­falls hät­te die Arbei­ter­be­we­gung vor­kom­men müs­sen, der Gegen­satz zwi­schen einer Grup­pen- und einer Mensch­heits­bin­dung sich dann nicht fein säu­ber­lich durch­hal­ten las­sen. Es geht den Ass­manns all­ge­mein wenig um die histo­ri­sche, die tat­säch­li­che, die außer gesell­schaft­li­che am Ende auch natür­li­che Ver­bun­den­heit von Men­schen mit­ein­an­der, als deren Regu­la­tiv auf ver­schie­de­nen Ebe­nen sich der Gemein­sinn eben­falls erklä­ren lässt. »Die Natur ist Fein­din ewi­ger Besit­zun­gen«, sagt Nova­lis, und: »Allen Geschlech­tern gehört die Erde; jeder hat Anspruch auf alles.«

Dass aus­ge­rech­net ein Brecht­text die Idee der indi­vi­du­el­len Hil­fe­lei­stung unter­mau­ern soll, leuch­tet auch nicht gleich ein. Das Gedicht »Die Nacht­la­ger« von 1931 hat, ohne hier ins Detail gehen zu kön­nen, die ein­deu­ti­ge Bot­schaft: Soli­da­ri­sche Not­hil­fe ist kein Ersatz für Gerech­tig­keit. Mit ähn­li­chen Über­le­gun­gen wird Lukas Bär­fuss zitiert – ohne Zustim­mung. Statt­des­sen postu­lie­ren die Ass­manns exakt das Zwi­schen­er­geb­nis, von dem Brechts Gedicht sich im Schluss­teil abwen­det, als Modell für Soli­da­ri­tät: Spre­cher sein für Benach­tei­lig­te, indi­vi­du­el­le Not­hil­fe orga­ni­sie­ren. Wie ein­fach wäre es gewe­sen, zu sagen: Das eine führt gün­sti­gen­falls zum ande­ren. Prak­tisch hel­fen und zugleich für Gerech­tig­keit kämp­fen. Aber die Ass­manns haben Angst vor lee­ren Begrif­fen, nur zu ver­ständ­lich, und las­sen sich auf kei­nen Har­mo­ni­sie­rungs­ver­such ein.

Die stärk­sten Tei­le des Buchs wid­men sich dem, was das Autoren­paar »poli­ti­sche Kul­tur« nennt. Aus­ge­hend von dem bekann­ten Dik­tum Ernst-Wolf­gang Böcken­för­des »Der frei­heit­li­che, säku­la­ri­sier­te Staat lebt von Vor­aus­set­zun­gen, die er selbst nicht garan­tie­ren kann«, rücken Alei­da und Jan Ass­mann die kul­tu­rel­le Grund­la­ge der Demo­kra­tie in den Mit­tel­punkt. »Wie not­wen­dig sie ist, zeigt sich gera­de heu­te durch ihren Man­gel. Weil eine poli­ti­sche Kul­tur in vie­len Demo­kra­tien gegen­wär­tig unter dem Druck wach­sen­der Pola­ri­sie­run­gen zer­rüt­tet oder ganz ver­lo­ren gegan­gen ist, stellt sich umso dring­li­cher die Fra­ge, was sie zer­stört und aus wel­chen Res­sour­cen sie wie­der auf­ge­baut wer­den kann.« Brü­der­lich­keit wird als das­je­ni­ge Postu­lat der Fran­zö­si­schen Revo­lu­ti­on erläu­tert, das nicht mit Geset­zen und poli­ti­schen Maß­nah­men, son­dern nur in den Ein­stel­lun­gen und Ver­kehrs­for­men demo­kra­tisch han­deln­der Men­schen rea­li­siert wer­den kann. Wie­der geht es um das Indi­vi­du­um und sei­nen Blick auf die Welt, um Phi­lo­so­phie und Men­schen­bil­der. Karl Löwi­ths Begriff des »Mit­men­schen«, sein dia­lo­gi­scher Denk­an­satz wer­den als Alter­na­ti­ve zum idea­li­sti­schen Sub­jekt­den­ken ent­fal­tet. Mehr­fach bezie­hen sich die Ass­manns auf Ghan­di und sei­nen von der Men­schen­wür­de abge­lei­te­ten Altru­is­mus. Auch hier hät­te zunächst die Fra­ge gestellt wer­den kön­nen, wie eng Men­schen tat­säch­lich mit­ein­an­der ver­bun­den sind. Ghan­di »wuss­te, dass unser aller Leben und Schick­sa­le mit­ein­an­der ver­floch­ten sind und dass wir beschei­den sein müs­sen, damit wir erken­nen, wie sehr wir auf­ein­an­der ange­wie­sen sind«, betont der Enkel und gei­sti­ge Sach­wal­ter Arun Ghan­di. Brü­der­lich­keit und Schwe­ster­lich­keit sind in einer fran­zis­ka­ni­schen Per­spek­ti­ve Natur­tat­sa­chen, die nicht weit genug gefasst, in ihrer bin­den­den Wir­kung nicht eng genug gedacht wer­den kön­nen. »Wer atmet, ist mit mir ver­wandt«, sagt die Schrift­stel­le­rin Mari­ca Bodrožić. Ver­se der ame­ri­ka­ni­schen Lyri­ke­rin und Anti­kriegs­ak­ti­vi­stin Muri­el Rukey­ser vari­ie­ren es so: »Islands /​ O for God’s sake /​ they are con­nec­ted underneath.«

Sehr über­zeu­gend wer­den ver­schie­de­ne Kon­zep­te, Stra­te­gien und Wir­kungs­ge­schich­ten von Brü­der­lich­keit als »Bezie­hungs­gram­ma­ti­ken« beleuch­tet. Zen­tral ist dabei der Begriff der Empa­thie. Mit sel­te­ner Klar­heit ist in dem Zusam­men­hang von der über­ge­ord­ne­ten Bedeu­tung von Lite­ra­tur die Rede: »Die Lite­ra­tur kann (…) als eine lan­ge Schu­le und ein her­vor­ra­gen­des Labor für die Kon­struk­ti­on von Selbst- und Fremd­bil­dern ver­stan­den wer­den, die unse­ren Umgang mit dem Ande­ren unter geschütz­ten Bedin­gun­gen erprobt, för­dert und empa­thisch erwei­tert. Die wich­tig­ste Res­sour­ce ist dabei die Ima­gi­na­ti­on, auf der sowohl Lite­ra­tur wie Empa­thie auf­bau­en. Die Lite­ra­tur ist ein aus­ge­dehn­tes Archiv für die Ver­bin­dung von Wis­sen und Emo­ti­on, indem sie immer neue Kon­tex­te für die Gewäh­rung oder Ver­wei­ge­rung von Empa­thie schafft.«

Hier wie über­all in dem Buch tun sich Räu­me auf, in denen die Gedan­ken der Ass­manns wei­ter­ge­dacht und -gelebt wer­den kön­nen. Nicht zufäl­lig ent­stand Gemein­sinn im Kon­text eines gleich­na­mi­gen For­schungs­pro­jekts, an dem der Anfang 2024 ver­stor­be­ne Jan Ass­mann teil­nahm und sei­ne Frau Alei­da wei­ter­hin teil­nimmt. Was kann ein Buch Grö­ße­res sein als das: Aus­gangs­punkt weit­rei­chen­der und betei­li­gungs­of­fe­ner Fort­set­zun­gen in Gedan­ken und Hand­lun­gen? Die­ses Buch bringt dafür alles mit. Weil Schrift­stel­le­rin­nen und Schrift­stel­ler in ihm zu Exper­ten der Mit­mensch­lich­keit erklärt wer­den, sei einem Schrift­stel­ler das Schluss­wort erteilt. Hen­ry Mil­ler lädt uns am Ende sei­nes Koloß von Marous­si ein, Gedan­ken fort­zu­set­zen, ihnen zu wider­spre­chen, mit ihnen wei­ter­zu­kom­men auf dem Weg zu einer brü­der­li­chen Welt: »Wir haben durch bit­te­re Irr­tü­mer gelernt, dass alle Völ­ker der Erde lebens­wich­tig mit­ein­an­der ver­bun­den sind, aber wir haben von die­ser Erkennt­nis kei­nen ver­nünf­ti­gen Gebrauch gemacht. Wir haben zwei Welt­krie­ge erlebt, und wir wer­den zwei­fel­los einen drit­ten und einen vier­ten, wahr­schein­lich noch meh­re­re erle­ben. Es kann kei­ne Hoff­nung auf Frie­den geben, wenn nicht die alte Ord­nung ver­nich­tet wird. Die Welt muss wie­der klein wer­den, wie die alte grie­chi­sche Welt – so klein, dass sie Jeder­mann umfasst.«

Alei­da und Jan Ass­mann, Gemein­sinn. Der sech­ste, sozia­le Sinn, C.H. Beck 2024, 262 S., 25 €.