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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Unmut und Herzeleid

Am Gebirgs­pass Tim­mels­joch, der das öster­rei­chi­sche Bun­des­land Tirol mit der ita­lie­ni­schen Auto­no­men Pro­vinz Bozen-Süd­ti­rol ver­bin­det, steht seit weni­gen Wochen in über 2470 Meter Höhe auf öster­rei­chi­scher Sei­te an gut sicht­ba­rer, mar­kan­ter Stel­le eine rie­si­ge Dor­nen­kro­ne aus Metall, wie sie in Minia­tur­aus­füh­rung manch­mal Chri­stus-Dar­stel­ler bei Pas­si­ons­spie­len tra­gen. Das 350 Kilo­gramm schwe­re, drei Meter hohe Kunst­werk »sym­bo­li­siert den Schmerz über die Tei­lung Tirols nach dem Ersten Welt­krieg«, aber auch die Hoff­nung auf die Bewah­rung »der regio­na­len Iden­ti­tät, des Geschichts­be­wusst­seins und der Tiro­ler Ein­heit gei­stig und kulturell«.

Im Herbst 1919 war nahe Paris im Schloss von Saint-Ger­main-en-Laye der Ver­trag zur Auf­lö­sung Öster­reich-Ungarns unter­zeich­net wor­den. Am 16. Juli 1920 trat er in Kraft. In dem Ver­trag wur­de die Ablö­sung der öster­rei­chi­schen Reichs­hälf­te von der ehe­ma­li­gen k. u. k.-Monarchie gere­gelt und das heu­ti­ge Süd­ti­rol völ­ker­recht­lich als nörd­lich­ste Pro­vinz Ita­li­en zugeschlagen.

Mehr als ein Jahr­hun­dert nach die­ser Grenz­zie­hung schwärt die Wun­de immer noch. Das zeig­te sich erneut bei der zere­mo­ni­el­len Ein­wei­hung der Dor­nen­kro­ne am 21. Sep­tem­ber, zu der »Schüt­zen, Mar­ke­ten­de­rin­nen, Musi­kan­ten und poli­ti­sche Ver­tre­ter aus ver­schie­de­nen Tei­len Tirols« unter dem Mot­to »Gemein­sam für die Ein­heit Tirols – trotz 105 Jah­ren Unrechts­gren­ze» pil­ger­ten, als hät­ten sie das schles­wig-hol­stei­ni­sche »Up ewig ungedeelt«-Gen intus. Höhe­punkt der Fei­er­stun­de war nach der Ehren­sal­ve einer Schüt­zen­kom­pa­gnie und dem offi­zi­el­len Emp­fang die Seg­nung der Dor­nen­kro­ne durch einen Pater, ver­mut­lich von der­sel­ben Kir­che, die vor dem Zer­fall Öster­reich-Ungarns die Kano­nen des Kai­sers geseg­net hat­te. Eine Ehren­sal­ve zum Toten­ge­den­ken und 21 Böl­ler­schüs­se folgten.

Auch jen­seits der Gren­ze, in Süd­ti­rol, schwärt die Wun­der immer noch. Bit­ter­keit, Groll und Gereizt­heit bre­chen auf, wenn es die ita­lie­ni­sche Sei­te mal wie­der an Fin­ger­spit­zen­ge­fühl und Respekt man­geln lässt im Umgang mit den Nach­kom­men der durch die Tei­lung des Lan­des vor über 100 Jah­ren ihrer bis­he­ri­gen natio­na­len Iden­ti­tät Beraub­ten. So gesche­hen im Som­mer die­ses Jah­res, als die Regie­rung Mel­lo­ni aus Chuz­pe oder Unsen­si­bi­li­tät nicht davor zurück­schreck­te, einen faschi­sti­schen Mini­ster und Mus­so­li­ni-Ver­trau­ten zum 80. Todes­tag mit einer Gedenk­mar­ke zu ehren. Und zwar aus­ge­rech­net jenen Mini­ster, der als eine sei­ner ersten Amts­hand­lun­gen den deut­schen mut­ter­sprach­li­chen Unter­richt aus den Schu­len Süd­ti­rols ver­bannt hat­te (sie­he Ossietzky 17/​2024, »Herr­schafts­zei­ten«).

In die­sen Tagen dann der näch­ste Auf­re­ger im wun­der­schö­nen Dolo­mi­ten-Land. Bren­ne­ro, der ita­lie­ni­sche Name für den Bren­ner­pass und das Bren­ner­dorf, ist der Titel eines mehr­tei­li­gen Fern­seh­kri­mis, den Rai 1 zwi­schen dem 16. Sep­tem­ber und dem 7. Okto­ber aus­strahlt. Das auch in Deutsch­land in vie­le Kabel­net­ze ein­ge­spei­ste Fern­seh­pro­gramm ist das popu­lär­ste des öffent­lich-recht­li­chen ita­lie­ni­schen Rund­funks. Der Plot ähnelt dem deut­schen Bozen-Kri­mi, einem »Don­ners­tag-Kri­mi im Ersten«. Die Jagd auf einen Seri­en­mör­der, der Bozen und Umge­bung unsi­cher macht, wur­de ein Publi­kums­er­folg und bescher­te Rai 1 mit einem Anteil von 17 Pro­zent der Zuschaue­rin­nen und Zuschau­er eine über­ra­schend hohe abend­li­che Einschaltquote.

So weit, so tri­vi­al, hät­te es da nicht in der ersten Fol­ge den Satz: »Sia­mo in Ita­lia e qui si par­la ita­lia­no« gege­ben. Der Ärger in der deutsch­spra­chi­gen Pro­vinz war groß. Und eine Sena­to­rin der seit 75 Jah­ren regie­ren­den Süd­ti­ro­ler Volks­par­tei, die nach hohen Ver­lu­sten bei der letz­ten Land­tags­wahl im Herbst 2023 seit Janu­ar die­ses Jah­res mit Melo­nis rechts­kon­ser­va­ti­ver Par­tei Fra­tel­li d’Italia, dem Lega-Nord-Able­ger und den eben­falls deutsch­spra­chi­gen Frei­heit­li­chen eine Mit­te-Rechts-Koali­ti­on auf Lan­des­ebe­ne bil­det, for­mu­lier­te ihren Unmut in einer Pres­se­mit­tei­lung: »Neben einer viel zu düste­ren Stadt Bozen, (…) einer äußerst zwei­fel­haf­ten Ver­bin­dung zwi­schen einem Mas­sen­mör­der und den Süd­ti­ro­ler Akti­vi­sten der 60er Jah­re, ist die Haupt­bot­schaft, (…) dass in Süd­ti­rol im öffent­li­chen Leben nur ita­lie­nisch gespro­chen wer­den darf. Dies vor allem im Umgang mit den Poli­zei­kräf­ten und dem Justiz­ap­pa­rat.« Dabei sei seit 1988 in einem Dekret gere­gelt, dass »im Ver­hält­nis der Bür­ger zu den öffent­li­chen Ämtern die deut­sche Spra­che der ita­lie­ni­schen völ­lig gleich­ge­stellt« ist. Mehr noch, laut die­sem Dekret sei­en »alle Gerichts­ak­te nich­tig, die die­se Sprach­be­stim­mun­gen verletzen«.

Die Stim­mung war mal wie­der auf­ge­heizt, und so pack­te auch der Vize-Chef­re­dak­teur von Süd­ti­rol Online den Ham­mer aus und kom­men­tier­te. »Da feh­len einem die Wor­te. Und Süd­ti­rol hat die­se Frech­heit auch noch mit­be­zahlt. (Die Film­för­der­kom­mis­si­on des Lan­des soll der Pro­duk­ti­ons­fir­ma rund 500 000 Euro zur Ver­fü­gung gestellt haben. Anm. K.N.) Für mich jetzt schon das Eigen­tor des Jah­res. Und die Bestä­ti­gung: Nur die aller­dümm­sten Käl­ber wäh­len ihren Metz­ger selber.«

Ob die­ser häu­fig zitier­te, oft Ber­tolt Brecht zuge­schrie­be­ne Spruch, der aber schon für 1874 in der Schweiz doku­men­tiert sein soll, in die­sen Zusam­men­hang passt, sei mal dahin­ge­stellt. Kul­tur­lan­dess­rat Phil­ipp Acham­mer von der SVP drück­te es fei­ner und prä­zi­ser aus, als er kom­men­tier­te: Auch wenn die Serie Fik­ti­on sei, bei der es künst­le­ri­sche Frei­heit gebe, sei es doch sehr ärger­lich, wenn dadurch ein Bild von Süd­ti­rol gezeich­net wer­de, das der Rea­li­tät in kei­ner Wei­se entspreche.

Der öffent­li­che Unmut zeigt das dün­ne Eis, auf dem die Akteu­re sich auch heu­te noch bewe­gen, sowie den Geist und die Men­ta­li­tät, von denen sie immer noch beherrscht sind, über 100 Jah­re nach dem Unter­gang der Öster­rei­chisch-Unga­ri­schen Dop­pel­mon­ar­chie und ihrem Zer­fall in ein­zel­ne Natio­nal­staa­ten. Öster­rei­cher, die eine Dor­nen­kro­ne seg­nen, Ita­lie­ner, die Min­der­hei­ten­ge­füh­le und -rech­te unsen­si­bel behan­deln, Süd­ti­ro­ler, die gleich auf die Pal­me gehen: Ziem­lich beste Freun­de sehen anders aus.