Am Gebirgspass Timmelsjoch, der das österreichische Bundesland Tirol mit der italienischen Autonomen Provinz Bozen-Südtirol verbindet, steht seit wenigen Wochen in über 2470 Meter Höhe auf österreichischer Seite an gut sichtbarer, markanter Stelle eine riesige Dornenkrone aus Metall, wie sie in Miniaturausführung manchmal Christus-Darsteller bei Passionsspielen tragen. Das 350 Kilogramm schwere, drei Meter hohe Kunstwerk »symbolisiert den Schmerz über die Teilung Tirols nach dem Ersten Weltkrieg«, aber auch die Hoffnung auf die Bewahrung »der regionalen Identität, des Geschichtsbewusstseins und der Tiroler Einheit geistig und kulturell«.
Im Herbst 1919 war nahe Paris im Schloss von Saint-Germain-en-Laye der Vertrag zur Auflösung Österreich-Ungarns unterzeichnet worden. Am 16. Juli 1920 trat er in Kraft. In dem Vertrag wurde die Ablösung der österreichischen Reichshälfte von der ehemaligen k. u. k.-Monarchie geregelt und das heutige Südtirol völkerrechtlich als nördlichste Provinz Italien zugeschlagen.
Mehr als ein Jahrhundert nach dieser Grenzziehung schwärt die Wunde immer noch. Das zeigte sich erneut bei der zeremoniellen Einweihung der Dornenkrone am 21. September, zu der »Schützen, Marketenderinnen, Musikanten und politische Vertreter aus verschiedenen Teilen Tirols« unter dem Motto »Gemeinsam für die Einheit Tirols – trotz 105 Jahren Unrechtsgrenze» pilgerten, als hätten sie das schleswig-holsteinische »Up ewig ungedeelt«-Gen intus. Höhepunkt der Feierstunde war nach der Ehrensalve einer Schützenkompagnie und dem offiziellen Empfang die Segnung der Dornenkrone durch einen Pater, vermutlich von derselben Kirche, die vor dem Zerfall Österreich-Ungarns die Kanonen des Kaisers gesegnet hatte. Eine Ehrensalve zum Totengedenken und 21 Böllerschüsse folgten.
Auch jenseits der Grenze, in Südtirol, schwärt die Wunder immer noch. Bitterkeit, Groll und Gereiztheit brechen auf, wenn es die italienische Seite mal wieder an Fingerspitzengefühl und Respekt mangeln lässt im Umgang mit den Nachkommen der durch die Teilung des Landes vor über 100 Jahren ihrer bisherigen nationalen Identität Beraubten. So geschehen im Sommer dieses Jahres, als die Regierung Melloni aus Chuzpe oder Unsensibilität nicht davor zurückschreckte, einen faschistischen Minister und Mussolini-Vertrauten zum 80. Todestag mit einer Gedenkmarke zu ehren. Und zwar ausgerechnet jenen Minister, der als eine seiner ersten Amtshandlungen den deutschen muttersprachlichen Unterricht aus den Schulen Südtirols verbannt hatte (siehe Ossietzky 17/2024, »Herrschaftszeiten«).
In diesen Tagen dann der nächste Aufreger im wunderschönen Dolomiten-Land. Brennero, der italienische Name für den Brennerpass und das Brennerdorf, ist der Titel eines mehrteiligen Fernsehkrimis, den Rai 1 zwischen dem 16. September und dem 7. Oktober ausstrahlt. Das auch in Deutschland in viele Kabelnetze eingespeiste Fernsehprogramm ist das populärste des öffentlich-rechtlichen italienischen Rundfunks. Der Plot ähnelt dem deutschen Bozen-Krimi, einem »Donnerstag-Krimi im Ersten«. Die Jagd auf einen Serienmörder, der Bozen und Umgebung unsicher macht, wurde ein Publikumserfolg und bescherte Rai 1 mit einem Anteil von 17 Prozent der Zuschauerinnen und Zuschauer eine überraschend hohe abendliche Einschaltquote.
So weit, so trivial, hätte es da nicht in der ersten Folge den Satz: »Siamo in Italia e qui si parla italiano« gegeben. Der Ärger in der deutschsprachigen Provinz war groß. Und eine Senatorin der seit 75 Jahren regierenden Südtiroler Volkspartei, die nach hohen Verlusten bei der letzten Landtagswahl im Herbst 2023 seit Januar dieses Jahres mit Melonis rechtskonservativer Partei Fratelli d’Italia, dem Lega-Nord-Ableger und den ebenfalls deutschsprachigen Freiheitlichen eine Mitte-Rechts-Koalition auf Landesebene bildet, formulierte ihren Unmut in einer Pressemitteilung: »Neben einer viel zu düsteren Stadt Bozen, (…) einer äußerst zweifelhaften Verbindung zwischen einem Massenmörder und den Südtiroler Aktivisten der 60er Jahre, ist die Hauptbotschaft, (…) dass in Südtirol im öffentlichen Leben nur italienisch gesprochen werden darf. Dies vor allem im Umgang mit den Polizeikräften und dem Justizapparat.« Dabei sei seit 1988 in einem Dekret geregelt, dass »im Verhältnis der Bürger zu den öffentlichen Ämtern die deutsche Sprache der italienischen völlig gleichgestellt« ist. Mehr noch, laut diesem Dekret seien »alle Gerichtsakte nichtig, die diese Sprachbestimmungen verletzen«.
Die Stimmung war mal wieder aufgeheizt, und so packte auch der Vize-Chefredakteur von Südtirol Online den Hammer aus und kommentierte. »Da fehlen einem die Worte. Und Südtirol hat diese Frechheit auch noch mitbezahlt. (Die Filmförderkommission des Landes soll der Produktionsfirma rund 500 000 Euro zur Verfügung gestellt haben. Anm. K.N.) Für mich jetzt schon das Eigentor des Jahres. Und die Bestätigung: Nur die allerdümmsten Kälber wählen ihren Metzger selber.«
Ob dieser häufig zitierte, oft Bertolt Brecht zugeschriebene Spruch, der aber schon für 1874 in der Schweiz dokumentiert sein soll, in diesen Zusammenhang passt, sei mal dahingestellt. Kulturlandessrat Philipp Achammer von der SVP drückte es feiner und präziser aus, als er kommentierte: Auch wenn die Serie Fiktion sei, bei der es künstlerische Freiheit gebe, sei es doch sehr ärgerlich, wenn dadurch ein Bild von Südtirol gezeichnet werde, das der Realität in keiner Weise entspreche.
Der öffentliche Unmut zeigt das dünne Eis, auf dem die Akteure sich auch heute noch bewegen, sowie den Geist und die Mentalität, von denen sie immer noch beherrscht sind, über 100 Jahre nach dem Untergang der Österreichisch-Ungarischen Doppelmonarchie und ihrem Zerfall in einzelne Nationalstaaten. Österreicher, die eine Dornenkrone segnen, Italiener, die Minderheitengefühle und -rechte unsensibel behandeln, Südtiroler, die gleich auf die Palme gehen: Ziemlich beste Freunde sehen anders aus.